

BENJAMIN LANGE
DIE BIBEL VERSTEHEN
DER GEHEIMNISVOLLE
HELD
DER BIBEL

Sieben unerwartete Hinweise auf Jesus aus dem Alten Testament
Benjamin Lange
Der geheimnisvolle Held der Bibel Sieben unerwartete Hinweise auf Jesus aus dem Alten Testament
Best.-Nr. 271828
ISBN 978-3-86353-828-6
Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg
Best.-Nr. 180222
ISBN 978-3-85810-601-8
Verlag Mitternachtsruf, www.mnr.ch
Es wurde folgende Bibelübersetzung verwendet: Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.
1. Auflage
© 2022 Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg www.cv-dillenburg.de
Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg Umschlagmotiv: © Shutterstock.com/Aleksandra Vinogradova
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
Wenn Sie Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler entdeckt haben, können Sie uns gerne kontaktieren: info@cv-dillenburg.de
INHALT
Der geheimnisvolle Held der Bibel
1. Der geheimnisvolle Schlangenbezwinger
2. Der geheimnisvolle Kriegsbogen
4. Der geheimnisvolle Löwenbändiger
6. Das geheimnisvolle Gnadenjahr
7. Die geheimnisvolle Königsinschrift
Sieben geheimnisvolle Hinweise, eine Antwort
Neu von der Bibel begeistert werden?

DER GEHEIMNISVOLLE HELD DER BIBEL
Ein wahrer Held – danach sehnen sich nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene gelegentlich. Alte Sagen und selbst moderne Filme sind voll von Gestalten, die einzigartige Taten vollbringen, übermenschliche Feinde besiegen, unerschrocken gegen Ungeheuer antreten und am Schluss die ganze Welt retten. Doch während solche Geschichten Kinderaugen zum Leuchten bringen, sind Erwachsene meist schon viel zu desillusioniert, um noch an einen wahren Helden glauben zu können. Zu oft wurde die Sehnsucht nach einem wahren Helden enttäuscht, um noch an ihn glauben zu können. Zu oft wurde deutlich, dass Menschen eben keine Helden sind, sondern plötzlich finstere Abgründe offenbaren. Statt Selbstlosigkeit findet man häufig Selbstzentriertheit, statt Heldenmut Arroganz und Gewalttätigkeit, statt Selbstbeherrschung Impulsivität. Und auch die Helden in Märchen und Filmen sind oft nicht anders: Wer möchte schon wirklich einen Helden, der zwar körperlich so stark ist, dass er Ungeheuer bezwingen, aber weder sein eigenes Temperament kontrollieren kann noch zu selbstloser Liebe fähig ist? Wer hofft wirklich auf jemanden, der zwar in blinder Wut gegen das Böse in der Welt kämpft, dabei aber nicht den Rachedurst und das Böse in sich selbst beherrschen kann? Und wer möchte schon einen Helden, der zwar die Welt rettet, aber keinen Plan hat, wie man das Böse im Menschen ändern kann?
Den wahren Helden sucht man vergeblich, aber die Sehnsucht nach ihm bleibt. Nach jemandem, der alles gut macht, der scheinbar unlösbare Probleme löst und da ist, wenn man ihn am dringendsten braucht. Der es furchtlos mit einem Gegner aufnimmt, der allen anderen das Fürchten lehrt. Und der am Schluss nicht sich und
sein Wohl sucht, sondern bereit ist, sein Leben zu opfern und der Welt Rettung zu bringen. Es ist die Sehnsucht, die sich weniger an typischen Heldenbildern von äußerlicher Stärke, körperlichem Triumph und arroganter Unbesiegbarkeit orientiert, sondern die nach den tiefsten Hoffnungen des Menschen fragt: Nach jemandem, der die Welt rettet und dabei selbst in den Tod geht, der die Kraft eines Löwen und den Charakter eines Lammes hat.
Das Geniale an der Bibel ist, dass sie tatsächlich von einem solchen Helden spricht. Doch im Gegensatz zu Märchen, Sagen oder Filmen ist dieser Held real. Er tritt in die Geschichte ein und ist eine wirkliche Person. Es gibt ihn, ja, es gibt ihn wirklich. Es ist niemand anderer als Jesus selbst. Und gerade weil Jesus der Held der Bibel ist, ja, sogar der Held der Geschichte schlechthin, handelt nicht nur das Neue Testament von ihm. Auch das Alte Testament redet von ihm und gibt in jedem Abschnitt der Geschichte vielfältige Hinweise auf ihn. Die ganze Menschheitsgeschichte, die von den ersten Seiten der Bibel an entfaltet wird, enthält in geheimnisvollen Gegenständen, Ereignissen oder Sachverhalten erstaunliche Hinweise auf diesen großen Helden der Bibel. Und diese Hinweise sind häufig so geheimnisvoll, dass man sie beim Lesen der Bibel leicht überliest. Das heißt aber nicht, dass sie so gut versteckt sind, dass man sie erst suchen muss. Im Gegenteil: Den Menschen der Bibel sprangen sie förmlich ins Auge. Sie lebten in Raum und Zeit in ganz konkreten Lebensumständen. Für sie waren manche Begebenheiten, die für uns kaum Bedeutung haben, viel bedeutsamer als für uns. Diese waren geheimnisvoll, weil sie offensichtlich mehr waren als zufällige Ereignisse. Sie waren genau deshalb geheimnisvoll, weil sie alles andere als alltäglich waren und im Kern eine unglaubliche, ja faszinierende Hoffnung enthielten: Die Hoffnung auf den wahren Helden, der einmal kommen würde und sogar selbst Gott ist. Es ist die Hoffnung darauf, dass sich die Worte des Propheten erfüllen, der sagt: „Der HERR, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein Held, der rettet; er freut sich über dich in Fröhlichkeit, er schweigt in seiner Liebe, er jauchzt über dich mit Jubel“ (Zef 3,17). Es waren starke und unübersehbare Hinweise, die die Hoffnung auf einen Helden, einen Erlöser, einen
Retter, einen König und letztlich auf das Erscheinen von Gott in Menschengestalt lebendig hielten.
