Heidi Ulrich
auf den
Great Plains
Heidi Ulrich
Gefahr auf den Great Plains
Christliche Schriftenverbreitung
An der Schloßfabrik 30 42499 Hückeswagen
1. Auflage 2024
© by Christliche Schriftenverbreitung, Hückeswagen
Umschlag: Sarah Schulz / Jens Vogelsang
Satz und Layout: Christliche Schriftenverbreitung
Bilder im Innenteil: Sarah Schulz
Druck: BasseDruck, Hagen
ISBN 978-3-89287-679-3 www.csv-verlag.de
Für Sarah Schulz, die meine Vorliebe für den Wilden Westen teilt und deren
Bilder die Siedler-Serie so viel schöner machen!




Prolog

Die Planwagen hatten sich zu ihrem abendlichen Kreis aufgestellt. Kinder spielten Fangen darin, Pep bellte laut und kündigte so die Ankunft der Männer an, die auf die Jagd gegangen waren. Sie hatten zwei Antilopen erlegt und brachten ihre Beute ins Camp. Überall flammten Kochfeuer auf und schon bald lag der Duft von gebratenem Fleisch und Bohnen in der Luft. Die Sonne wanderte nach Westen und tauchte die Prärie in ein warmes, rotgoldenes Licht. Einige Farmer standen zusammen und diskutierten über irgendetwas, andere versorgten die Zugtiere oder überprüften das Zaumzeug auf schadhafte Stellen. Die Frauen bereiteten das Essen zu und unterhielten sich dabei mit ihren Nachbarinnen. Nur bei den Harveys ging es ruhig zu. Sie hatten sich dem Treck erst in Fort Kearny angeschlossen und bisher wenig Kontakt zu den anderen Mitreisenden gehabt. Statt das Essen zuzubereiten, hob Mrs Harvey eine Holzkiste von ihrem Planwagen und ließ sich damit im Schatten nieder. Sie öffnete die Kiste und holte eine Vase daraus hervor. Sanft glitt ihr Zeigefinger über das kühle, kunstvoll bemalte Porzellan. Sie legte die Vase vorsichtig neben sich auf den Boden, nahm einen Silberlöffel aus der Kiste und betrachtete ihn liebevoll. Dann legte sie ihn neben die Vase und griff nach einem Bilderrahmen.
„Das macht sie beinahe jeden Abend!“, flüsterte Laura ihrer Zwillingsschwester zu. „Immer holt sie die Sachen aus der Kiste, schaut sie an, und verstaut sie dann wieder.“
„Vielleicht hat sie Heimweh“, gab Lydiann leise zurück und rührte mit einem Holzlöffel durch den Topf mit den Bohnen. Sie musste dazu ihre linke Hand benutzen, da ihr rechter Arm in einem Gipsverband steckte. Plötzlich ertönte ein lauter Schrei. „Wasser!“, brüllte jemand, „Schnell einen Eimer mit Wasser!“
Laura, Lydiann und Mrs Harvey schauten erschrocken auf.
„Was ist denn los?“
„Tillie Maes Kleid hat Feuer gefangen! Sie stand zu nah an der Kochstelle!“
Wasser wurde über die arme Tillie Mae geschüttet und ein größerer Schaden dadurch verhindert. Trotzdem war das ganze Lager in Bewegung. Scheinbar jeder hatte einen Ratschlag, wie man eine Brandwunde am besten behandelte oder Rauchgeruch aus den Kleidern bekam. Die diskutierenden Männer hatten den Vorfall ebenfalls verfolgt und in der allgemeinen Aufregung bemerkte niemand, wie sich eine Gestalt aus der Gruppe löste und sich dem Wagen der Harveys näherte. Sie bückte sich, hob etwas auf und schob es in die Tasche. Als Mrs Harvey sich ihren Schätzen kurz darauf wieder zuwandte, war der Platz, wo der Silberlöffel gelegen hatte, leer.

