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Mit Jesus unterwegs

im Johannesevangelium

Wie Begegnungen mit dem Sohn Gottes Menschen verändern

David Gooding

Mit Jesus unterwegs im Johannesevangelium

Wie Begegnungen mit dem Sohn Gottes Menschen verändern

Best.-Nr. 271837

ISBN 978-3-86353-837-8

Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg

Titel des englischen Originals: Journeys with Jesus

True Stories of Changed Destinies in John’s Gospel

Edited by Joshua Fitzhugh

Copyright © The Myrtlefield Trust, 2021

Wenn nicht anders angegeben, wurde folgende Bibelübersetzung verwendet:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R. Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen (ELB).

Außerdem wurden folgende Bibelübersetzungen verwendet: Neue evangelistische Übersetzung (NeÜ).

1. Auflage © 2023 Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg www.cv-dillenburg.de

Übersetzung: Hermann Grabe

Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg Umschlagmotiv: © canva/sparklestroke

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

Wenn Sie Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler entdeckt haben, können Sie uns gerne kontaktieren: info@cv-dillenburg.de

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Einführung

1. Vom Vorurteil zum Glauben

Als Jesus Nathanael sah 13

2. Vom Wasser zum Wein

Von der puren Freude, dass Christus uns reinigt 27

3. Von der Theologie zur Gotteserkenntnis

Jesu Gespräch mit Nikodemus 43

4. Von Scheinfrömmigkeit zum wahren Messias

Von der Frau, die genau zuhörte, als Jesus mit ihr sprach 79

5. Von Angst zum Vertrauen

Das Gebet eines Vaters und der verzögerte Beweis 115

6. Vom Tod zur Hoffnung

Als Christus kam, um Lazarus aufzuwecken 131

7. Vom Vollbad zur Fußwaschung

Was Christus tut, wenn er uns reinigt 151

8. Vom Licht in die Finsternis

Judas verweigert die Freundschaft mit Jesus 169

9. Vom Scheitern zum fruchtbaren Dienst

Nachwort: Von der Bereitwilligkeit zum Glauben

Eine Einladung an Unentschiedene

DIE ERSTE GESCHICHTE

Vom VORURTEIL

GLAUBEN

Als Jesus Nathanael sah

Am folgenden Tag wollte er nach Galiläa aufbrechen, und er findet Philippus, und Jesus spricht zu ihm: Folge mir nach!

Philippus aber war von Betsaida, aus der Stadt des Andreas und Petrus. Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose in dem Gesetz geschrieben und die Propheten, Jesus, den Sohn des Josef, von Nazareth.

Und Nathanael sprach zu ihm: Kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?

Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh!

Jesus sah den Nathanael zu sich kommen und spricht von ihm: Siehe, wahrhaftig, ein Israelit, in dem kein Trug ist.

Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich?

Jesus antwortete und sprach zu ihm: Ehe Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich.

Nathanael antwortete und sprach: Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels.

Jesus antwortete und sprach zu ihm: Weil ich dir sagte: Ich sah dich unter dem Feigenbaum, glaubst du? Du wirst Größeres als dies sehen. Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet sehen und die Engel Gottes auf- und niedersteigen auf den Sohn des Menschen.

Johannes 1,43-51

Wie kommt man zu Christus?

DieGeschichte jeder Bekehrung zu Christus ist eine außerordentlich persönliche und vertrauliche Angelegenheit, die nicht nur den Verstand eines Menschen betrifft, sondern auch seinen Geist und seine Seele, seine Gefühle und seine Vorstellungskraft. Für einige ist die Bekehrung eine verhältnismäßig einfache Sache: Sie erkennen sich plötzlich als Sünder und dann entdecken sie, dass Christus und nur Christus die Antwort auf ihre Probleme hat, und in schlichter Buße und einfachem Glauben vertrauen sie auf Christus und sind errettet. Bei anderen vollzieht sich dieser Prozess keineswegs so einfach und direkt. Sie kommen zu Jesus durch ein Meer von Zweifeln, Schwierigkeiten, Problemen und nach vielen Vorurteilen. Nathanael war eine solche Person, und vielleicht hilft es uns, wenn wir versuchen, ihm durch den Wirrwarr von Gedanken und Gefühlen zu folgen, die er erlebte, als er zum Glauben kam.

