271357

Page 1


Was hilft,

was heilt?

Ein Arzt

beantwortet

Fragen zur alternativen

Medizin

Dr. Wolfgang Vreemann Was hilft, was heilt?

Ein Arzt beantwortet Fragen zur alternativen Medizin

Bestell-Nr.: 271.357

ISBN: 978-3-86353-357-1

Falls nicht anders angegeben, wurden Bibelstellen zitiert nach der Revidierten Elberfelder Bibel, © 1985/1991/2006 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten. Außerdem wurde vewendet: NeÜ bibel.heute © 2010 Karl-Heinz Vanheiden und Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg

5. Auflage

© 2016 Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg www.cv-dillenburg.de Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg

Titelmotiv: © Shutterstock.com/Guz Anna Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany

Vorwort

Ein niedergelassener Arzt schreibt ein Buch über Alternativmedizin. Recht ungewöhnlich, denken Sie vielleicht. Aber nach mehr als 45 Jahren Beschäftigung mit der Medizin und über 30-jähriger Tätigkeit in einer großen, hausärztlich ausgerichteten Praxis haben sich so viele Berührungspunkte und so viele Fragen zu alternativen Heilmethoden ergeben, dass ich „buchstäblich“ ein Buch darüber schreiben kann. Aber die Erlebnisse und die Fragen der Patienten waren nicht der entscheidende Anlass, mich so intensiv mit der Alternativmedizin auseinanderzusetzen. Viel eher waren es drei Gründe:

1. Schon sehr früh in meiner Ausbildung erlebte ich die Grenzen moderner Schulmedizin. Die immer weiter gehende Spezialisierung und die fast ausschließliche Beschäftigung mit den menschlichen Organen konnten doch nicht alles sein! Mit unseren Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten stießen wir bei vielen chronischen Leiden und psychischen Störungen an unsere Grenzen. Ich schaute mich also bei den alternativen Heilmethoden um, war teilweise angenehm überrascht, teilweise aber auch enttäuscht oder sogar schockiert. Warum, das erfahren Sie in diesem Buch.

2. Als Christ wurde ich von Patienten auch um seelsorgerliche Hilfestellung gebeten. Dabei musste ich entdecken, dass viele Kranke Zuwendung suchten und sich so der

Alternativmedizin zuwandten. Aber sie bekamen ihr Bedürfnis oft nicht gestillt, sondern erlitten in einzelnen Fällen sogar Schaden in ihrem Glaubensleben.

3. Dadurch fühlte ich mich herausgefordert, die alternativen Heilmethoden gewissenhaft zu prüfen. Und diese Prüfung sollte sich an biblischen Maßstäben orientieren.

Das habe ich nach bestem Wissen und Gewissen versucht, aber Sie verstehen sicherlich, dass letztlich vieles subjektiv beurteilt wird und dass eine Betrachtung, wie sie in diesem Buch geschieht, immer unvollständig bleibt. Ich muss Sie also um Nachsicht bitten, wenn Sie selbst mit irgendeiner Methode andere Erfahrungen gemacht haben oder wenn Sie anderer Meinung sind. Bringen Sie mich deswegen bitte nicht sofort vor Gericht oder schreiben mir böse Briefe, sondern berücksichtigen Sie, dass sich meine Aussagen neben dem Literaturstudium auf viele persönliche Erlebnisse und Erfahrungen stützen.

Dieses Buch ist also kein Handbuch und nimmt auch nicht umfassend zu allen Aspekten der Alternativmedizin Stellung. Vielmehr soll es einer ersten Orientierung dienen und dem fragenden Patienten eine biblisch begründete Entscheidung möglich machen.

T e I l a Worüber man zuerst nachdenken sollte

1. Kapitel

Die moderne medizin und ihre Schattenseiten

LEISTUNGEN UND GRENZEN DER MEDIZIN

Intensivstation. Städtisches Krankenhaus einer westdeutschen Großstadt. Notaufnahme wegen Verdacht auf akuten Herzinfarkt. Rettungssanitäter fahren einen blassen, schweißbedeckten Patienten in mittlerem Alter auf einer Trage in den Vorraum der Station, eine Hand hält die noch laufende Infusion, viele andere Hände packen zu und heben den verängstigten Patienten in das bereitgestellte Bett. Eine kurze Fahrt an den Überwachungsplatz mit seinen Kabeln, Monitoren und blinkenden Dioden. Schnell wird die Decke zurückgeschlagen und die Kleidung des Patienten geöffnet. Wortlos misst eine Krankenschwester den Blutdruck, eine andere klebt Elektroden auf den entblößten Brustkorb, und ein Krankenpfleger bereitet eine zusätzliche Infusion vor. Der bereitgelegte Ve nenkatheter soll über eine punktierte Halsvene bis in die Nähe des Herzens führen. Alle Handgriffe laufen mit einer bewun dernswerten Perfektion ab, das Team ist gut eingespielt und hat viele hundert Male ähnliche Situationen durchexerziert.