Dieser Held ist niemand anderes als Jesus selbst.1
In diesem Buch darf jeder Erwachsene die kindliche Hoffnung nach einem wahren Helden neu ausgraben. Gleichzeitig aber wird man sehr schnell feststellen, dass die Bibel nicht einfach typische Klischees eines Helden bedient, sondern menschliche Vorstellungen übersteigt. Sie ist gerade deshalb mehr als ein normales Buch, weil sie nicht nur das bestärkt, was jeder Mensch möchte, sondern die tiefsten Sehnsüchte des Menschen nach Hingabe, Rettung und Liebe erfüllt, und gleichzeitig menschlichen Vorstellungen vom Sieg durch Gewalt und verbunden mit arroganter Überlegenheit eine Absage erteilt. Der wahre Sieg wird in der Bibel in Verbindung mit einer scheinbaren Niederlage errungen, und gerade deshalb ist er so faszinierend.
In diesem Buch können Sie, lieber Leser, vielleicht etwas von der Faszination spüren, mit der die Bibel uns den größten Helden der Geschichte neu lieb und wunderbar macht: Jesus. Sie gibt von den ersten Seiten der Bibel an Hinweise auf das Leben Jesu – und ganz besonders auf seinen entscheidenden Sieg durch seine Selbsthingabe in den Tod. Dieses Buch ist dabei nicht als systematische Abhandlung gedacht, sondern eher als ein Mosaik verschiedener und geheimnisvoller Hinweise auf Jesus aus dem Alten Testament. Es sind bei Weitem nicht alle – noch nicht einmal die Wichtigsten – aber einige, die mir beim Bibellesen in unterschiedlichen Kontexten aufgefallen sind, und die ich hier zusammengetragen habe. Manche knüpfen an sehr bekannte Texte an und zeigen vielleicht bisher unbekannte Aspekte. Andere haben mit eher unbekannten Texten oder sogar Passagen zu tun, die man niemals mit Jesus in Verbindung gebracht hätte. Aber alle verhelfen zu einem neuen Blick auf auf einen Retter, den sie verkündigen und damit gute Botschaft – Evangelium –sind. Begeben wir uns also auf eine spannende Reise durch die Bibel, um den wahren Helden der Geschichte neu zu entdecken. Es geht los mit den ersten Menschen und deren Begegnung mit einem faszinierenden und zugleich unheimlichen Wesen.
Anmerkungen
1 Auf den ersten Blick scheint es ungewöhnlich zu sein, von Jesus als einem „Held“ zu reden – viel gewöhnlicher sind Begriffe wie Retter, Erlöser, Messias oder Herr. Dass er hier neben diesen bekannten Bezeichnungen gelegentlich als „Held“ bezeichnet wird, soll dabei keine Konkurrenz zu den anderen Bezeichnungen sein, sondern zu einem neuen Blick auf alte Geschichten helfen. Und obwohl es nicht um Titel und Bezeichnungen, sondern die Person Jesu geht, ist die Bezeichnung als „Held“ durchaus biblisch. Nicht weniger als 160-mal wird im Alten Testament das entsprechende hebräische Wort verwendet und unter anderem auf Personen wie Gideon (Ri 6,12), Jeftah (Ri 11,1), David (1Sam 16,18; 2Sam 17,10), Jonatan (2Sam 1,25), die „Helden“ Davids (2Sam 23,8) und viele weitere Personen angewandt, nicht zuletzt auf Gott selbst (5Mo 10,17; Neh 9,32; Ps 24,8; Jes 9,5; 42,13; Jer 20,11; 32,18; Zef 3,17) und seinen Gesalbten, den Christus (Ps 45,4). Vor diesem Hintergrund kann man durchaus von Jesus als dem Held der Bibel reden.

1.
DER GEHEIMNISVOLLE
SCHLANGENBEZWINGER
Fragen über Fragen
Die Geschichte der Menschheit fängt geradezu idyllisch an: zwei Menschen in einer Welt ohne Böses. Bis zu diesem einen Tag, an dem die beiden ersten Menschen einem Geschöpf begegnen, das Bibellesern entweder einen Schauer über den Rücken jagt oder einfach nur Fragen auslöst: einer Schlange – die auch noch spricht. Unwillkürlich fragt man sich als Bibelleser: Was war an dieser Schlange so faszinierend, dass Eva mit ihr sprach? Nur wenige würden sich heute ohne Scheu einer Schlange nähern. Die meisten Menschen empfinden Schlangen als eklig, bedrohlich und furchteinflößend. Wie also kam Eva dazu, sich dieser Schlange überhaupt zu nähern? War sie einfach naiv? Oder hatte sie kein Empfinden für Ekel und Abscheu? Oder war diese Schlange ganz anders als Schlangen, die wir heute kennen? Und wieso taucht diese scheinbar böse und bedrohliche Kreatur in einer Schöpfung auf, die nach Gottes Urteil doch „sehr gut“ (1Mo 1,31) war? Allein schon von einer „Kreatur“, also einem geschaffenen Wesen zu sprechen, löst diese Frage aus. Man fragt sich unwillkürlich: Um welches Geschöpf handelt es sich bei dieser Schlange? Wie kann sie einerseits so viel Böses in die Welt bringen, andererseits aber so eine Faszination auf die ersten Menschen ausüben? Fragen über Fragen, die nach einer Antwort verlangen. Und dabei haben wir die größte Frage noch gar nicht gestellt: Wie kann dieses Wesen, dem die ersten Menschen so scheinbar wehrlos verfallen sind, besiegt und überwunden werden? Wer kann die Menschen davor retten? Wer ist der wahre Held,
der die Schlange bezwingt? Beginnen wir ganz von vorn und schauen genauer hin.
