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Unter die haUt

Unter die Haut

Umgang mit Extremsituationen bei Polizei und Feuerwehr

Holger Clas, Torsten Bödeker [Hg.]

Best.-Nr. 271 722

ISBN 978-3-86353-722-7

1. Auflage

© 2022 Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg www.cv-dillenburg.de

Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg

Bibelverse wurden zitiert nach: NeÜ bibel.heute,

© 2010 Karl-Heinz Vanheiden und Christliche Verlagsgesellschaft

Hoffnung für alle, © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc. ® mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis-Brunnen Basel

Neues Leben. Die Bibel © der deutschen Ausgabe 2002/2006/2017 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

Herausgeber

Holger Clas (Jg. 1965), tätig als Erster Kriminalhauptkommissar im Landeskriminalamt Hamburg, hat sich bereits in den 1990er-Jahren im Rahmen seiner Diplomarbeit mit Fürsorgemöglichkeiten des Dienstherrn bei Posttraumatischen Belastungsreaktionen beschäftigt und in 38 Dienstjahren viele herausfordernde Einsatzsituationen erlebt. Er ist seit 1989 glücklich mit seiner Frau Dörte verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Seit 1983 im Polizeidienst, engagiert er sich fast ebenso lange für die Christliche Polizeivereinigung e. V., deren Erster Vorsitzender er zurzeit ist.

Torsten Bödeker (Jg. 1960). Der Leitende Polizeidirektor a. D. war in seiner über 40-jährigen Dienstzeit in unterschiedlichen Führungsfunktionen tätig, zuletzt als Personalchef der Hamburger Polizei. Ihm lag besonders der verantwortungsvolle Umgang mit belastenden persönlichen Schicksalen am Herzen. Die Landesgruppe Hamburg der Christlichen Polizeivereinigung gründete er 1983. Mit seiner Frau Sabine ist er noch länger glücklich verheiratet –mittlerweile sind sie mehrfache Großeltern.

Die junge Hand

Ich bin Feuerwehrfrau – und das auch noch freiwillig. Wie „irre“ muss man sein, um sich freiwillig in Situationen zu begeben, vor denen „normale“ Menschen weglaufen? Für mich war und ist es eine „Herzensangelegenheit“. Schon als Kind träumte ich davon, Feuerwehrfrau zu werden.

In den 1980er-Jahren in meiner damaligen Heimat: unmöglich! Damals durften nur Männer zur Feuerwehr. Als in den 1990er-Jahren erstmals Frauen zugelassen wurden, war ich alleinerziehende Mutter und der Traum von der Feuerwehrfrau begraben. Dann, im „zarten“ Alter von 42 Jahren, habe ich einmal meinen Sohn, der damals bei der Jugendfeuerwehr war, begleitet, mir „Feuerwehr“ angeschaut und wurde eingeladen, bei einer Übung mitzumachen. Drei Monate später habe ich die Grundausbildung begonnen.

Tina Feuser, Feuerwehrfrau bei der freiwilligen Feuerwehr

Während meiner Grundausbildung waren Posttraumatische Belastungsreaktionen, Einsatznachsorge, Symptome etc. noch keine wirklichen Themen. Viele „alte Hasen“ suggerierten eher, dass man „Bilder“ wegtrinken könne. Durch meine Arbeit in der Altenpflege und als ehrenamtliche Hospizhelferin kannte ich aber auch die Belastungen, die im Inneren entstehen können, und wusste bereits, wie ungemein wichtig es ist, diese Signale des Körpers nicht zu ignorieren.

So auch bei einem schrecklichen Einsatz, zu dem wir gerufen wurden. Schon beim Eintreffen am Unfallort wusste ich, dass ich nach dem Einsatz Hilfe brauchen würde. Das Einsatzstichwort – an einem Sonntagmorgen um 4:30 Uhr – lautete: „VU – PKW überschlagen – TH“1. Beim Eintreffen schaute ich zufällig auf das Kennzeichen des verunfallten PKW mit den Ziffern 1994. Das war das Geburtsjahr meines Sohnes – und das löste bei mir sofort Emotionen aus.