Schon wenige Minuten nach der Aufnahme ist der Patient an die Überwachungsgeräte angeschlossen, die Monitore zeigen die Herzaktionen in Form des laufenden Elektrokardiogramms, unregelmäßige Piepstöne vermitteln einen Eindruck vom jagenden und stolpernden Puls des Patienten. Der Hausarzt, der den Patienten als Notfallarzt ins Krankenhaus begleitet hat, steht etwas hilflos und abgeschoben am Rande der Überwachungskabine, aus Gründen der Sterilität mit einem viel zu großen grünen Kittel und mit Plastiküberschuhen bekleidet. Einige kurze Worte kann er noch mit dem aufnehmenden Arzt über die Vorgeschichte des Patienten wechseln, bis sich der Krankenhausarzt der Venenpunktion im Halsbereich widmet, um dem Patienten möglichst rasch die lebensnotwendige Infusion anzuschließen. Während der ganzen Zeit wurde kaum ein Wort mit dem Patienten gesprochen, einer hat kurz nach seinem Namen gefragt, niemand hat sich ihm persönlich vorgestellt. Rege Betriebsamkeit, sicherlich oft lebensrettend, erfüllt den kleinen Raum. Jeder Handgriff sitzt, ein perfektes Zusammenspiel der Fachleute. Aber niemand sieht die weit geöffneten, ängstlichen Augen eines Menschen, der hilflos in einem Gewirr von Kabeln, Schläuchen, grünen Kitteln und knappen Informationen nach Orientierung sucht. Nur mühsam gelingt es dem Hausarzt, die Hand seines ihm vertrauten Patienten zu ergreifen und sich mit einem kurzen Genesungswunsch von ihm zu verabschieden. Erleichtert geht er nach draußen; er weiß seinen Patienten in fachlich kompetenten Händen. In bedrohlichem Zustand, aber lebend, hat er ihn auf der Intensivstation abgeliefert, alles Weitere muss er den Spezialisten überlassen. Dennoch bleibt bei ihm auf der Rückfahrt mit dem Rettungswagen ein ungutes Gefühl zurück. Recht tief hat sich der Hilfe suchende und um Zuwendung bittende Blick des Patienten in sein Gedächtnis eingegraben.

Zu Hause und in der Praxis läuft in der Begegnung mit solch einem Menschen doch vieles anders ab. Über Jahre hat sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt, das auch Zuspruch und Hilfestellung in den großen und kleinen Sorgen des Alltags mit einschloss. Sogar während der Fahrt mit Blaulicht und Martinshorn konnte er als Hausarzt noch mit einigen beruhigenden Worten und Gesten dem von Angst und Vernichtungsschmerz geplagten Menschen nahe sein. Aber jetzt, in der Klinik, ist derselbe Mensch der Sprachlosigkeit lebensrettender Maßnahmen ausgeliefert. So zumindest kommt es ihm vor. Andererseits bleibt in der Akutsituation oft keine Zeit, viele Worte zu wechseln; hier muss meist sehr rasch gehandelt werden, weil es um Leben und Tod geht.

An dieser Stelle zeigt sich aber auch das ganze Dilemma moderner Medizin. Wo das körperliche Leiden – vor allem im akuten Fall – ganz im Vordergrund steht, muss für die Zeit der Hilfeleistung die Beschäftigung mit dem Menschen als Persönlichkeit, mit seinen geistigen und seelischen Grundbedürfnissen zurückstehen. Es kann eben nicht immer beides gleichzeitig geleistet werden.

Viel später erst, nach seiner Entlassung aus der Klinik, wird der Patient dankbar sein für die gute und gezielte fachliche Hilfe, die ihm möglicherweise das Leben gerettet hat. Aber ein bitterer Nachgeschmack bleibt zurück: In einer seiner schwersten Stunden hat er das entbehren müssen, wonach sein Gefühl, seine Seele am meisten verlangten: menschliche Wärme und Zuwendung. Angehörige konnten ihn damals nicht begleiten, der einzige Vertraute war der Hausarzt, und dessen Kompetenz war im Krankenhaus zu Ende.