Unheimliche Gewitternacht

Wyoming-Territorium,
Ende Mai 1868
Irgendetwas war anders als sonst. Peter Wagner konnte nicht sagen, was es war, dafür verstand er die Sprache der Indianer zu wenig. Aber er spürte, dass sich die Stimmung im Lager änderte. „Bald wird neuer Häuptling ernannt“, erklärte ihm Schneller Falke eines Abends in gebrochenem Englisch. „Aber wir sind nicht einig. Die einen wollen Listiger Fuchs, die anderen Springender Hirsch.“ Nach diesen Worten entfernte er sich rasch. Es wurde nicht gern gesehen, wenn er sich mit dem weißen Mann unterhielt. Peter war froh, dass Schneller Falke ihn trotzdem über die wichtigsten Vorgänge im Lager auf dem Laufenden hielt. Er fragte sich, für welchen der beiden Kandidaten Klagende Wölfin sich entscheiden würde. Aber die alte Squaw, die ihn zu ihrem Sohn machen wollte, zeigte sich ihm gegenüber in letzter Zeit sehr zurückhaltend und vermied es, länger in seiner Nähe zu sein. Es war so gut wie unmöglich, herauszufinden, was in ihr vorging. Ich möchte ja geduldig sein, Herr, aber es fällt mir wirklich schwer. Was hast du mit mir vor? Anna und Henry treffen bald in Fort Laramie ein. Ich hatte es mir so schön ausgemalt, sie dort in Empfang zu nehmen und Anna endlich wieder in den Armen zu halten. Stattdessen bin ich
ein Gefangener der Indianer und das schon seit mehreren Wochen!
Er bekam keine Antwort auf sein Gebet. Außer man zählte: Warte es einfach ab! dazu. Aber diese Antwort behagte ihm ganz und gar nicht.
Zwei Tage später stand er auf dem Hügel hinter der Hütte von Klagende Wölfin und schaute sehnsüchtig in Richtung Südosten. Irgendwo dort, mitten in der Prärie, stand sein Grassoden-Haus, das er eigenhändig gebaut hatte. Dort reifte sein Weizen heran, den er ausgesät hatte, kurz bevor er von den Indianern gekidnappt worden war. Peter stieß einen Seufzer aus. Ich möchte hier weg! Ich muss zu Hause dringend nach dem Rechten sehen! Hinter ihm, im Westen, ging die Sonne in einem grandiosen Farbenspiel aus Lila, Rosa und Orange unter. Doch er war nicht in der Stimmung, sich umzudrehen und den Anblick zu genießen. Ihn beschäftigte im Moment nur eins: Sollte er einen weiteren Fluchtversuch wagen? Dreimal hatte es nicht funktioniert und er versuchte seitdem wirklich auf Gottes Führung zu warten. Aber wenn so gar nichts passierte? War das vielleicht ein Zeichen dafür, dass er die Dinge doch selbst in die Hand nehmen sollte? Peter dachte an Abraham, dem Gott einen Sohn verheißen hatte. Insgesamt 25 Jahre musste Abraham warten, bis es endlich so weit war. Zwischendurch wurde er ungeduldig und befolgte den Rat seiner Frau Sara und nahm eine von ihren Mägden als Nebenfrau. Sie bekam tatsächlich einen Sohn von Abraham, aber es war nicht der verheißene Erbe. Abrahams eigenmächtiges Handeln sorgte dafür, dass es in seiner Familie Kummer und Probleme gab. Ich schätze, du möchtest, dass ich weiterhin abwarte, Herr. Bitte hilf mir, ge -
duldig zu sein! Bitte lass es nicht 25 Jahre dauern, bis ich Anna wiedersehe …
Hinter ihm bewegten sich plötzlich Zweige und wie aus dem Nichts stand Schneller Falke neben ihm. „Komm!“, flüsterte er. „Folge mir!“
„Wohin soll ich dir folgen? Weiß Klagende Wölfin Bescheid?“
„Psst! Niemand darf dich sehen! Folge mir!“ Schneller Falke machte eine auffordernde Handbewegung. Peters Herz klopfte heftig. War dies die Antwort auf seine Gebete?