Eine unheimliche Kreatur
Zu Beginn der Weltgeschichte leben die ersten Menschen in einer heilen Beziehung zu Gott. Das ändert sich mit dem Auftreten der Schlange in 1. Mose 3, denn mit ihr nimmt die Geschichte der Welt eine unheilvolle Wendung. Es ist bemerkenswert, dass im Garten
Eden eine Schlange zum Ausgangspunkt für den Sündenfall wird. Doch warum gerade eine Schlange? Was ist an diesen Tieren so einzigartig?
Schlangen sind in der Tat einzigartige Kreaturen, und dieser Eindruck entsteht durch ganz besondere, ja fast unheimliche Eigenschaften1: Schlangen haben im Gegensatz zu vielen anderen Tieren keine Stimme, mit der sie Laute von sich geben könnten. Dazu haben sie auch keine Ohren, sie sind also stumm und taub. Sie können ihre merkwürdig gespaltene Zunge durch ein Loch hervorschnellen lassen, ohne den Mund zu öffnen. Sie haben außerdem keinen Eigengeruch und wirken dadurch seltsam unpersönlich. Das wird dadurch verstärkt, dass sie aufgrund fehlender Augenlieder immer geöffnete Augen haben und unfähig zu Gesichtsregungen sind. Ihr Blick wirkt dadurch kalt und unpersönlich – sie verziehen buchstäblich keine Miene. Durch die fehlenden Augenlieder wirkt es außerdem so, als würden sie niemals schlafen, was den Schlangen scheinbar übermenschliche Fähigkeiten zu verleihen scheint. Schlangen sind ausnahmslos Fleischfresser, leben also von der Jagd. Dabei kombinieren sie zwei verblüffende Eigenschaften, die anderen Tieren fehlen: Sie können sich einerseits schnell, andererseits aber fast lautlos fortbewegen. Nicht nur das macht sie als Jäger gefährlich, sondern auch die Art, in der sie ihre Beute erlegen. Sie töten sie entweder durch langsames Erwürgen oder durch Gift. Beides scheint anfangs harmlos, spitzt sich dann aber dramatisch zu und ist am Ende tödlich. Schlangen unterscheiden sich auch dadurch von anderen Tieren, dass sie keine Furcht zeigen, wodurch sie eine gewisse Überlegenheit
ausstrahlen. Und das gilt sogar rein körperlich, denn als Amphibien wachsen sie lebenslang und können gigantisch groß werden.2 Und schließlich leben Schlangen sozial unabhängig, können monatelang ohne Nahrung auskommen und können im wahrsten Sinne des Wortes kaltblütig sein (weil sie keine eigene Körperwärme erzeugen).
Trotz dieser eher unheimlichen Eigenschaften haben Schlangen auch heute noch etwas Faszinierendes an sich. Ihr Fortbewegungsstil wirkt elegant und so geheimnisvoll, dass sie auch in der Bibel sprichwörtlich für einen unberechenbaren und geheimnisumwobenen Vorgang stehen kann (Spr 30,19). Schlangen fallen durch schöne und teilweise exotische Musterung auf und haben durch die Einfachheit ihres Körperbaus etwas Elegantes und Geheimnisvolles an sich. Und genau so war es auch, als diese merkwürdige Kreatur den Menschen zum ersten Mal begegnete. Und wenn schon Schlangen überhaupt etwas Besonderes sind, dann war es die Schlange im Garten Eden erst recht. Denn in ihr tritt eine Kreatur auf, die nicht nur eine normale Schlange zu sein scheint, sondern etwas noch viel Unheimlicheres an sich hat.
Ein ganz besonderes Exemplar
Schon das Auftreten der Schlange im Garten Eden ist unheimlich, denn sie wird merkwürdig unvermittelt eingeführt. Direkt nach der Erschaffung des Menschen, von der 1. Mose 2 erzählt, ist zu Beginn von 1. Mose 3 sehr plötzlich von der Schlange die Rede: „Und die Schlange war listiger als alle Tiere des Feldes, die der HERR, Gott, gemacht hatte“ (1Mo 3,1). Dabei wird die Schlange sogar so eingeführt, als wäre sie dem Leser schon bekannt, denn sie wird hier mit dem bestimmten Artikel eingeführt (die Schlange). Im Deutschen klingt das gar nicht so ungewöhnlich, im Hebräischen ist es aber auffällig. Schon damit ist deutlich, dass hier keine alltägliche Schlange gemeint ist.
Das wird auch aus der übrigen Beschreibung der Schlange deutlich: Einerseits wird deutlich gesagt, dass die Schlange Teil der Geschöpfe ist, die „der HERR, Gott, gemacht hatte“. Als solches wird
sie unter die „Tiere des Feldes“ eingeordnet (1Mo 3,1). Obwohl die Bezeichnung „Tier“ relativ allgemein für jede Art von Landtier gebraucht werden kann (siehe zum Beispiel 1Mo 1,30; 2,19), ist sie dennoch interessant. Sie lässt nämlich die Möglichkeit offen, dass es sich bei dieser Schlange nicht um eine gewöhnliche Schlange handelt, denn häufig werden kriechende Tiere und solche, die sich auf Beinen fortbewegen, deutlich unterschieden (1Mo 1,24-25). Mehr noch: Dass die Schlange sich unter den Tieren des Feldes hervortut, lässt darauf schließen, dass die Schlange sogar über den vierbeinigen Landtieren stand, diese also in gewisser Weise übertraf. Die Schlange scheint also ein Exemplar in einer eigenen Kategorie zu sein – in gewisser Hinsicht wie die Tiere des Feldes, andererseits aber auch einzigartig unter ihnen.