Was war der erste Schritt?

Der erste Schritt, den Nathanael in Richtung Christus tat, bestand darin, dass er ganz ungehemmt seinem Zynismus und seinen Zweifeln freien Lauf ließ. „Kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?“, fragte er, womit er Philippus mächtig vor den Kopf stieß, der ihm gerade begeistert das Evangelium verkündet hatte. Er drückte sich nicht gerade höflich aus und versuchte auch nicht, die Gefühle des angehenden Evangelisten zu schonen. Aber es war ein Schritt auf Christus zu, kein sehr positiver Schritt, möchte man meinen; aber es war immerhin ein Schritt. Jeder, der sich

die Mühe macht, über Christus so lange nachzudenken, um zu erkennen, welche Ansprüche er erhebt, der hat bereits begonnen, auf Christus zuzugehen, selbst wenn er diese Ansprüche ablehnt. Vielleicht wenden sich solche sofort wieder ab; aber sie haben zumindest einen Schritt getan.

Das Problem ist doch, dass viele Menschen nicht einmal diesen ersten Schritt getan haben. Sie glauben nicht an Christus, doch wissen sie nicht einmal, weshalb sie nicht glauben. Sie haben nie ernsthaft darüber nachgedacht, was er gesagt hat. Solche Leute werden ganz klug behaupten, dass sie natürlich nicht akzeptieren können, dass Jesus der Sohn Gottes ist, weil das intellektuell unmöglich sei; doch werden sie gleich hinzufügen, dass sie ihn für einen guten Menschen halten. Dabei lassen sie völlig die Tatsache außer Acht, dass sie mit solchen Aussagen offenbaren, wie bemerkenswert wenig Intellekt sie eingesetzt haben, um über diesen Gegenstand überhaupt nachzudenken. Wenn ein Mensch behauptet, Gott zu sein, und es nicht ist, dann kann man ihn doch nicht einen guten Menschen nennen! Seit Nathanael von Christus gehört hatte, hatte er zumindest ernsthaft darüber nachgedacht; aber die Ansprüche Christi schienen ihm viel zu unwahrscheinlich zu sein. Und er sprach das auch aus, vielleicht ganz scharf und mit einer guten Portion Sarkasmus in der Stimme. Es war ihm egal, wenn sich sein Freund etwas verletzt fühlen sollte. Wie Nathanael war auch Philippus in dem jahrhundertealten Glauben der Väter erzogen worden – mit all den feierlichen Ritualen, den gelehrten theologischen Diskussionen in den Rabbiner-Schulen, die von den besten Köpfen des Landes geleitet wurden. Philippus sollte es besser wissen, als sich von irgendeiner hinterwäldlerischen Sekte den Kopf verdrehen zu lassen.

Wenn er wenigstens einen neuen Glauben gefunden hätte, der zumindest in theologischer oder intellektueller Hinsicht respektabel gewesen wäre, dann wäre es nicht ganz so schlimm gewesen. Aber da muss man sich anhören, er hätte den Messias gefunden, einen gewissen Jesus, der ausgerechnet aus Nazareth stammt! Solch eine Vorstellung ist einfach lächerlich. Jeder, der auch nur über ein bisschen Bibelkenntnis verfügt, weiß doch, dass der Messias nach der Bibel aus Bethlehem kommt und nicht aus Nazareth. Natürlich kann man von den einfachen Leuten aus der Gegend von Nazareth nicht erwarten, dass sie über diese Dinge Bescheid wissen. Das ist nur ein hitzköpfiger, ungebildeter Haufen, dem man jeden Quatsch erzählen kann. Je fantastischer, umso leichter lassen sie sich davon beeindrucken. Aber Philippus?! Man kann sich´s nicht vorstellen, dass er auf so etwas reinfällt und auch noch so begeistert davon ist. „Philippus! Wach auf!“, sagte Nathanael. „Ist es überhaupt denkbar, dass aus Nazareth irgendetwas Gutes kommen könnte?“