„Schnell!“ Der Indianer ergriff seine Hand und zog ihn mit sich. Geduckt huschten beide Männer davon.

Die Sonne brannte heiß vom Himmel. Lydiann stellte ihren Eimer auf dem Prärieboden ab, bückte sich und hob ein Stück trockenen Büffeldung auf. Sie ließ es in ihren Eimer fallen, packte ihn wieder am Henkel und stapfte weiter. Einige Meter weiter wiederholte sie den Vorgang. Eimer abstellen, Büffeldung aufsammeln, Eimer wieder hochnehmen, weiterlaufen. Den ganzen Tag ging das so. Es war mühselig, wenn man nur einen brauchbaren Arm zur Verfügung hatte. Mittags hatte sie bereits eine Ladung in die Sammelkiste unter Pas Kutschbock ausgeleert, jetzt war sie dabei, den zweiten Eimer zu füllen. Die grün und grau, an einigen Stellen auch braun schimmernde Graslandschaft erstrecke
sich meilenweit um sie herum. Wie alle anderen Frauen und Kinder folgte sie der Staubwolke der Planwagen in gebührendem Abstand und sammelte dabei Brennmaterial für das abendliche Feuer. Das Gewicht des Eimers nahm mit jedem Stück Büffeldung zu. Den rechten Arm, der in einem Gipsverband steckte, hielt Lydiann eng an ihren Körper gepresst.
„Warum trägst du die Schlinge nicht?“, fragte Hester Sue, die näher kam. „Ist das nicht bequemer für deinen Arm?“
„Doch, schon. Aber wenn ich schwitze, dann scheuert es so im Nacken. Deshalb habe ich sie heute Mittag im Wagen gelassen.“
„Ach so.“ Hester Sue bückte sich und brach ein paar trockene Zweige von einem niedrigen Busch ab. „Ich bin auch nass geschwitzt. Ma sagt, heute Abend gibt es bestimmt ein Gewitter.“ Die beiden Mädchen stapften nebeneinanderher. Lydianns Beine fühlten sich müde und schwer an, obwohl es erst früher Nachmittag war.
„Hester Sue? Wo steckst du?“, ertönte plötzlich ein lauter Ruf.
„Das ist Ma!“ Hester Sue sah auf. „Bestimmt soll ich ihr Eddie eine Weile abnehmen. Hoffentlich schläft er schnell ein, er zappelt nämlich immer so, wenn man ihn auf dem Rücken trägt.“ Sie rannte zu ihrer Mutter hinüber.
Lydiann ging langsam weiter. Ihre Zwillingsschwester Laura nahm ihr seit dem Unfall viele Arbeiten ab. Aber heute hatte sie mit Mr Peterson zur Herde hinausreiten dürfen und deswegen hatte Lydiann das Sammeln des Brennmaterials übernommen. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass es ausgerechnet heute so heiß werden würde. Ihr rechter Arm juckte unter dem Gipsverband und ihr linker schmerzte von dem Gewicht des Eimers. Sie blieb stehen,
schob ihre Haube zurück und ließ den warmen Wind durch ihr verschwitztes blondes Haar wehen. Dann nahm sie ihren Eimer wieder auf und stapfte weiter.
Zwei Stunden später lichtete sich die Staubwolke vor ihr und sie konnte erkennen, dass sich die Planwagen zu einem großen Kreis formierten. Der Weg dorthin erschien ihr allerdings noch endlos weit. Alle anderen Frauen und Kinder hatten sie mittlerweile überholt. Nur Luke und Davy waren noch hinter ihr. Sie alberten herum und bewarfen sich mit Stücken von Büffeldung, statt sie in ihre Eimer zu sammeln. Lydiann befeuchtete ihre trockenen, von der Sonne aufgeplatzten Lippen mit der Zunge. Luke sah zu ihr hinüber, grinste und schleuderte ein Stück Büffelmist in ihre Richtung. Sie wich dem Geschoss aus, übersah dabei einen Stein und stürzte zu Boden. Sie stieß gegen ihren Eimer und sein Inhalt verteilte sich im Gras. Das hatte ihr jetzt wirklich noch gefehlt! Ich hasse diese Reise! Ich will zurück nach Iowa, zu Grandma und Tante Olivia!