Der Verdacht, dass es sich hier um ein außergewöhnliches Tier handelt, wird spätestens dadurch bestätigt, dass die Schlange als „klug“ beschrieben wird – und dass sie spricht. Während das hier verwendete Adjektiv häufig mit „listig“ übersetzt wird und im Deutschen damit schon negativ klingt, ist das im Hebräischen nicht der Fall.
Das hier verwendet Wort meint eher „klug“ und „gescheit“. Es wird fast nur im Buch der Sprüche verwendet und steht dort ausnahmslos als gleichbedeutend mit jemandem, der göttliche Weisheit hat (Spr 12,16.23; 13,16; 14,8.15.18; 22,3; 27,12). Die Übersetzung mit „listig“ ist natürlich nicht unberechtigt, weil das, was die Schlange in 1. Mose 3 tut, ganz und gar nicht der göttlichen Weisheit entspricht. Auch das macht der Text deutlich. Anders, als es die Kapiteleinteilung unserer heutigen Bibeln vermuten lässt, schließt 1. Mose 3,1 nämlich grammatikalisch nahtlos an dem vorangehenden Vers in 1. Mose 2,25 an. Man könnte übersetzen:
Und es waren die beiden nackt (arom), der Mensch und seine Frau, und sie schämten sich nicht.
Dagegen war die Schlange listig (arum), mehr als alle Tiere des Feldes …
In der Gegenüberstellung bilden zudem die beiden Adjektive, die den Menschen und die Schlange beschreiben, ein bewusstes Wortspiel, bei dem „nackt“ und „listig“ im Hebräischen nicht nur sehr ähnlich klingen, sondern zudem im Konsonantentext auch noch gleich lauten.3 Die List der Schlange wird also bewusst der Verletzlichkeit des Menschen gegenübergestellt. Während die Menschen unschuldig, gutgläubig und ohne äußeren Schutz und anderen Schein daherkommen, ist die Schlange klug und nicht das, was sie vorgibt zu sein. Doch eben das wissen Adam und Eva zu Beginn noch nicht, und es ist eben diese Doppeldeutigkeit, die die Schlange so gefährlich macht: Einerseits wirkt ihre Klugheit und Intelligenz anziehend, andererseits wird sie für den Menschen gerade dadurch gefährlich.
Mehr als eine Schlange
Eines ist also hier schon deutlich: Die Schlange ist, wie schon im Garten Eden, eine schillernde Kreatur. Gerade die Tatsache, dass man die Schlange nicht einfach nach dem äußeren Eindruck in Kategorien wie „gut“ oder „böse“ einteilen kann, machte dieses Wesen so unheimlich – ja, geradezu gefährlich. Offenbar konnten die Menschen nicht auf den ersten Blick sagen, ob die Schlange gut ist oder nur gut wirkt, ob sie das Leben besser oder nur vordergründig besser macht. Die Schlange ist eine schillernde Kreatur, und gerade das Attraktive macht sie so gefährlich. Die Schlange scheint also nicht so schrecklich oder furchteinflößend gewirkt haben, sondern ihre Erscheinung muss den Eindruck vermittelt haben, dass sie wirkliche Weisheit vermitteln konnte.
Je länger man diese Schlange betrachtet, desto deutlicher wird, dass hier kein neuer Kumpel auftritt, sondern ein Wesen, das in höchstem Maße beunruhigend und beängstigend wirken kann. Vor diesem Hintergrund muss man sich eigentlich fragen, ob die Schlange trotz ihrer äußeren Erscheinung dem Wesen nach überhaupt ein Tier war. Denn schließlich ist da noch die merkwürdige Tatsache, dass diese Schlange spricht, obwohl Schlangen rein biologisch weder eine Stimme noch Ohren haben, also rein physiologisch zum
Sprechen gar nicht in der Lage wären. Entweder war diese Kreatur gänzlich anders geartet, oder es verbirgt sich ein unheimliches übernatürliches Wesen hinter dem Körper einer ganz normalen Schlange. Mit anderen Worten: Das, was in 1. Mose 3 als „Schlange“ bezeichnet wird, ist möglicherweise etwas anderes, als wir heute unter „Schlange“ verstehen. Darauf scheint auch ein weiteres Detail im Fluch über die Schlange hinzudeuten, nach dem die Schlange nach dem Sündenfall „auf dem Bauch kriechen“ soll (1Mo 3,14). Möglicherweise wird damit schon angedeutet, dass diese besondere Schlange im Garten Eden Beine hatte. Eindeutig sagt die Bibel das nicht, aber in diese Richtung gehen schon frühe jüdische Auslegungen.4 Doch kann das sein?