PERSöNLICHE ERFAHRUNGEN

Ein weiteres Beispiel, wieder aus eigenem Erleben: Zu Beginn meiner Tätigkeit als Arzt in eigener Praxis war ich

voller Tatendrang, wollte den Menschen in medizinischer Hinsicht helfen, die großen Krankheiten behandeln, zur Vorbeugung beitragen und dabei auch ein gutes Verhältnis zu den Patienten und ihren Familien aufbauen. Schon sehr bald nach meiner Niederlassung musste ich feststellen, dass es gar nicht die großen Krankheiten und die „eindeutigen Fälle“ waren, die den hausärztlichen Alltag füllten, sondern die zahllosen kleinen Wehwehchen, Störungen und Beschwerden, die offensichtlich den meisten Hilfe suchenden Menschen zusetzten. Da gab es wenig Fassbares, keine eindeutigen krankhaften Befunde, nur normale Laborwerte, ein einwandfreies EKG und Ultraschalluntersuchungen ohne krankhaften Befund. Und trotzdem kam der gleiche Patient Woche für Woche mit ähnlichen Beschwerden wieder. Es war „zum Haare ausraufen“. So hatte ich mir meine Tätigkeit als Arzt nicht vorgestellt. Mehr und mehr machte sich Frustration breit, eine Abneigung, ja, ein Widerwillen entwickelte sich gegenüber solchen Patienten, die mir offensichtlich nur die Zeit stehlen wollten und mich an der Erfüllung größerer und wichtigerer Aufgaben hinderten. Am liebsten wäre ich wieder in die Klinik zurückgekehrt und hätte mich mit der Klärung und Behandlung einzelner Krankheitsbilder im Krankenhausalltag beschäftigt.

In dieser Phase war ich in meinem persönlichen Christsein gefordert. Wenn Gott mir hier eine Aufgabe vor die Füße legte, die ich nicht erwartet hatte, dann mussten die auftretenden Probleme auch mit Gottes Hilfe zu bewältigen sein. Deshalb begann ich, für die Situation, für die Patienten und für meine eigenen Reaktionen zu beten. Nach einiger Zeit erkannte ich immer deutlicher, dass gerade bei den Patienten mit wiederkehrenden und scheinbar grundlosen Klagen keine echten organischen Erkrankungen als Ursache bestanden, sondern dass es sich bei vielen dieser Beschwerden um einen Hilfeschrei der Seele handelte.

Da war zum Beispiel eine etwa 45-jährige Patientin, die mehr als ein Jahr lang fast jede Woche in der Sprechstunde erschien und über Rückenschmerzen, Migräne, Unterbauchkrämpfe und Schlafstörungen klagte. Mit kleinen Änderungen bestanden diese Beschwerden unverändert weiter; alle Behandlungsmaßnahmen, wie Spritzen, Tabletten, Fango-Packungen und Massagen, blieben erfolglos. Es war zum Verzweifeln, bis die Patientin dann – nach über zwölf Monaten – fast unvermittelt während einer erneuten Untersuchung herausplatzte: „Wissen Sie, Herr Doktor, was ich Ihnen schon immer einmal sagen wollte: Bei mir zu Hause, das ist die Hölle! Sie kennen meinen Mann ja nicht … Eigentlich ist er ein ganz umgänglicher Mensch, aber wenn er getrunken hat, dann ist er unausstehlich!“ Dies war der Beginn eines Gesprächs, in dem die Patientin ihre ganze familiäre Situation und die zunehmenden Spannungen zwischen ihr und ihrem Ehemann schilderte. Seit die beiden Töchter aus dem Haus waren, kamen die Eheleute nicht mehr miteinander zurecht; der Alkoholgenuss des Ehemannes nahm immer mehr zu, und jedes Mal, wenn er getrunken hatte, verlor er die Kontrolle und misshandelte seine Frau, bis hin zu sadistischen Verhaltensweisen.