„Was ist los, Lydie? Du kriechst heute wie eine Schnecke über die Prärie!“, rief Luke.
Lydiann rappelte sich auf und sammelte hastig die getrockneten Stücke Büffelmist wieder in ihren Eimer. Sie antwortete nicht. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Davy sich eilig auf den Weg in Richtung Camp machte. Wenn er zu spät bei Mrs Harper ankam, würde er Ärger bekommen. Luke dagegen rannte in ihre Richtung. Sie beeilte sich, ihren Eimer wieder vollzubekommen. Dann stand sie schnell auf und ging weiter.
„Ist alles in Ordnung?“ Luke erreichte sie atemlos. Offensichtlich hatte er ein schlechtes Gewissen, weil Lydiann sei-
netwegen zu Fall gekommen war. Sein dichtes, braunes Haar war vom Wind zerzaust und er hatte eine blutige Schramme an der Stirn. In einem Stück Büffeldung, das ihn getroffen hatte, war ein Stein gewesen.
Ohne aufzusehen, stapfte Lydiann weiter. „Ja“, antwortete sie. „Ich bin bloß gestolpert.“ Das Gewicht des Eimers zerrte an ihrem linken Arm. Sie wollte sich nicht mit Luke unterhalten, sie wollte nur noch das Camp erreichen.
„Wenn alles in Ordnung ist, warum läufst du dann an den größten Stücken Büffelmist vorbei und hebst sie nicht auf?
Dein Eimer ist doch noch gar nicht voll!“
„Das geht dich überhaupt nichts an!“ Lydiann hielt den Blick gesenkt und ging weiter, so schnell sie konnte. Luke lief neben ihr her. Plötzlich griff er nach dem Henkel ihres Eimers und versuchte, ihn ihr aus der Hand zu reißen.
„Lass das sein, Luke Peterson!“ Sie umfasste den Griff fester. Auch wenn sie erschöpft war, hieß das nicht, dass sie Luke ihr mühsam gesammeltes Brennmaterial überlassen würde. „Geh mir einfach aus dem Weg!“
Doch Luke ließ nicht locker. „Ich will dir den Eimer nicht wegnehmen, Lydie! Ich will ihn bloß für dich tragen. Glaubst du, ich merke es nicht, dass du kurz vorm Heulen bist?“
„Bin ich nicht! Es ist bloß …“
„Bist du wohl! Und jetzt gib ihn schon her!“ Luke entwand ihr den Eimer, stapfte davon und überließ Lydiann sich selbst.

„Mensch, Lydie!“ Laura zeigte staunend auf den Eimer mit Büffelmist. „Hast du so viel gesammelt? Der Eimer ist ja bis über den Rand voll!“ Es war später Nachmittag und Laura erschien erhitzt an ihrem Planwagen.
„Nein, ich habe ihn nur ungefähr bis hier gefüllt.“ Lydiann, die völlig erledigt auf der Erde saß, zeigte es ihr. „Der Rest ist von Luke.“
„Von … Luke?“ Lauras Augen wurden groß. „Was ist denn mit ihm los? War er etwa freundlich zu dir?“
„Naja, freundlich nicht unbedingt. Aber … ganz nett. Zumindest am Ende.“
Laura zog die Stirn kraus. „Er war nett, aber nicht freundlich? Das ist zu hoch für mich, Schwesterchen. Aber ist ja auch egal. Ich muss dir unbedingt von meinem Tag bei den Pferden erzählen. Stell dir vor, ich durfte sogar einmal auf Amber, der Stute von Joseph Green, reiten!“
Lydiann lauschte Lauras Bericht und beobachtete dabei Mrs Harvey, die ihren langen Rock zusammenraffte und in ihren Planwagen kletterte. „Seit ihr Silberlöffel gestohlen wurde, holt sie die Kiste nicht mehr heraus, sondern schaut sich den Inhalt im Wagen an“, flüsterte sie Laura zu, die ihre begeisterte Erzählung beendet hatte.