Mitten in der Stadt war der junge Fahrer mit stark überhöhter Geschwindigkeit (der Tacho war bei 130 km/h stehen geblieben) in einer Linkskurve geradeaus gefahren und – wie bei einer Sprungschanze – über eine Gartenmauer geflogen. Das Auto hatte sich mehrfach überschlagen, war durch eine Hecke gebrochen und gegen eine Hauswand geprallt. In dem Auto waren vier junge Leute zwischen 18 und 24 Jahren.

Mein Auftrag war, mit einigen Kameraden Decken als Sichtschutz hochzuhalten und zugleich Leute davon

1 VU = Verkehrsunfall, TH = Technische Hilfeleistung

abzuhalten, diese Decken wegzuziehen, um besser sehen zu können. Die Beschimpfungen und Beleidigungen der „Gaffer“ waren dabei noch das Harmloseste. Mich wundert es heute oft noch, wie viele Menschen zu den unmöglichsten Zeiten und so zahlreich an Einsatzstellen auftauchen.

Die Bilder, die sich uns boten, waren entsetzlich! Was mir (bis heute) tief haften geblieben ist, war die versuchte Reanimation einer jungen Frau. Eigentlich konnte man es nur noch an der Kleidung erkennen, dass es eine weibliche Person war. Vom Gesicht war – außer einer blutigen Masse – nichts mehr zu sehen. Sie lag auf dem Rücken, eine Hand ausgestreckt. Eine junge Hand, eine sehr junge Hand. Die Reanimation schlug fehl, und es war schnell klar, dass es hier keine weiteren Bemühungen mehr geben würde. Die Einsatzkräfte mussten sich um die anderen verletzten Beteiligten kümmern. Die junge Frau wurde zugedeckt, aber die junge Hand schaute immer noch unter der Decke heraus. Das ist eines meiner tiefsten Bilder aus diesem Einsatz. Die junge Frau hatte an ihrem Todestag ihren 18. Geburtstag. Viereinhalb Stunden Volljährigkeit. Vor der Feuerwehr hatte ich beim Kriseninterventionsdienst (KID) des Deutschen Roten Kreuzes hospitiert und wusste daher, wie wichtig eine frühzeitige Psychosoziale Unterstützung (PSU) ist. Auf dem Weg zurück zur Wache sprach ich das Thema an, stieß aber auf komplett ablehnende Kameraden. Ich bekam nur kurze Phrasen zu hören, und meine Belastung wurde nicht ernst genommen. So

wandte ich mich direkt an den KID und fragte nach einer bestimmten Gesprächspartnerin, von der ich wusste, dass sie Mutter von erwachsenen Kindern ist.

Zu meinem Glück war diese Bekannte bereit, mit mir dieses Gespräch zu führen. Durch ihre fachkundige Gesprächsführung konnte sie mir so helfen, wie ich es zu diesem Zeitpunkt brauchte. Für mich alleine hätte ich dieses Erlebnis nie verarbeiten können. Ohne Psychosoziale Unterstützung würde ich heute höchstwahrscheinlich keine Einsätze mehr fahren können. Ohne dieses wertvolle Gespräch wäre ich heute keine aktive Einsatzkraft mehr. Und Gott? Er hat diesen belastenden Einsatz nicht verhindert, aber mir geholfen, ihn zu bewältigen. Ich weiß, dass Gott im Einsatz und hinterher bei mir war, dass er immer bei mir ist. Mein Glaube hat die Nachsorge nicht überflüssig gemacht, aber ich bin überzeugt, dass Gott dafür gesorgt hat, dass ich genau die richtige Gesprächspartnerin bekam. Ihm vertraue ich, dass ich bei ihm weiterhin Hilfe, Trost, Kraft und Mut finde. Manchmal wirkt dieser Einsatz noch bei mir nach. Das Bild von der „jungen Hand“ ist eingebrannt. Wir sind mittlerweile umgezogen in eine andere Gemeinde in einem anderen Kreis. Aber wenn ich heute in meiner „alten Heimat“ unterwegs bin, fahre ich immer noch ungern an

Gott

hat diesen belastenden

Einsatz

nicht verhindert, aber mir geholfen, ihn zu bewältigen.

dieser Stelle vorbei. Heute noch erkennt man, wo der PKW durchgebrochen war und die Hecke nachgepflanzt wurde.