Der Enthusiasmus des Philippus

Es lässt sich nicht leugnen, dass Philippus nicht besonders taktvoll auf Nathanael zugegangen war. Zunächst einmal hatte unser Herr zwar einige Jahre in Nazareth gewohnt, sodass es natürlich ganz korrekt war, von ihm als „Jesus von Nazareth“ zu sprechen; aber er wurde dort nicht geboren, sondern in Bethlehem, genauso wie es der Prophet Micha vorausgesagt hatte (Mi 5,2). Philippus dürfte bewusst gewesen sein, dass Nathanael es sehr genau nahm, und dass es nicht sehr sinnvoll war, es ihm intellektuell unnötig schwierig zu machen, indem er sich so locker und ungenau ausdrückte.

Außerdem war Philippus offensichtlich sehr aufgewühlt, und er hätte eigentlich wissen müssen, dass er Nathanael mit nichts misstrauischer hätte machen können als mit Aufregung und Enthusiasmus in religiösen Angelegenheiten. So etwas passte einfach nicht zu Nathanaels Temperament und in seine Denkmuster. Religion war für ihn etwas Feierliches und Würdiges mit altehrwürdigen Gesängen und schwermütigen Klängen. Außerdem war Gott für ihn allmächtig, in weiter Ferne, verborgen und Ehrfurcht gebietend in seiner Größe und Heiligkeit. Allein der Gedanke an ihn machte einen Menschen ernsthaft und unterwürfig. Auch der Messias erschien ihm als kosmische Gestalt –so hatte man es ihm beigebracht zu glauben: Wenn er einmal kommen würde, käme er in den Wolken des Himmels. Und hier behauptete Philippus nun nicht nur, dass er bereits gekommen sei, sondern sprach von ihm als von jemand, den er persönlich kannte, als sei er sein nächster Nachbar!

Natürlich war Philippus aufgeregt; aber wie könnte ein Mensch, der eine Erfahrung wie die, die Philippus gerade gemacht hatte, nicht aufgeregt sein? Manche Leute würden am liebsten die ganze Stadt rot anmalen, nur weil sie eine dreiviertel Million in der Lotterie gewonnen haben, und niemand würde ihre Aufregung für eigenartig halten. Doch hier behauptete Philippus, dass er das Geheimnis der Geschichte entdeckt hat, den Sinn des Lebens, die Bedeutung der Welt, das, wozu die Menschheit erschaffen wurde! Hören Sie doch nur, wie er in Nathanaels Privatsphäre in seinem schattigen Garten hineinplatzt: „Wir haben den gefunden, von dem Mose in dem Gesetz geschrieben hat und die Propheten: Jesus, den Sohn des Josef, von Nazareth.“ Ob erregt oder nicht, immerhin sprach Philippus hier nicht über eine kleine private Vision, die er sich gerade selbst ausgedacht

hatte. Er behauptete, jene kosmische Gestalt gefunden zu haben, von der der größte Gesetzgeber Israels und alle die Propheten jahrhundertelang immer wieder geweissagt hatten.

Nathanaels Vorstellung von Wahrheit

Nun, als guter Jude glaubte Nathanael das alles. Das Verstörende bei der Rede des Philippus bestand darin, dass dieser Retter der Welt bereits gekommen war, und noch dazu, dass Philippus sich absolut sicher war, ihn gefunden zu haben. Das klang alles allzu gewiss. Wie viele andere auch, zog es Nathanael vor, in Sachen Religion lieber hoffnungsvoll unterwegs zu sein, anstatt anzukommen. Hätte sich Philippus damit begnügt, ihm zu erzählen, er glaube, dass Gott eines Tages die Welt wieder in Ordnung bringen werde, wäre Nathanael sofort einverstanden gewesen. Er hätte vielleicht geantwortet, dass er diese tiefe Überzeugung teile, dass Gott eines Tages alles sogar noch besser machen werde –höchstwahrscheinlich. Oder dass er es zumindest nicht für unvernünftig hielt, darauf zu hoffen, dass er dies tun könnte. Doch ihm, dem Nathanael, zu erzählen, der Retter der Welt sei bereits gekommen und man könne ihm persönlich begegnen, das fand er nicht sehr attraktiv. Außerdem würde ihm dies jenes angenehme Gefühl der Freiheit nehmen, es würde den eigenen Handlungsspielraum ziemlich einschränken. Grundsätzlich machte ihm ein solches Gerede nicht so viel aus, solange man, wenn die Sache dann zu ungemütlich wurde, darauf antworten konnte, dass man natürlich nichts Genaues darüber sagen kann.