Die Ehefrau hatte sich schließlich in körperliche Beschwerden und Krankheiten geflüchtet, um zumindest zeitweise der entwürdigenden Behandlung durch ihren Mann aus dem Weg zu gehen. Weit über ein Jahr liefen nun schon die Untersuchungen und Behandlungsversuche, ohne dass irgendwelche Fortschritte erzielt worden waren. An solche Zusammenhänge hatte ich als junger Arzt überhaupt nicht gedacht. Aber nachdem sich die Patientin nun in dieser Weise geöffnet hatte, konnte ich – wenn auch unbeholfen und unerfahren – in vielen Gesprächen auf diese Hintergründe eingehen und der Patientin dadurch mein Verständnis und mein Mitgefühl vermitteln. Ein ganz erstaunlicher Effekt trat ein: Nach einigen Wochen kam die Patientin deutlich

seltener in die Praxis, bis sie zuletzt nur noch durchschnittlich einmal im Quartal erschien. Der Medikamentenkonsum verringerte sich, Migräneanfälle und Rückenschmerzen ließen nach, wenn sie auch nicht ganz behoben werden konnten. In der Zeit unserer Gespräche hatte die Patientin offensichtlich gelernt, mit ihrem Ehemann anders umzugehen; ihre innere Einstellung hatte sich gewandelt, die Spannungen und die persönliche Not hatten ein anderes Ventil gefunden. Diese beiden ganz verschiedenartigen Erfahrungen zeigen eines ganz deutlich: Die moderne Medizin stößt im Alltag sehr rasch an ihre Grenzen. Darüber können auch die rasanten Fortschritte in Chirurgie, Pharmakologie und anderen Bereichen nicht hinwegtäuschen. Woran liegt es, dass unser Gesundheitswesen trotz eines Milliardenaufwandes so viel Enttäuschung und Unzufriedenheit zurücklässt? Es gibt sicher mehrere Gründe, die zum Teil zusammenhängen und sich oft aus der historischen Entwicklung herleiten lassen. Ich will versuchen, einige dieser Gründe kurz darzustellen.

SCHATTENSEITEN DER MODERNEN MEDIZIN

1. Die Schulmedizin, die sich im 19. Jahrhundert als medizinische Wissenschaft etablierte und an Hochschulen und Universitäten gelehrt wurde, hat in den zurückliegenden 150 Jahren eine ganz rasante Entwicklung durchlaufen. Eingebettet in naturwissenschaftliche Forschungen, wuchs das Wissen um den Menschen, um seine Organe, Organfunktionen, um Stoffwechsel, Hormonhaushalt und viele andere Fakten. Zusätzlich wurden Krankheitsursachen erforscht, Infektionskrankheiten enttarnt und viele biochemische Zusammenhänge deutlich gemacht. Das Wissen wurde immer größer, aber auch immer komplizierter, spezialisierter und immer unüberschaubarer. Gleichzeitig wuchs der Glaube an Wissenschaft, Medizin und Technik bis hin zum Machbarkeitswahn. Viele Menschen lebten noch vor 50 oder

60 Jahren in der Vorstellung, dass einmal alle naturwissenschaftlichen Zusammenhänge, auch die im menschlichen Organismus, erforscht sein würden und dass man dann nahezu jede Krankheit heilen könnte. Dieser Fortschrittsglaube wich in den 70er- und 80er-Jahren langsam der ernüchternden Erkenntnis, dass Messdaten und eine materialistische Denkweise nicht alle Phänomene unseres Lebens erfassen.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich aber bereits ein Spezialistentum herausgebildet, das den Menschen gewissermaßen in alle erdenklichen Einzelteile zerlegte und diese Einzelteile dann dem Fachmann zuführte, um Gesundheit zu erlangen. So gut und hilfreich, ja sogar notwendig solche Spezialisierungen sind, so sehr versperren sie doch den Blick für den Menschen als ein von Gott geschaffenes Individuum.

2. Diese einseitige und spezialistenorientierte Betrachtungsweise des Menschen und seiner Erkrankungen wurde während meines eigenen Medizinstudiums in den 60er-Jahren an den Universitäten noch fast ausschließlich vermittelt. Damals gab es unter anderem noch keine Lehrstühle für psychosomatische Medizin und auch nur ganz vereinzelte Fachkliniken, die sich mit diesen Krankheitsbildern beschäftigten. Ähnlich verhielt es sich mit naturheilkundlichen oder gar alternativen Heilmethoden; sie tauchten im Lehrplan der Medizin mit keinem Wort auf.