Heute gibt es auch bei den Freiwilligen Feuerwehren einen offeneren Umgang mit den Folgen belastender Einsätze. Schon in der Ausbildung wird darauf hingewiesen, dass es nicht nur die Verletzungen gibt, die man sieht.

Die Verletzung der Seele bzw. Psyche kann langwieriger, schmerzhafter und belastender sein als ein körperlicher Schaden.

Der Eigenschutz ist wichtig, nicht nur während des Einsatzes, sondern auch davor und danach. Zum Eigenschutz gehört es auch, sich selbst nach einem Einsatz (ehrlich!) zu reflektieren. Gibt es etwas, das dich belastet, nicht schlafen lässt, dich aufregt usw.? Wenn das so ist, dann hole dir Hilfe! Es gibt Ansprechpartner dafür. Du brauchst es nicht alleine zu tragen.

Und ausdrücklich: Nein, es ist keine Schwäche und kein Versagen, wenn der Körper „spricht“. Albträume, Aggressivität, Schlaflosigkeit, Vermeidungstaktiken u. v. m. können Signale sein, die eine Posttraumatische Belastungsstörung anzeigen. Sosehr man auch versucht, dagegen anzukämpfen, alles zu unterdrücken oder zu ignorieren, unterschwellig bleibt es doch vorhanden. Irgendwann kommt es wieder hoch – und manchmal kann es Menschen sogar in den Suizid treiben.

Nein, es ist keine Schwäche und kein Versagen, sich helfen zu lassen. Mir persönlich hilft auch mein Glaube an Gott und mein Vertrauen in ihn. Nein, Gott wird keine

belastenden Einsätze verhindern. Gott ersetzt auch nicht die Nachsorge, wenn sie gebraucht wird. Er schickt mir die Menschen, die ich brauche, die für mein Anliegen genau die Richtigen sind. Er schenkt mir Trost, auch wenn ich vieles einfach nicht verstehen und nachvollziehen kann. Er gibt mir Kraft, Hilfe anzunehmen und den individuellen Gesundungsprozess zu überstehen. Er gibt mir den Mut, wieder in die Einsätze zu gehen und zu riskieren, dass ich wieder etwas mit nach Hause nehme. Ihm vertraue ich auch, wenn ich gescheitert bin. Ich kann ihn um Verzeihung bitten und es noch mal versuchen.

Ihr könnt aufhören, der ist sowieso schon tot

Immer wieder kommt es bei den Töss-Schwellen in der Schweiz in den Wasserwalzen zu lebensgefährlichen oder sogar tödlichen Unfällen. Mindestens sechs Personen ertranken in den vergangenen 20 Jahren beim Versuch, ihre Hunde aus den Fluten zu retten. Die Gefahr, die in den Wasserwalzen lauert, wird meist unterschätzt. Das zirkulierende Wasser macht es schwierig, der Walze zu entrinnen, und der hohe Sauerstoffgehalt im schäumenden Wasser vermindert den Auftrieb und macht so das Schwimmen fast unmöglich. In das Ausbildungsprogramm für Polizei-Aspiranten wurde deshalb eine Rettungsübung aus der Wasserwalze aufgenommen.

Rolf Bänziger, Feldweibel mit besonderen Aufgaben

Stadtpolizei Winterthur

CPV-Gruppe Winterthur CH

Am 12. Juli 1996 fahren wir Aspiranten mit unseren Instruktoren zu ebendieser Übung und sitzen mit gemischten Gefühlen und nervöser Erwartung im

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