Aber wie genau sprach Philippus darüber? Die ganze Angelegenheit klang so direkt und persönlich: „Wir haben ihn gefunden“,

sagte er. Vage um das Kommen des Reiches Gottes zu bitten, warum nicht? Da gibt es viele anständige Männer und Frauen, die das nur allzu gern tun. Und wenn es darum ginge, das Kommen des Reiches Gottes zu fördern, indem man sich bei einem ZehnJahres-Plan auf dem Agrarsektor engagiert, oder wenn man sich für eine öffentliche Kampagne einsetzt, um ein Gesetz gegen Kinderpornografie durchs Parlament zu bringen, dem würden sich alle rechtschaffenen Menschen anschließen. Aber mit jemandem konfrontiert zu werden, der von sich behauptet, der göttliche König selbst zu sein, und der auf einer Begegnung unter vier Augen besteht, das wäre völlig irritierend. Wer weiß, welche persönlichen Ansprüche er stellen würde, wie tief die Eingriffe in die Privatsphäre und Unabhängigkeit gehen würden.

Was hier ablief, war ja bereits ein Beispiel dafür. Und so saß er da und versuchte, alles für eine Weile zu vergessen im Schatten des Feigenbaumes in seinem eigenen Garten. Saß da und genoss den Frieden und die Abgeschiedenheit von all dem. Und da stürmt Philippus herein und zerstört diese Ruhe – nicht nur die des Gartens, sondern auch seines Denkens und seines Gewissens –, und konfrontiert ihn mit der unangenehmen Vorstellung, der Retter der Welt stehe draußen auf der Straße, und er, Nathanael, sei eingeladen, ihm persönlich zu begegnen.

Klar, er konnte sich weigern, ihn zu treffen und konnte in der Stille seines Gartens bleiben; aber instinktiv fühlte er, dass es dann um seine Ruhe geschehen wäre. Sein Gewissen würde ihn bearbeiten und alle möglichen Gedanken und Gefühle durch seinen Kopf und sein Herz jagen. Ihm war natürlich klar, dass dieser Jesus ein Schwindler sein musste; da gab es keinen Zweifel. Allerdings war er ihm persönlich noch nicht begegnet, auch wusste er kaum etwas über ihn. Wieso er sich so sicher war, dass

er ein Betrüger sein muss, ohne irgendetwas Genaues über ihn zu wissen, war gar nicht so einfach zu erklären, besonders dann, wenn er sich nicht vorwerfen lassen wollte, voreingenommen und ignorant zu sein.

Außerdem war da noch etwas anderes. Natürlich war es angenehm, unter dem eigenen Weinstock und unter dem eigenen Feigenbaum zu sitzen, so wie es der Prophet Micha formuliert hatte (Mi 4,4). Angemessene politische Freiheit zu genießen, genug zu haben, um gut zu leben, und dann noch etwas Zeit für die kulturelle Seite des Lebens übrig zu haben, sodass man im eigenen Garten im Schatten eines alten Feigenbaums sitzen und das Leben ein wenig genießen konnte – das war nach jüdischem Verständnis ein gottgegebenes Geburtsrecht eines jeden. Und Nathanael hatte es dahin geschafft (obwohl Unzählige es nicht erreicht hatten). Er hatte sein eigenes Plätzchen, und das Leben war eigentlich ganz erträglich und auch interessant. Aber so nett das alles auch war, immer wieder kam der Gedanke auf: Ist das alles? Ist dies alles, worum es im Leben geht? Ein eigenes Haus zu besitzen, eine Frau und nette Kinder zu haben, und dann so viel zu besitzen, um sich zurückziehen zu können, um das zu tun, was man eigentlich immer schon tun wollte, und um dann zu … na ja, und danach …? Natürlich konnte man nicht ewig leben; aber war dies wirklich schon alles? Und was ist mit den Millionen, die es niemals so weit bringen, für die das Leben nur ein Sklavendienst im Gefängnis von Armut und Krankheit ist? Bedeutet die Verheißung eines Erlösers am Ende nichts weiter, als dass die Reichen unter ihren Feigenbäumen und die Armen in den Arbeitslagern sitzen, bis dass der Tod am Ende beide dahinrafft? Wenn auch nur das kleinste Körnchen Wahrheit in dem steckte, was Philippus erzählt hatte, dann war es schließlich eine genauere Untersuchung wert.