Eine Schlange mit Beinen? Ein Wissenschaftskrimi Tatsächlich sorgten hin und wieder Funde von Schlangen für Aufsehen, bei denen man auch beinartige Glieder identifizieren konnte.5 Bereits 2006 sorgte eine Entdeckung für Aufsehen in der Wissenschaft: Man fand fossile Überreste einer Schlange, die zwei Beine hatte. Doch damit nicht genug, denn die sorgfältige Analyse ergab, dass diese Schlange Merkmale vereinte, die heutigen Schlangen gemeinsam sind. Sie ist also eine Art Vorläufer heutiger Schlangen –aber eben mit Füßen. Weil das in einzigartiger Weise an die Aussagen der Bibel erinnert, bekam diese neu gefundene Gattung genau den Namen, den nach der Bibel die Schlange in 1. Mose 3,14 hatte. Sie wurde von den Wissenschaftlern absichtlich nach dem hebräischen Wort für „Schlange“ (hebr. nachash) als „Najash“ bezeichnet.6 Es ist nicht ohne eine gewisse Ironie, dass damit Wissenschaftler, die nicht an die Aussagen der Bibel glauben, ein Fossil absichtlich nach dem hebräischen Ausdruck benennen, weil der Fund nach allem, was sie wissen, nur Ähnlichkeiten mit einer einzigen Begebenheit hat – nämlich der Aussage der Bibel in 1. Mose 3,14. Doch damit nicht genug: Neuere computergestützte Untersuchungen dieser Najash ergaben, dass die früher häufig vertretene These, dass sich heutige Schlangen aus Würmern entwickelt haben sollen, damit nicht
mehr haltbar war.7 Damit war klar: Es gab Schlangen mit Gliedern und unsere heutigen Schlangen sind eher Abkömmlinge von glieder-artigen Tieren als umgekehrt.
Dennoch fehlte ein Beweis, dass es tatsächlich einmal solche Tiere mit vier Beinen gegeben hatte. Bis einem Wissenschaftler bei einer Führung durch ein Museum fast die Kinnlade runterging, als er sich eines der dort beheimateten Exemplare etwas genauer ansah. Vor nicht langer Zeit machten Wissenschaftler eine absolut atemberaubende Entdeckung. Der Finder bezeichnete sie als „once-in-a-lifetime discovery“8 – also als eine Entdeckung, auf die ein Forscher, wenn überhaupt, nur einmal in seinem Leben hoffen kann. Im Mittelpunkt stand dabei ein erstaunliches Fossil, das Wissenschaftler für schier unglaublich hielten: eine Schlange mit Beinen, und zwar mit vier Beinen. Sie bekam daher den Namen Tetraphodophis, was eine griechische Bezeichnung für „vierfüßige Schlange“ ist. Was bisher als zweifelhaft galt, ist damit belegt: Heutige Schlangen können nicht, wie vorher eine Theorie besagte, evolutionäre Nachkommen von sehr einfachen Lebewesen sein, die nur noch nicht bis zur Entwicklung von Beinen kamen, sondern sie sind degenerierte Abkömmlinge von vierbeinigen Lebewesen. Die ursprünglich vierbeinige Schlange gleicht daher biologisch eher Wesen wie den Komodo Waranen, die eher an Drachen als an Würmer erinnern.9
Doch es wird noch interessanter: Seit die Sequenzierung des genetischen Materials zunehmend mehr Erkenntnisse bringt, kam eine weitere erstaunliche Tatsache ans Licht. Zwar haben Schlangen heute keine Beine, aber die Information zu ausgebildeten Gliedmaßen ist sogar immer noch in ihrer DNA enthalten. Doch durch eine Änderung im Erbgut an einer für die Ausbildung von Beinen entscheidenden Stelle wird diese Information nicht abgelesen, sodass sich heutige Schlangen ohne Gliedmaßen entwickeln. Wird aber die Mutation an dieser Stelle wieder rückgängig gemacht, beobachteten Forscher, dass auch Schlangen normale Beine entwickeln.10 Schlangen zeigen damit keine Kennzeichen einer Höherentwicklung auf, sondern sind nachweislich degeneriert, und zwar durch eine Änderung in ihrem Erbgut an einer ganz bestimmten Stelle, durch die die Entwicklung
der Beine durch einen kleinen genetischen Schalter sozusagen ausgeschaltet wird. Damit ist die These, dass Schlangen tatsächlich einmal Beine hatten, heute wissenschaftlich belegt.
Die erste Schlange – ein Drache?
Dieser kleine Ausflug in die Vergangenheit der heutigen Schlangen zeigt natürlich nur, dass es heute auch wissenschaftlich durchaus plausibel ist, einen Vorläufer der heutigen Schlangen anzunehmen, der Beine hatte. Doch ist das in 1. Mose 3 auch wirklich gemeint? In diese Richtung jedenfalls weist nicht nur die Andeutung im Fluch über die Schlange, sondern auch die Verwendung von nachasch an der nächsten Stelle nach 1. Mose 3. So ist bei Moses Begegnung mit dem Pharao einmal von einer Schlange (2Mo 4,3; 7,15), ein anderes Mal jedoch wörtlich von einem „Drachen“ die Rede (2Mo 7,10-12). Auch die Bezeichnung der „feurigen Schlangen“ in der Wüste (4Mo 21,6-9) weist darauf hin.11 Manchmal wird der Begriff sogar synonym zu einem Ungeheuer-ähnlichen Tier verwendet: In Jesaja 14,29 ist das ein fliegendes, feuriges Tier; in Jesaja 27,1 ist es die Bezeichnung des Leviatan (der ebenfalls keine Schlange ist), in Amos 9,3 ein Seeungeheuer. Und noch eines ist klar: Bei fast allen diesen Belegen handelt es sich um Wesen, die nicht natürlich sind. Entweder entstehen sie auf übernatürliche Art oder es ist offensichtlich, dass überhaupt kein lebendes Tier ihnen gleicht.
Am auffälligsten schließlich ist aber, dass im Neuen Testament die Schlange aus dem Paradies mit einem Drachen – diesmal ein wirklicher Drache, wie man ihn sich vorstellt – verglichen wird (Offb 12,9; 20,2).12 Dieser Vergleich wäre unpassend, wenn er nicht schon in 1. Mose 3 angedeutet wäre.