3. Parallel dazu entwickelten sich im damaligen Wirtschaftswunderland Bundesrepublik langsam aber sicher ein zunehmendes Konsumdenken und eine immer höhere Erwartungshaltung in allen Bereichen des Lebens, auch im Gesundheitswesen. Der Wohlstand und der steigende Lebensstandard brachten es mit sich, dass viele auch an ihr Wohlbefinden sehr hohe Ansprüche stellten. Bis heute ist dieser Trend ungebrochen und lässt vor allen Dingen Patienten in mittlerem Lebensalter manchmal schon bei leichten Beschwerden (wie zum Beispiel Rückenschmerzen) alle

vorhandenen Spezialisten vom Orthopäden über den Neurologen bis zum Facharzt für Urologie aufsuchen. Dabei erwartet der Gesundheitskonsument, dass auf die möglichen Kosten sehr aufwendiger Untersuchungsmethoden keine Rücksicht genommen wird; das Beste und Teuerste in Diagnose und Therapie ist gerade gut genug. Ohne es zu wissen, hat der Patient durch seine Haltung genau den Trend verstärkt, den er auf der anderen Seite so vehement kritisiert, und zwar die hochgradige Spezialisierung und Konzentration auf einzelne Organe ohne Beachtung der Gesamtpersönlichkeit, zu der der komplette Organismus mit Geist und Seele gehört.

4. Die Medizin hat sich dem allgemeinen Trend der Zeit angepasst und ihn teilweise auch selbst mitbestimmt. Technik und Apparatemedizin dominieren, große „Bettenburgen“ und riesige „Gesundheitsfabriken“ mit steriler, unpersönlicher Atmosphäre wirken einschüchternd auf den kranken Menschen, sie verängstigen ihn und rufen nicht selten regelrechte Horrorvisionen hervor. Bezeichnenderweise sträuben sich gerade hochbetagte Patienten mit Händen und Füßen gegen eine Krankenhausaufnahme und wollen lieber zu Hause in Frieden sterben, als sich dem Moloch Krankenhaus auszuliefern.

AlternAtiven gesucht

Die Menschlichkeit ist wirklich in vielen Orten auf der Strecke geblieben, auf Emotionen kann in Klinik und Fachpraxis kaum Rücksicht genommen werden; tatsächlich haben einige Spezialisten im Laufe ihrer Ausbildung gelernt, Gefühle völlig auszublenden. Erst in den letzten Jahren schwingt das Pendel langsam wieder zurück, und auch die moderne Medizin entdeckt ihr Interesse an der Psyche des Patienten. Trotzdem erleben die Menschen in vielen Arztpraxen immer noch ein Defizit an Emotionalität, wo sie doch bei über 50 Prozent der Erkrankungen gerade Zuwendung und menschliches Verständnis viel eher benötigen als hochspezialisiertes Fachwissen.

Auf diesem Hintergrund ist es verständlich, dass der Patient nach Alternativen sucht, die seinen Geist und seine Seele genauso berücksichtigen wie sein organisches Leiden. Und so entstand in den zurückliegenden Jahrzehnten eine Marktlücke, die von alternativen Heilmethoden mit ihren ganzheitlichen Heilversprechungen gefüllt wurde. Trotz aller Fortschritte, trotz aller Rationalität nahmen die nicht rational erklärbaren Methoden der Alternativmedizin immer breiteren Raum ein. Sie bieten gerade bei chronischen Leiden, bei nervösen Störungen und bei psychosomatischen Krankheiten genau das, wonach der Hilfe suchende Mensch in seiner Krankheit meist unbewusst sucht. Diese Aufwärts-Entwicklung der Alternativmedizin wird noch begünstigt durch teils berechtigte und teils unberechtigte Ängste: Da ist die Angst vor den Nebenwirkungen sogenannter chemischer Medikamente, die Angst vor unnötigen Operationen, die Angst vor menschenunwürdiger Behandlung im Krankenhaus und vieles andere mehr.

Ohne Zweifel muss man Probleme wie unerwünschte Nebenwirkungen und übereilte Operationen bei allen Überlegungen berücksichtigen; trotzdem sollte niemand vergessen, wie segensreich moderne Arzneimittel und moderne Chirurgie sind. Und trotz aller berechtigter Kritik darf auch nicht übersehen werden, dass in den Krankenhäusern oft sehr hoher menschlicher Einsatz von Pflegepersonal und Ärzten gebracht wird und dass viele durchaus bemüht sind, das negative Image durch mehr Menschlichkeit auszugleichen. Außerdem weiß ich aus eigener Erfahrung, dass eine zunehmende Zahl junger Ärzte in den Praxen viel intensiver auf den einzelnen Patienten eingeht, als das früher der Fall war, unter anderem auch, weil die Zahl der Patienten pro Arzt deutlich zurückgegangen ist und damit für den Einzelnen doch mehr Zeit zur Verfügung steht.

Dennoch boomt die Alternativmedizin, und wir müssen uns mit ihren Methoden auseinander setzen.

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.
271357 by Fontis-Shop - Issuu