Als Philippus auf seine Frage „Kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?“ einfach sagte: „Komm und sieh!“, stand Nathanael schließlich auf. Und so ging er hin, um Jesus persönlich zu treffen.

Von Angesicht zu Angesicht mit Jesus

Um ehrlich zu sein, fühlte er sich ein bisschen hilflos, als er den Schatten seines Feigenbaumes verließ, um auf offener Straße dieser Person entgegenzugehen. Auf was ließ er sich da ein? Warum hatte er sich überhaupt auf den Weg gemacht? Warum hatte er sich nicht hinter seinen Zweifeln versteckt? Seine Zweifel waren doch in Ordnung – solide, vernünftig, schwerwiegend und respektabel genug, um sich dahinter zu verstecken. Was hatte er sich da bloß eingebrockt? Aber nun war es zu spät umzukehren; denn vor ihm stand jetzt Jesus.

Und Jesus eröffnete das Gespräch: „Siehe, wahrhaftig, ein Israelit, in dem kein Trug ist“, sagte er, „nicht einer wie der alte Jakob, voller List und Betrug. Du sagst genau das, was du denkst, nicht wahr? Du bist durch und durch ehrlich!“

„Rabbi“, sagte Nathanael höflich, „mir ist nicht bewusst, dass wir uns schon mal begegnet sind. Woher kennst du mich?“

„Das stimmt natürlich“, sagte darauf Christus. „Aber ich sah dich, bevor Philippus dich rief, unter deinem Feigenbaum sitzen“. Was daraufhin geschah, ist schwer zu beschreiben. Für Nathanael war es, als öffnete sich eine Tür – als stände er im Wasser, das ihm zunächst bis an die Fußknöchel reichte und dann schon im nächsten Augenblick seine Achselhöhlen umspülte. Er hatte es stets als Glaubensgrundsatz und eigentlich als philosophische Denkvoraussetzung gehalten, dass Gott allwissend ist – wenn

es wirklich einen Gott gibt. Aber niemals war ihm wirklich klar gewesen, was das tatsächlich beinhaltete. Dann gab es einfach nirgendwo eine Privatsphäre. Kein Ort, an dem man dann ganz für sich war, nicht einmal in seinem eigenen Garten und unter seinem eigenen Feigenbaum. Nirgends war man für sich allein, nicht einmal bei den geheimsten Gedanken oder Zweifeln. Nichts als ein alles sehender, alles durchdringender Gott, überall und zu jeder Zeit?

Was geschah hier? Hatte sich plötzlich der Himmel geöffnet, und war er entdeckt worden? So, wie man ein Insekt entdeckt, wenn man einen Stein wegnimmt, unter dem es sich versteckt hielt? Nein. Soweit er sehen konnte, war der Himmel immer noch derselbe. Es war Jesus, der vor Nathanael stand und der die Allwissenheit Gottes ganz persönlich und individuell auf Nathanael richtete. Und seltsamerweise fühlte er sich keineswegs gedemütigt oder eingeschüchtert. Es war eher eine große Erleichterung als er merkte, dass er gesehen wurde, ganz persönlich erkannt war, und dass nichts verborgen war und auch nichts zu verbergen war. Seine Zweifel und der Sarkasmus, mit dem er sie geäußert hatte: alles war bekannt und als ehrlicher Ausdruck dessen akzeptiert, was er tatsächlich zu der Zeit empfunden hatte. Aber noch wichtiger war ihm jetzt, dass er als Mensch hinter diesen Zweifeln erkannt und angenommen war. Der Gott, der alles über ihn wusste, hatte ihn trotzdem angenommen, und das sogar ohne ein tadelndes Wort. Er musste gar nicht versuchen, irgendetwas zu verbergen, musste keinen seiner Zweifel zurückhalten. Und es war eigenartig: jetzt, wo er überhaupt nicht mehr die Notwendigkeit verspürte, sich zu verstecken, waren auch seine Zweifel verschwunden. Er brauchte sie auch gar nicht mehr, hatte kaum bemerkt, dass sie verschwunden waren. Seltsam! Das hatte er bisher