Angesichts dieser biblischen Beschreibung muss man also fragen, ob es sich im Garten wirklich um eine kleine gewundene, von einem Baum herabhängenden Schlange handelte, wie man sie häufig in Kinderbibeln sieht. Wenn man bedenkt, dass das Wesen in 1. Mose 3 „über dem Vieh“ stand (1Mo 3,1), dann scheint hier eher an ein besonders herrliches und prächtiges Tier gedacht zu sein.
Wie auch immer man sich diese „Schlange“ nun vorstellt – die genaue Erscheinung bleibt uns verborgen. Viel entscheidender aber ist noch eine andere Beobachtung: Diese sprechende Schlange zeigt, wie bereits deutlich wurde, ohnehin Eigenschaften, die kein heute bekanntes Tier hat. Und im weiteren Verlauf der Beschreibung in der Bibel wird immer deutlicher, dass sich dahinter ohnehin kein gewöhnliches Tier verbarg, sondern ein einzigartiges Wesen, das eigentlich gar nicht ins Tierreich gehört. Doch um wen handelt es sich dabei? Oder sollte man besser sagen: bei ihm? Die Schlange ist im Hebräischen grammatikalisch nämlich männlich und scheint der Beschreibung nach tatsächlich auf eine Person hinzuweisen, die sich dahinter verbirgt. Er, der hier durch die Schlange spricht, beansprucht, genauer zu wissen als Adam, was die Menschen in Bezug auf den Baum der Erkenntnis tun und nicht tun dürfen. Da gewöhnliche Schlangen nicht hören, erst recht nicht die menschliche Sprache verstehen können und (nach allem, was wir wissen) auch gar keine gewöhnliche Schlange direkt anwesend war, als Gott Adam das Gebot gab, von diesem einen Baum im Garten nicht zu essen (1Mo 2,16-17), spricht hier ein Wesen, das auf übernatürliche Weise die Vorgänge in der Welt mitbekommt und Zugang zu Informationen hat, die dem Menschen verborgen sind. Es agiert in der natürlichen Welt durch ein Tier, aber hat ganz offenbar Zugang zu einer übernatürlichen Welt, und es ist dem Menschen nicht wohlgesonnen.
Gegen Gott und den Menschen – der wahre Widersacher
Das Wesen hinter der Schlange ist ziemlich klar übernatürlich, denn es beansprucht Wissen über Gott, das Menschen verborgen ist (1Mo 3,4). Es tritt scheinbar als Ratgeber und Helfer auf, entpuppt sich aber als übernatürliches Wesen, das als Widersacher gegen Gott steht. Das wird in der Art der Einführung der Schlange bereits ausgedrückt: Während die ersten Tiere und der Mensch jeweils ausführlich in ihrer Erschaffung und ihrem Platz in der Schöpfung eingeführt werden, gibt es in der Schöpfungsgeschichte nur zwei Wesen, die völlig unvermittelt eingeführt werden: Gott (1Mo 1,1) und – die
Schlange (1Mo 3,1)! So wie Gott am Anfang einfach als existent vorausgesetzt und mit keinem weiteren Wort beschrieben oder eingeführt wird, ist es auch mit der Schlange (erinnern wir uns an den merkwürdigen bestimmten Artikel „die Schlange“, obwohl vorher von keiner Schlange zu lesen war).13 Und so wie Gott zu Beginn der Schöpfung wird auch die Schlange zu Beginn der Menschheitsgeschichte zum Ausgangspunkt von den zentralen Ereignissen der Weltgeschichte – im Gegensatz zu Gott aber im schlechtesten nur denkbaren Sinn. Das alles zeigt die Schlange in gewisser Weise als Gegenspieler Gottes. Und nicht nur das, sie scheint auch ein Gegenspieler des Menschen zu sein.
Mit den Worten „Keineswegs werdet ihr sterben!“ (1Mo 3,4) macht dieses Wesen klar, dass es nicht gekommen ist, um Gottes Absichten auszuführen, sondern um Gott direkt zu widersprechen, seine Absichten durcheinander zu werfen und sich selbst dem Menschen als bessere Alternative zur Fürsorge Gottes zu präsentieren. Und damit sind wir beim Kern der Geschichte angelangt: Hier präsentiert sich ein Widersacher Gottes, der beansprucht, als eine Art „Gegengott“ der bessere, klügere, verlässlichere Herrscher über die Menschen zu sein und dem Menschen eine Zukunft suggeriert, in der es keine moralischen Beschränkungen, keine Grenzen für das eigene Wohlbefinden gibt, der Gottes Pläne pervertiert und durcheinanderwirft. Vor diesem Hintergrund ist die Bezeichnung, die im letzten Buch der Bibel vorgenommen wird, keine grundsätzlich neue Information, sondern eine Zusammenfassung all dessen, was in 1. Mose 3 schon angedeutet wird und im Verlauf der biblischen Geschichte klarer wird: Es geht schon in 1. Mose 3 um „den großen Drachen, die alte Schlange, der Durcheinanderbringer (gr. Diabolos, eingedeutscht „Teufel“) und Widersacher (hebr. Satan) genannt wird, der den ganzen Erdkreis verführt“ (Offb 12,9; ähnlich Offb 20,2). Und genau diesem übernatürlichen Feind, der sich als Freund ausgibt, verfällt der Mensch. Er ist der erste und letzte Widersacher und Feind von Gott und dem Menschen.