„Ist ja auch besser so!“, gab Laura leise zurück. „So eine Gemeinheit, die Aufregung um Tillie Mae für einen Diebstahl auszunutzen! Ich wünschte, ich hätte eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte! Aber ich habe niemanden bemerkt.“
„Ich leider auch nicht“, seufzte Lydiann. „Und dabei waren wir so nah dran! Ich mag den Gedanken nicht, dass jemand aus unserem Treck ein Dieb ist.“
„Nee, ich auch nicht.“ Vor Lauras Augen tauchte plötzlich das Bild des Schmuckdiebs aus Iowa auf, der steckbrieflich
gesucht wurde. Sie dachte an die Worte des Mannes in Dixon, die sie mitangehört und deren Sinn sie erst kürzlich verstanden hatte: „Könnte sein, dass sich die Elster im Treck niederlässt.“ Elstern waren diebische Vögel und der Mann hatte mit der Elster den Schmuckdieb gemeint. Er vermutete, dass er in ihrem Treck untergetaucht war. Laura fühlte ein unangenehmes Kribbeln, das über ihren Rücken lief. Nein, das kann nicht sein! Hier gibt es keinen Mann mit Glatze und stechenden Augen. Laura verdrängte den Gedanken und folgte Lydiann, die aufgestanden war, weil Ma zum Essen gerufen hatte. Sie nahmen ihre Abendmahlzeit gemeinsam mit Anna Wagner, ihrem inzwischen dreijährigen Sohn Henry und Miss Cassie ein. Die kleine Lottie war bereits gestillt worden und schlief in ihrem winzigen Bettchen im Planwagen. Nach dem Essen nahm Pa die Bibel zur Hand. „Warum schlägst du sie denn ganz am Anfang auf?“, wunderte sich Lydiann, die ihn beobachtete. „Wir lesen doch eigentlich gerade Geschichten vom Herrn Jesus aus den Evangelien.“
„Weil Ma und ich heute Neuigkeiten erfahren haben, zu denen die Geschichte von Abraham passt“, erklärte Pa.
„Was denn für Neuigkeiten?“, fragte Laura.
Ihre Eltern wechselten einen Blick. „Pa hat sich heute Mittag mit Colonel Myers unterhalten“, begann Ma schließlich. „Und dabei hat er erfahren, dass die Black Mountains, in denen wir siedeln wollten, als Reservat für die Indianer vorgesehen sind und dass dort keine Weißen wohnen dürfen.“
„Im August wird in Fort Laramie ein Treffen mit den Indianern stattfinden“, fuhr Pa fort. „Es wird ein neuer Vertrag abgeschlossen, in dem steht, in welchen Gebieten des Landes die Indianer in Zukunft leben werden und welche Hilfe
sie von der Regierung bekommen, da ihr Lebensraum durch die vielen Siedler kleiner wird. Und in diesem neuen Vertrag werden den Indianern die Black Mountains zugesprochen werden, da ist sich Colonel Myers ziemlich sicher. Die Berge haben eine besondere Bedeutung für die Indianer, sagte er. Und deshalb werden wir uns dort nicht niederlassen können, wie wir es geplant haben.“
„Und … wohin gehen wir dann?“
„Das wissen wir noch nicht. Und deshalb finde ich die Geschichte von Abraham auch so passend.“ Pa blätterte und las dann aus dem ersten Buch Mose den Anfang des zwölften Kapitels vor:
Und der HERR hatte zu Abram gesprochen: Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde. Und ich will dich zu einer großen Nation machen und dich segnen, und ich will deinen Namen groß machen; und du sollst ein Segen sein! ... Und Abram ging hin, wie der HERR zu ihm geredet hatte und Lot ging mit ihm; und Abram war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog. Und Abram nahm Sarai, seine Frau, und Lot, den Sohn seines Bruders, und alle ihre Habe, die sie erworben hatten… und sie zogen aus, um in das Land Kanaan zu gehen; und sie kamen in das Land Kanaan. Und Abram durchzog das Land bis zum Ort Sichem, bis zur Terebinthe Mores. Und die Kanaaniter waren damals im Land. Und der HERR erschien Abram und sprach: Deiner Nachkommenschaft will ich dieses Land geben. Und er baute dort dem HERRN, der ihm erschienen war, einen Altar.
Dann schlug Pa die Bibel noch ziemlich am Ende auf und las aus dem Brief an die Hebräer aus dem elften Kapitel: Durch Glauben war Abraham, als er gerufen wurde, gehorsam, auszuziehen an den Ort, den er zum Erbteil empfangen sollte; und er zog aus, ohne zu wissen, wohin er komme.
„Das passt wirklich gut!“, stellte Laura fest. „Aber es ist schon ein komisches Gefühl, dass wir jetzt überhaupt nicht wissen, wo wir hingehen sollen.“
Pa nickte. „Das ist ganz normal, dass uns das unruhig macht, Laura. Aber genau jetzt dürfen wir uns auf die Führung Gottes verlassen. Er wird uns zeigen, wo wir in Zukunft wohnen sollen. Er liebt uns und verliert uns nie aus dem Blick. Wie damals bei Abraham hat er einen Weg und einen Wohnort für uns, auch wenn wir keinen erkennen können.“
Er schaute Anna Wagner an. „Sie wissen auch etwas davon, nicht wahr?“
Die junge Frau nickte. Sie schob eine blonde Haarsträhne aus ihrem Gesicht und legte einen Arm um ihren kleinen Sohn. „Ich bin oft unruhig, weil ich so gar nichts von Peter höre. Ich frage mich, wo unser neuer Wohnort liegt und ob es richtig war, dass er bereits letztes Jahr in den Westen gereist ist. Aber dann bete ich und spüre, wie Ruhe in mein Herz einzieht und wie mir die Zusagen aus der Bibel Trost geben.“ Sie lächelte. „Und ich bin so froh, dass ich Sie und Ihre Familie kennengelernt habe und auch dich, Cassie! Dadurch fühle ich mich viel weniger alleine.“
„Und wir sind froh, dass Sie da sind mit Ihren beiden Kleinen!“ Ma lächelte die junge Frau ermutigend an. „Sie sind uns eine gute Freundin geworden, Anna!“
Sie unterhielten sich noch eine Weile, dann falteten alle die Hände und Pa sprach zum Abschluss des Tages ein Ge-
bet, in dem er ganz besonders um Gottes Führung für die Zukunft bat.
„Woher wusste Abraham wohl, in welche Richtung er gehen sollte, als Gott ihn gerufen hat?“, überlegte Laura, als sie neben ihrer Schwester auf ihrer Schlafpritsche im Planwagen lag. „Glaubst du, er hat auch so einen hellen Stern am Himmel gesehen, wie die weisen Männer aus dem Morgenland?“
„Ich weiß nicht.“ Lydiann gähnte, was ihre Schwester in der Dunkelheit jedoch nicht sehen konnte. „Pa hätte es bestimmt gesagt, wenn es in der Bibel stehen würde. Vielleicht … hat Gott viele Möglichkeiten, einem zu sagen, wohin die Reise gehen soll.“
„Ich bin gespannt, wie er es uns zeigt. Aber weißt du was, Lydie? Vielleicht ist es ja auch gut, dass wir nicht in den Black Mountains siedeln können, weil Luke und seine Familie dann nicht unsere Nachbarn werden. Wir können doch dafür beten, dass Gott uns einen Wohnort ganz weit weg von ihnen zeigt!“
„Mmhh …“
„Findest du nicht, dass das eine gute Idee ist, Lydie?“
Laura bekam keine Antwort. Die gleichmäßigen Atemzüge ihrer Schwester verrieten ihr, dass sie bereits eingeschlafen war.