noch nie so empfunden. Was war geschehen? Er war zu Christus gekommen, und was er nie zu träumen gewagt hatte, das hatte er plötzlich gefunden, ohne langes Argumentieren!

Aber was hatte er gefunden? Nun, es muss Gott gewesen sein. Denn das hatte Philippus gemeint, als er sagte: „Wir haben ihn gefunden!“ Das war also weder Einbildung noch Arroganz; es war eine Tatsache. „Ich muss ihn ebenfalls gefunden haben“, sagte Nathanael zu sich selbst. „Nur“, so mag er zu Christus gesagt haben, „wenn du mich gerettet hast, ist es wohl eher so, dass du mich auch gefunden hast“.1

Das alles und vielleicht noch viel mehr mag Nathanael durch den Kopf gegangen sein, obwohl nur eine oder zwei Sekunden vergangen waren, dass Jesus gesprochen hatte. Es gab aber keinen Zweifel mehr darüber, was er darauf zu antworten hatte. Entschlossen und ohne den geringsten Zweifel antwortete er: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels.“

Und Christus wird ihm gesagt haben, dass er noch nicht mal den millionsten Teil dessen begriffen hat von dem, was er da eben ausgesprochen hat: „Du wirst eines Tages die Himmel geöffnet sehen und die Engel Gottes werden hinauf- und herabsteigen auf den Sohn des Menschen.“

Nur wenige Stunden zuvor hätte Nathanael eine solche Bemerkung arge Kopfschmerzen bereitet. Stellen Sie sich vor, Sie hätten kein Versteck mehr und müssten, ob Sie wollten oder nicht, nach oben schauen und der unendlichen Heiligkeit in die

1 A. d. V.: Im Vorwort (S. 7) wird darauf hingewiesen, dass der Autor eine besondere Gabe hatte, die biblischen Geschichten plastisch nachzuerzählen. Das führt dazu, dass er sich dabei gewisse Freiheiten genommen hat, den Text auch in der wörtlichen Rede umzuformulieren und zu ergänzen, um ihn so lebendig werden zu lassen.

Augen blicken. Stellen Sie sich vor, Sie müssten das völlig unvorbereitet und unversöhnt tun, wobei das Gewissen Zeugnis über alle unvergebene Sünde ablegt. Und all das ohne einen einzigen Zweifel, der stark genug wäre, um Sie vor den alles erforschenden Augen zu verbergen. Der bloße Gedanke daran hätte Nathanael vor Schrecken vergehen lassen. Doch das war nicht das, was er jetzt empfand. Da war nur ein großes Staunen und eine neue Hoffnung - ein ganz neuer Lebenssinn. Er war zu Christus gekommen. Er war mit Gott versöhnt. Er brauchte nichts zu verbergen. Es gab nichts mehr, von dem er fürchtete, es könnte eines Tages entdeckt werden. Alles war offenbar und vergeben. Und außerdem kam jetzt etwas Neues und noch Größeres hinzu: eine Zukunft, die dem Leben Sinn verlieh, eine Zukunft für die Welt, eine Zukunft für Nathanael. Mochten die Himmel doch hier und jetzt aufreißen! Er konnte es kaum erwarten! Doch auch sein Garten mit dem Feigenbaum war immer noch recht angenehm, auch wenn er ihm jetzt irgendwie ein wenig unbedeutender vorkam.

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