Von Beginn an der Endgegner
Genau an dieser Stelle, gleich am Anfang der Geschichte, präsentiert sich also schon der „Endgegner“ der Menschen – der größte und mächtigste Feind, dem die ersten Menschen so wenig entgegenzusetzen haben. Durch ihn kommt es zur größten Katastrophe der Weltgeschichte und zum Fall des Menschen in Sünde, Tod und Fluch. Doch das Schlimmste an der Geschichte ist, dass dieser Widersacher Gottes, der hinter allem diesen steht, noch immer aktiv ist und die Herrschaft über die Menschen will. Es ist „der nachasch“, also ein Wesen, das die Israeliten, für die Mose zunächst einmal schreibt, immer noch kennen, für das sie keine weitere Einführung und Beschreibung brauchen, weil sie sehr genau wissen, dass sich hier niemand anderes als der Feind Gottes und der Menschen schlechthin verbirgt. Er war auch in ihrer Zeit präsent und aktiv, und ist es heute noch. Er ist immer noch der Feind und Widersacher, und seine Klugheit und List sind nicht geringer geworden. Gott selbst verkündet, dass dieser Konflikt bestehen bleiben wird:
Und ich werde Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Nachwuchs und ihrem Nachwuchs (1Mo 3,15)
Gott setzt Feindschaft zwischen der Nachkommenschaft der Schlange und zwischen dem Nachwuchs der Frau. Obwohl hier von dem Nachwuchs der Schlange die Rede ist, lebt die Schlange aus dem Garten offenbar weiter – denn sonst könnte ja nicht der Nachkomme der Frau der Schlange selbst (und nicht nur ihren Nachkommen) den Kopf zermalmen. Hier ist ganz deutlich, dass mit der Schlange ein Wesen gemeint ist, das weder Tier noch Mensch ist. Nur dieser hinter der Schlange stehende Widersacher Gottes lebt länger als eine normale Schlange und ist durch die Geschichte hindurch der Widersacher der Menschen. Er ist ein übernatürlicher Feind, der durch die Zeit hindurch existiert.
Doch das führt überhaupt erst zu der eigentlichen Frage – der Frage der Fragen: Kann er besiegt werden? Wenn die Menschen ihm schon im Garten Eden verfielen, wie können dann die Menschen
überleben, nachdem sie aus der geschützten Umgebung des Gartens in eine rauere Welt vertrieben wurden? Gibt es dort überhaupt Schutz vor dieser Schlange? Kann dieses furchtbare Wesen, das damals so viel Leid über die Menschen brachte, jemals besiegt werden? Und wenn ja, wie?
Der Nachkomme der Frau als Schlangenbezwinger Genau hier wird der Held der Bibel seinen ersten Auftritt haben. Ja, es gibt einen, der die Schlange besiegen wird und der sich als der Schlangenbezwinger für die Menschen in den Kampf wirft. Und dazu bekommt die Schlange schon einen Vorgeschmack durch den Fluch, der über sie ausgesprochen wird. Sie wird zunächst deutlich degradiert und herabgesetzt:
Und Gott, der Herr, sprach zur Schlange: Weil du das getan hast, sollst du verflucht sein unter allem Vieh und unter allen Tieren des Feldes! Auf deinem Bauch sollst du kriechen, und Staub sollst du fressen alle Tage deines Lebens! (1Mo 3,14)
Das betrifft schon ihre Einordnung in die Tierwelt. War sie vorher „klüger als alle Tiere des Feldes“, wird sie hinterher eindeutig unter die Tiere des Feldes herabgestuft. Während sie vorher in der Hierarchie höher als das Vieh stand (1Mo 3,1), ist sie nun durch einen tiefen Fall niedriger als das Vieh eingestuft, weil sie zu den „kriechenden“ und „wimmelnden“ Tieren gehört, die auf dem „Bauch“ (1Mo 3,14) kriechen.14 Wie wir gesehen haben, ist mit diesem Fluch möglicherweise angedeutet, dass das Wesen im Garten Eden Beine hatte. Vor allem liegt darin aber eine symbolische Bedeutung: Den Staub der Erde zu fressen ist ein sprichwörtlicher Ausdruck für eine sehr große Erniedrigung (Ps 72,9; Jes 49,23; Mi 7,17). In Micha 7,17 wird eine solche Erniedrigung der Feinde Israels sogar explizit mit der Schlange verglichen: „Sie werden Staub lecken wie die Schlange, wie die kriechenden Tiere der Erde.“15 Doch wie wird das geschehen? Wie wird die Schlange erniedrigt und besiegt werden?
Ankündigung des Helden
Genau hier kommt eine Verheißung ins Spiel, die der Menschheit tatsächlich das Leben ermöglicht, nämlich die Hoffnung auf den wahren Helden, der die Schlange für immer bezwingt. Von ihm heißt es:
Und ich werde Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Nachwuchs und ihrem Nachwuchs; er wird dir den Kopf zermalmen, und du, du wirst ihm die Ferse zermalmen. (1Mo 3,15)
Obwohl der Ausdruck „Nachwuchs“ (oder wörtlich: „Same“) der Frau ziemlich allgemein klingt, ist doch an einen bestimmten Menschen gedacht. Dafür ist aber nicht das Wort „Nachwuchs“ (oder „Same“) verantwortlich, weil dieses häufig auch eine Mehrzahl von Nachkommen bezeichnet. Hier jedoch zeigt die hebräische Grammatik, dass spätestens am Ende des Verses von einer einzelnen Person die Rede ist16 – und das auch noch in ziemlich betonter Weise. Hier ist so auffällig von einer bestimmten Person die Rede, dass die Verheißung auch später im Alten Testament weitergeführt wird (1Mo 22,17) und die grammatikalische Einzahl sogar im Neuen Testament noch aufgegriffen wird (Gal 3,16).17 Man könnte fast übersetzen: „Er, ja er wird dir den Kopf zertreten, und du, du wirst ihm die Ferse zermalmen.“18 Schon hier wird dieser Befreier also betont eingeführt. Obwohl die Ankündigung sehr kurz ist, erfahren wir einiges über ihn.
Eine Kriegserklärung
Er wird ein wahrer Mensch sein, schließlich ist er ein „Nachkomme der Frau“. Dennoch muss es sich um deutlich mehr als einen normalen Menschen handeln, denn schließlich wird von ihm gesagt, dass er die Schlange vernichten wird. Da die Schlange offenbar auf eine übernatürliche Person hinweist, die in Intelligenz, Wissen und Klugheit deutlich über dem Menschen steht, liegt es nahe, sich auch den
Schlangenbezwinger als eine solche Person vorzustellen. Vor diesem Hintergrund ist ein kleines Detail auffallend: Derjenige, der zuallererst der Schlange den Krieg erklärt, ist niemand anderes als Gott selbst! Schließlich sagt Gott von sich: „Ich werde Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau“ (1Mo 3,15)!
Was ist hier mit der Aussage gemeint, dass Gott „Feindschaft setzen“ wird? Man könnte denken, dass das relativ unsinnig und auch viel zu spät kommt – hat sich die Schlange nicht längst als Feind entpuppt? Wenn man diese Feindschaft so versteht, dass Gott hier nur das Offensichtliche ausspricht, macht die Aussage in der Tat wenig Sinn. Tatsächlich liegt der Schwerpunkt auf etwas anderem, nämlich dass Gott nun selbst dafür sorgt, dass die Schlange klar als der Feind bekannt und benannt wird. Das heißt aber nichts weniger, als dass Gott selbst sich nun in diesen Konflikt einbringt. Gott selbst wird nun in diesen Kampf eintreten und nicht zulassen, dass hier ein fauler Friede geschlossen wird. Gott selbst erklärt damit gewissermaßen einen Krieg zwischen Mensch und Schlange, tritt aber selbst darin ein. Wenn man diesen Gedanken konsequent zu Ende denkt, ist das nur folgerichtig. Man müsste ohnehin geradezu annehmen, dass es niemand anderes als Gott selbst ist, der die Schlange vernichten wird –denn wer sonst könnte der Schlange die Stirn bieten? Erstaunlich ist nun aber, dass im nächsten Satz ganz betont in der dritten Person („er“) von dem die Rede ist, der der Schlange „den Kopf zermalmt“ (1Mo 3,15). Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, ob man zwischen demjenigen, der der Schlange den Kopf zertritt, und Gott selbst, überhaupt trennen kann. Und das ist tatsächlich auch nur folgerichtig: Wenn nämlich der Schlangenbezwinger eben jenem übermächtigen Feind, der Schlange, den Kopf zertritt, sollte man dann wirklich annehmen, dass er ein sterblicher Mensch ist? Wohl kaum. Denn erst wenn man annimmt, dass der Schlangenbezwinger ebenso übernatürlich ist, ergibt auch das Sinn, was sich oben schon angedeutet hat, nämlich dass Gott selbst der Schlange den Krieg erklärt.
An dieser Stelle kommt eine geradezu atemberaubende Vermutung auf: Könnte es nicht sein, dass dieser Schlangenbezwinger selbst Gott ist? Für eine solche Vermutung ist es noch zu früh, aber
wir müssen sie im Hinterkopf behalten. Denn dazu müssen wir den Schlangenbezwinger weiter in der Bibel verfolgen. Doch vorher muss noch ein letztes Detail betrachtet werden, das ihn noch geheimnisvoller erscheinen lässt: seine Verletzung.
Eine zermalmte Ferse
In dem Krieg zwischen Mensch und Schlange, hinter dem ein Krieg zwischen dem wahren Helden und dem Widersacher Gottes steht, kommt es auf beiden Seiten zu Verletzungen. Genau das wird im Hebräischen auch absichtlich durch dasselbe Wort ausgedrückt. Dieses als Paronomasie bezeichnete Stilmittel drückt aus, dass hier eine echte Auseinandersetzung stattfindet, aus der beide Seiten nicht unversehrt hervorgehen werden. Doch während die Verletzung der Schlange tödlich ist, wird der Nachkomme der Frau nur an der Ferse verletzt. Der Schlangenbezwinger ist durch und durch geheimnisumwoben. Er vereint menschliche und göttliche Eigenschaften, ist überlegen und dennoch in Mitleidenschaft gezogen (im wahrsten Sinne des Wortes!). Und er wird den Menschen endgültig eine Art Befreiung von der Macht der Schlange schenken. Doch wie wird das genau aussehen? In den fünf Büchern Mose gibt es noch einen weiteren Hinweis auf diesen Einen, der die Schlange besiegen wird.
Es bleibt spannend – Mose und die Schlange
Man begegnet der Schlange erneut, als Gott Mose dazu beruft, das Volk Israel aus Ägypten zu führen. Mose ist hier der von Gott zur Rettung des Volkes Gesandte. So wie der Auszug aus Ägypten eines der deutlichsten Veranschaulichungen der Erlösung ist, so ist Mose eine Vorschattung für den Einen, der kommen soll. Doch bevor diese große Rettung aus Ägypten durch Mose bewirkt werden kann, stellt sich die Frage, woran man ihn als Retter erkennen kann. Wie werden die Israeliten an Gottes Gesandten glauben? Kann er sich legitimieren? Ja, er kann – und zwar durch eine Schlange. Schauen wir uns den Kontext genauer an: