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Band 5/8: Das Rätsel um den Familienschatz
Leanne Lucas
Band 5 der Reihe »Abenteuer mit Addie und Nick«
Taschenbuch, 160 Seiten
Artikel-Nr.: 256487
ISBN / EAN: 978-3-86699-487-4
Addie und ihre Cousins sind mit dabei, als die ganze Verwandtschaft zu einem großen Familientreffen zusammenkommt. Beim Blick zurück in die Vergangenheit der Familie McCormick stoßen sie auf ein bisher nicht gelöstes Rätsel: Was wurde aus dem alten Familienschatz? Für wen war er bestimmt? Gibt es ihn überhaupt noch? Und wo ist er dann zu finden?
Addie und ihre Cousins lassen nicht locker und erleben wieder einmal ein spannendes Abenteuer mit einem überraschenden Ausgang. Für Jungen und Mädchen ab 10 Jahren
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Leanne Lucas
Das Rätsel um den Familienschatz
1. Auflage 2024 (CLV) (Die deutsche Ausgabe erschien erstmals 2002 im Verlag Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg.)
Übersetzung: Gabriele Erkens, Monheim Satz: EDV- und Typoservice Dörwald, Steinhagen Umschlag und Piktogramme: Lucian Binder, Marienheide Druck und Bindung: ARKA, Cieszyn, Polen
Artikel-Nr. 256487
ISBN 978-3-86699-487-4
9. November 1860
Liebe Winnie, was für eine Freude war es doch, den Frühling in diesem Jahr mit dir und deiner Tochter zu verleben. Wie doch die Zeit verfliegt! Jetzt steht schon wieder der Winter vor der Tür. Nun, ich bin sicher, dass meine süße kleine Namensvetterin mit jedem Tag größer und hübscher wird.
In Anbetracht der großen Ereignisse, die letzte Woche in unserem Land geschehen sind, möchte ich das beiliegende Geschenk zum Schatz der kleinen Addie hinzufügen. Es wird mehr als alles andere von großem Wert für sie sein.
Allerdings glaube ich nicht, dass hierin ein Omen für Addies Zukunft zu sehen ist. Ich bete vielmehr zum Herrn, dass sie nicht nur im Schatten großer Männer aufwachsen, sondern in deren Fußstapfen treten wird.
Gottes Segen für euch beide!
Alles Liebe
Addie W.
Winnie Johnson heiratete Harrison Haile im Jahre 1858 WJH
Tochter Adlon geboren 1859
Adlon Haile heiratete Randolph Kelley im Jahre 1876 AHK
Tochter Nolda geboren 1877
Nolda Kelley heiratete Samuel Elder im Jahre 1895 NKE
Tochter Adlon geboren 1897
Adlon Elder heiratete Theodore Powell im Jahre 1915 AEP
Tochter Londa geboren 1916
Londa Powell heiratete Edward Francis im Jahre 1934 LPF
Tochter Adlon geboren 1935
Adlon Francis heiratete Kenneth McCormick im Jahre 1953 AFM
Sohn Donal geboren 1955
Donal John McCormick heiratete Gwen Thompson im Jahre 1977
Tochter Adlon McCormick geboren 1981
Adlon Jane McCormick
Das Vermächtnis
Unruhig rutschte Addie McCormick auf ihrem Stuhl hin und her. Sie versuchte, sich auf Mrs Himmels Stimme zu konzentrieren, die im Hintergrund gedämpft über den Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten berichtete. Ihr Blick wanderte zum Fenster und sie seufzte.
Die Bäume im Schulgarten waren immer noch kahl, das Gras noch braun und die strahlende Sonne strafte das Thermometer Lügen, das immer noch Minusgrade anzeigte. Der Winter in Illinois konnte auch im März noch bitterkalt sein. Ihr Vater hatte schon gesagt, dass sie bestimmt noch einmal Schnee bekommen würden. Addie hoffte, dass er sich irrte. Womöglich würde die Reise zu ihrer Großmutter dann gestrichen … Die Reise! Addie konnte ihre Gedanken nicht davon lösen. Ihre Eltern hatten für die nächsten paar Tage einen Kurzurlaub geplant. Addie würde für drei Tage nicht zur Schule gehen, damit sie zusammen nach Wisconsin fahren konnten, um Großmutters sechzigsten Geburtstag zu feiern. All ihre Onkel und Tanten und Cousins würden dort sein. Sie konnte es
kaum erwarten, ihren »Zwillingscousin« Jake und ihre neueste Cousine Lindsey zu sehen und …
»Bist du derselben Meinung, Addie?« Mrs Himmels ruhige Stimme beendete ihren gedanklichen Ausflug nach Wisconsin und sie landete unsanft wieder im Klassenzimmer der sechsten Klasse. Alle ihre Klassenkameraden hatten sich umgedreht, sahen sie an und warteten auf ihre Antwort.
Addie schaute Hilfe suchend zu Nick Brady, ihrem besten Freund, der ihr ein stummes »Nein« signalisierte und ein Kopfschütteln andeutete.
»Äh nein, ich bin nicht der Meinung«, sagte sie zögernd. »Du scheinst dir nicht besonders sicher zu sein, Addie. Warum nicht?« Mrs Himmel schmunzelte.
Addie gab das Versteckspiel auf. Sie war schon immer eine schlechte Lügnerin gewesen. »Weil ich Nick Brady nicht über den Weg traue«, erklärte sie, und ihre Klassenkameraden brachen in schallendes Gelächter aus. Nick wurde knallrot, aber auch er grinste.
Mrs Himmel versuchte ernst zu bleiben, aber es gelang ihr nicht. »Das ist klug«, meinte sie. »Er hat dich nämlich hereingelegt. Ich denke, wir stimmen alle zu, dass Abraham Lincoln der sechzehnte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war.«
Addie war das Ganze nun so peinlich, dass sie die Hand vor ihre Augen hielt und auf ihrem Stuhl immer kleiner wurde. Durch das allgemeine Gelächter hörte sie
Mrs Himmels Stimme: »Ich werde noch einmal darüber hinwegsehen, dass du nicht aufgepasst hast, Addie. Ich
bin sicher, deine Geschichtskenntnisse kehren schlagartig zurück, wenn du erst einmal aus Wisconsin zurückgekehrt bist.«
Jetzt hörte man ein lautes Schellen, und das Gelächter versank in der allgemeinen Hektik des Aufbruchs. Die Kinder packten noch die Hausaufgabenblätter ein und holten abwechselnd Mäntel, Schals, Mützen und Handschuhe von der Garderobe hinten im Klassenzimmer. Die Kinder, die weiter entfernt wohnten, stellten sich als erste vor der Tür auf.
Nick trödelte ein bisschen und blieb an Addies Tisch stehen. Sie versuchte, ihren Freund wirklich böse anzuschauen, aber sein hartnäckiges Lächeln machte es ihr unmöglich.
»Ich zahl’s dir irgendwann heim, Nick«, prophezeite sie ihm gut gelaunt.
Nick rannte los. Über die Schulter rief er zurück: »Bring mir aus Wisconsin was mit, Addie. Etwas Teures!«
»Das hättest du wohl gerne!«, schoss Addie zurück, aber beide wussten, dass sie das sowieso tun würde, auch wenn es nicht teuer sein würde.
Addie beobachtete, wie die Busse sich immer mehr mit lauten lebhaften Kindern füllten, deren rote Wangen leuchteten. Normalerweise gehörte sie auch dazu. Nicks und ihre Familie waren Nachbarn. Beide Familien waren im vergangenen Sommer in diese Gegend gezogen. Ihre
Häuser standen inmitten von großen Weiden und Feldern. Ihre Freundschaft war aus der Not heraus entstanden, denn es wohnten keine anderen Kinder in ihrer Nähe. Doch dann hatten sie immer mehr Gemeinsamkeiten entdeckt. Sie hatten beide eine unerschöpfliche Fantasie. Was dem einen nicht einfiel, darauf kam bestimmt der andere.
Addies Eltern fuhren vor, und Addie nahm schnell ihre Tasche und lief an der Reihe der wartenden Kinder vorbei auf das Auto zu.
»Bis bald, Addie!«, rief Hillary Jackson ihr nach. Hillary war eine gute Freundin aus ihrer Kirchengemeinde. Addie winkte, als ein Chor von »Tschüss«- und »Mach’s gut!«-Rufen sie nach draußen begleitete, und sie konnte hören, wie Andy Meeker murmelte: »Wie hat sie das bloß geschafft? Drei Tage frei!«
Addie ließ sich auf den Rücksitz plumpsen und strahlte ihre Eltern an. »Lasst uns losfahren!«, rief sie. Ihr Vater lachte und hob beschwichtigend die Hand.
»Immer schön der Reihe nach«, sagte er. »Hast du alle Hausaufgaben?«
»Ja. Ich bin die Liste mit Mrs Himmel heute zweimal durchgegangen.«
»Bist du sicher, dass du heute Morgen alles eingepackt hast, was du mitnehmen möchtest?«, fragte ihre Mutter.
»Ja.« Addie nickte noch einmal. »Ich habe meinen Koffer gestern Abend viermal durchgesehen und heute Morgen noch zweimal.«
»Hast du den Einsiedlerkrebsen genug Futter gegeben?«
»Ja.«
»Deinen Lockenstab ausgestöpselt?«
»Ja!« Addie wurde ungeduldig.
»Aufgetankt und den Ölstand geprüft?«
»Dad!«
»Ach ja, das war mein Job, richtig?« Er lachte seine Frau an und Addie puffte von hinten gegen seinen Sitz. Sie liebte ihren Dad, aber manchmal ging ihr sein Humor auf die Nerven.
»Dann sind wir wohl fertig«, sagte er. »Beten wir noch?«
Addie lehnte sich zurück und schloss die Augen, während ihr Vater um Bewahrung auf der Fahrt nach Wisconsin betete. Er bat den Herrn, die Zeit dort zu segnen, und bat noch um besonderen Segen für ihre Großmutter.
Als Addie die Augen wieder öffnete, quietschte sie verblüfft. Hillary und Andy quetschten sich von außen mit weit offenem Mund gegen die Scheibe. Addie fing an, zu kichern und Mr McCormick kurbelte das Seitenfenster hinunter.
»Ihr habt Glück, dass das Auto schon angewärmt ist, sonst wären eure Lippen jetzt auf dem Weg nach Wisconsin!«, grinste er.
Andy und Hillary winkten noch, als die McCormicks vom Schulgelände fuhren, und Addie lehnte sich mit zufriedenem Lächeln zurück.
Die Fahrt nach Wisconsin dauerte fünf Stunden und die Zeit zog sich wie Kaugummi in die Länge. Addie las ungefähr eine Stunde lang, aber dann ging die Sonne langsam unter. Nach einer kurzen Pause zum Abendessen waren sie wieder auf der Straße, und Addie hörte Musik
auf ihrem MP3-Player. Noch zwei kurze Pausen, dann waren sie nur noch eine gute Stunde vom Reiseziel entfernt. Addie versuchte wach zu bleiben, aber die Dunkelheit und das monotone Motorengeräusch ließen ihre Augen langsam zufallen. Das Nächste, was sie wahrnahm, war ihre Mutter, die ihr aufs Knie klopfte.
»Addie, wach auf! Wir sind in Camp Point.«
Addie fuhr hoch. Hatte sie die Häuser verpasst? Nein. Sie entspannte sich und sah aus dem Fenster. Camp Point war eine mittelgroße alte Stadt, deren Einwohner schon immer sehr wohlhabend gewesen waren. Viele der Villen an der Straße waren vornehm und wunderschön. Addie liebte den Anblick, vor allem nachts. Wenn man Glück hatte und die Vorhänge offen waren, konnte man einen Blick auf wunderschön geschnitzte Treppenaufgänge, ausladende Kamine oder funkelnde Kristallleuchter erhaschen. Ihr Vater fuhr extra langsam und Addie spähte in jedes erleuchtete Fenster.
An dem steilen Hügel, der die Grenze am Nordende von Camp Point darstellte, gab es nur wenige Häuser, die die einsame Straße Butternut Lane säumten. Großmutters Haus war das letzte ganz oben auf dem Hügel. Es war ein wunderschönes altes Haus, eines der schönsten in der Stadt. Addie war froh, dass sie hier nicht von draußen durch die erleuchteten Fenster starren musste, während sie mit dem Auto daran vorbeifuhr.
Das Haus lag im Dunkeln, nur das Licht, das Großmutter immer am Kutschenhaus hängen ließ, leuchtete und zeigte ihnen den Weg nach hinten, wo sie immer den
Wagen abstellten. Ihr Vater fuhr langsam darauf zu und wie von Geisterhand öffnete sich das automatische Tor am Kutschenhaus, das jetzt als Garage diente. Alle drei McCormicks jauchzten, als sie hineinfuhren.
»Ich glaube es nicht!«, rief Addie. »Wir haben es diesmal geschafft, Onkel Denny zu schlagen!«
Immer wenn sich die Familie bei Großmutter traf, hatte derjenige, der zuerst eintraf, das Privileg, sich in die Garage neben Großmutters Lincoln zu stellen. Fast immer war Onkel Denny, der einzige Junggeselle in der Fa milie, als Erster da. Alle anderen mussten ihre Autos um das Kutschenhaus herum im Freien abstellen.
»Sie muss schon nach uns Ausschau gehalten haben«, meinte Mr McCormick. Er steuerte den Wagen durch das Tor und es schloss sich lautlos wieder. Addie war schon ausgestiegen noch ehe der Motor abgestellt war. Ihre Großmutter kam durch den angebauten Gang, der das Kutschenhaus mit dem Haupthaus verband, und Addie rannte ihr entgegen. Sie warf sich der alten Dame in die Arme, und die lachte über ihren Überschwang.
»O Addie, noch ein Jahr und du kannst das nicht mehr mit mir machen. Dann wirst du mich umwerfen. Lass dich ansehen!«
Großmutter hielt sie auf Armeslänge entfernt und betrachtete sie voller Stolz. Dann zog sie sie noch einmal in die Arme und drückte sie. »Kommt, lasst uns ins Haus gehen. Ich habe schon Wasser aufgesetzt für heiße Schokolade.«
Addies Vater hatte den Kofferraum geöffnet, um die
Koffer herauszuholen. Jetzt rief er den kalten Korridor hinunter: »Schon in Ordnung, Mutter, mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin nur der Chauffeur. Ich lade nur noch Addies Sachen aus, dann bin ich wieder weg.«
»Du bekommst deine Begrüßung hier drin im Warmen. Beeil dich!« Die ältere Mrs McCormick zwinkerte Addie zu und öffnete die Tür zu ihrer großen Wohnküche.
Großmutter hatte mal wieder die Farben verändert – alles war jetzt in Pfirsich gehalten – aber die Grundausstattung war die alte: viele helle Eichenschränke mit breiten Zierleisten um die Türen und ein astreicher Pinienholzboden, der von frischer Politur nur so glänzte. An den Wänden hingen allerlei Familienfotos, besonders viele von Addies Großvater. Dort hingen Briefe, die er während des zweiten Weltkrieges geschrieben hatte, sowie Bezugsscheine für Brot, Zucker und Gas. Addie wurde nicht müde, Großmutters Wände anzuschauen. Sie entdeckte jedes Mal etwas, das sie vorher noch nie bemerkt hatte.
Addies Eltern kamen jetzt herein und wurden herzlich begrüßt. Mr McCormick ließ die Koffer im Flur stehen und Großmutter holte für jeden Tasse und Untertasse heraus. Währenddessen erzählte sie ununterbrochen.
Addie nahm sich die Zeit, ihre Großmutter genau zu beobachten. Hatte sie sich im letzten halben Jahr verändert? Schließlich war sie jetzt schon sechzig oder wenigstens fast. Großvater war letztes Jahr mit sechsundsechzig Jahren gestorben. Addie glaubte nicht, dass sie es verkraften würde, beide zu verlieren.
Großmutter war eine schmale Frau und fast einen
Meter achtzig groß. Sie hatte trotz ihrer Größe eine aufrechte Haltung. Ihr ehemals schwarzes Haar war jetzt wunderschön silberfarben, modisch kurz geschnitten, und ihre klaren blauen Augen blitzten hinter der Brille, die ihr hin und wieder von der Nase zu rutschen pflegte. Leichtfüßig lief sie hin und her, während sie die Tassen füllte und Teelöffel aus der Schublade unter dem Tisch holte.
Addie lächelte in sich hinein, zufrieden, dass Großmutter immer noch die Alte war. Die alte Dame sah ihren Blick und ließ zwei dicke Marshmallows in ihre Tasse plumpsen, ehe sie sich schließlich auch setzte.
»Ich bin so dankbar, dass ihr als Erste gekommen seid. Ich wollte Addie ganz allein für mich haben, wenn ich ihr das Vermächtnis gebe.«
Addie verschluckte sich fast an dem ersten Schluck heißer Schokolade und sie begann zu husten. »Das Vermächtnis?«, brachte sie keuchend heraus.
Großmutter sah ihren Sohn überrascht an. »Hast du ihr noch nichts davon erzählt?«
Mr McCormick lächelte verlegen. »Die Fahrt hierher dauert fünf Stunden«, erklärte er. »Das ist schon lange genug. Wenn sie sich auch noch über das Vermächtnis den Kopf zerbrochen hätte, wäre ihr alles doppelt so lang erschienen.«
Großmutter nahm ihre Hand. »Nun, dann habe ich das ganze Vergnügen für mich allein. Das ist sogar noch besser.« Sie holte tief Luft und drückte Addies Hand ganz fest.
Addie bemühte sich, den Schauder froher Erwartung zu unterdrücken, der ihren Rücken hinaufkroch.
»Du weißt natürlich, dass du nach deiner Geburt meinen Namen bekommen hast. Adlon, oder eine Variation davon, war der Name, der in jeder Familie an eines der Kinder weitergegeben wurde. Das war seit dem Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten so.« Sie hielt einen Moment inne und Addie hielt unwillkürlich den Atem an. »Hast du dich jemals gefragt, woher dieser Brauch kam?«
Addie zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. Großmutter lachte. »Ich auch nicht, um ehrlich zu sein«, sagte sie mit verschwörerischem Flüstern.
»Jedenfalls nicht, bis mir meine Großmutter das hier gab.« Sie öffnete ein Schränkchen über ihrem Kopf und nahm ein kleines Holzkästchen heraus, auf dessen Deckel ein verschnörkeltes A eingeschnitzt war.
»Dieses Kästchen hat der ersten ›Addie‹ in unserer Familie gehört, deiner Ur-Ur-Ur-Ur-Großmutter.« Großmutter zählte geflissentlich die Urs an einer Hand, um sicherzugehen, dass sie alle nannte. »Es wurde von Generation zu Generation weitergereicht, von einer Addie zur nächsten. Jetzt gebe ich es dir. Ich dachte, dass mein sechzigster Geburtstag eine geeignete Gelegenheit sein würde, um das Vermächtnis weiterzugeben.«
Addie wusste nicht, was sie sagen sollte, und schluckte hart.
»Mach es auf, Schätzchen!«, ermunterte ihr Vater sie.
Addie streckte eine zitternde Hand aus. Das Kästchen ließ sich ganz leicht öffnen. Es war mit rotem Samt ausgekleidet, der am Boden und an den Kanten schon ziemlich abgestoßen war.
Der Inhalt war schlicht. Obenauf lag ein Brief, durch das Alter vergilbt. Das Papier war an den Kanten schon etwas eingerissen vom vielen Auf- und Zu falten während der letzten einhundertunddreißig Jahre. Die Schrift war verblasst; man konnte sie kaum noch entziffern.
Darunter lag ein Schlüssel, und Addie erkannte, dass es ein Universalschlüssel war. Miss Tisdale, eine Nachbarin zu Hause, hatte einen solchen Schlüssel, mit dem man jede beliebige Tür im Haus öffnen konnte.
Addie legte den Schlüssel auf den Tisch und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Brief zu. Ganz vorsichtig faltete sie das vergilbte, brüchige Blatt Papier auseinander. Die Schrift war schon so stark verblasst, dass Addie sich anstrengen musste, um die Worte entziffern zu können. Sie starrte einige Sekunden konzentriert auf das Papier.
»Addie, lies vor!«, verlangte ihr Vater und lachte gespannt.
Addie runzelte die Stirn und schüttelte ihren Kopf. »Ich werde es versuchen«, versprach sie.
»›Liebe Winnie, was für eine Freude war es doch …, den Frühling in diesem Jahr mit dir und deiner Tochter … zu verleben.‹ Was für eine Freude war es doch, den Frühling in diesem Jahr mit dir und deiner Tochter zu verleben«, wiederholte Addie.
»›Wie doch die Zeit verfliegt! Jetzt steht schon wieder der Winter vor der Tür. Nun, ich bin sicher, dass meine … meine … süße kleine Namensvetterin mit jedem Tag größer und hübscher wird.
In Anbetracht der großen Ereignisse, die letzte Woche in
unserem Land geschehen sind, möchte ich das beiliegende Geschenk zum Schatz der kleinen Addie hinzufügen. Es wird mehr als alles andere von großem Wert für sie sein.
Allerdings glaube ich nicht, dass hierin ein … Omen für
Addies Zukunft zu sehen ist. Ich bete vielmehr zum Herrn, dass sie nicht nur im Schatten großer Männer aufwachsen, sondern in deren Fußstapfen treten wird.
Gottes Segen für euch beide! Alles Liebe, Addie W.‹«
»Ist das hier der Schlüssel zu dem Schatz?«, fragte
Addie sofort, als sie den Brief zu Ende gelesen hatte.
Ein Brief, ein Universalschlüssel und ein verschwundener Schatz! Das war fast zu viel, um wahr zu sein, und Addie konnte ihre Großmutter nur mit offenem Mund anstarren. Großmutter lachte.
»Ich fange am besten von vorne an«, sagte sie. »Ich werde euch alles erzählen, was ich weiß, aber ich fürchte, es ist nicht sehr viel.«
»Dieser Brief hier«, bei diesen Worten tippte sie sacht auf das vergilbte Blatt, »spricht von einem Geschenk, das die Original-Addie ihrer Namensvetterin machte. Offensichtlich waren die Original-Addie und Winnie, deine UrUr-Ur-Ur-Ur-Großmutter, gute Freundinnen.«
»Offensichtlich sehr gute Freundinnen«, murmelte Addies Vater.
Großmutter verdrehte die Augen und ignorierte den Zwischenruf. »Könnt ihr mir folgen?«
Addie nickte. »Ich glaube schon. Die Original-Addie war nicht mit uns verwandt. Sie war eine gute Freundin
von meiner«, Addie verzichtete auf all die Urs und sagte schlicht: »Großmutter plus fünf.«
Ihr Vater lachte und Großmutter schmunzelte.
»Großmutter plus fünf nannte ihre kleine Tochter Addie nach ihrer besten Freundin«, fuhr Addie fort. »Richtig?«
»Richtig«, bestätigte Großmutter. »Und diese Addie gab den Namen weiter, indem sie ihr Baby Nolda nannte.«
»Nolda?« Addie krauste ihre Nase.
Großmutter nickte. »Adlon rückwärts buchstabiert. Londa war auch noch eine Variante, und Donal war meine Idee. Das ist Irisch, aber das wisst ihr natürlich.«
Mr McCormick hieß mit vollem Namen Donal John McCormick, aber sein Rufname war John. Großmutter hatte ihrem Erstgeborenen den Namen gegeben, falls sie keine Tochter bekommen sollte. Sie bekam keine, und so wurde der Name innerhalb der Familie über ihren ältesten
Sohn weitergegeben.
Großmutter runzelte die Stirn, denn jetzt musste sie sich sehr stark konzentrieren. »Wenn ich mich nicht irre, ist der Name Adlon von Generation zu Generation weitergegeben worden. Mal sehen, ob ich die Reihenfolge noch richtig im Kopf habe. Großmutter plus vier hieß Adlon. Großmutter plus drei bekam den Namen Nolda. Großmutter plus zwei war wieder eine Adlon. Großmutter plus eins war meine Mutter, Londa. Ich bin wieder eine Adlon, dein Vater ist Donal … und jetzt du.«
»In welchem Jahr wurde die erste Adlon geboren?«
Großmutter schloss die Augen und trommelte mit dem Zeigefinger sacht gegen ihre Stirn. Das tat sie immer, wenn sie sich an etwas erinnern wollte. »Vor dem Bürgerkrieg. 1858 oder 1859, ich bin mir nicht ganz sicher. Ich habe einen Familienstammbaum, auf dem es genau steht. Er ist in irgendeiner Kiste auf dem Speicher.«
Addie bewegte den schweren Schlüssel in ihrer Handfläche hin und her. »Hast du jemals versucht, das Schloss zu finden, zu dem der Schlüssel passt?«, fragte sie.
»Eigentlich nicht richtig«, antwortete ihre Großmutter. »Als meine Großmutter mir die Kiste gab, war ich eine junge Mutter, voll beschäftigt mit vier Jungs, alle unter sechs Jahren. Damals hat es mir nicht viel bedeutet. Ich weiß, dass sie darüber enttäuscht war. Jahre vergingen, ehe ich die Zeit hatte, unseren Namen bis zu Großmutter plus vier zurückzuverfolgen.« Sie lächelte.
»Ich schaffte es, die Ehenamen aller Beteiligten herauszubekommen und auch ihre Geburtsdaten«, fuhr Großmutter fort, »außerdem noch Einzelheiten über unsere Familiengeschichte. Aber die meisten Verwandten, die etwas über den Schlüssel hätten wissen können, sind schon verstorben.«
Großmutter lächelte ihre Enkelin liebevoll an. »Deshalb habe ich mich entschlossen, dir den Brief und den Schlüssel jetzt schon zu geben, während du noch jung bist. Ich habe einfach keine Energie mehr, selbst noch weiterzusuchen, aber ich verspreche dir jede Hilfe, die ich dir geben kann.«
Addie merkte, wie Begeisterung in ihr aufstieg, aber sie
zögerte: »Was könnte ich finden, das du nicht schon gefunden hast?«, fragte sie ihre Großmutter.
»Wie ich schon sagte, hatte jeder, mit dem ich sprach, ein Teilchen zu dem großen Puzzle beizutragen. Ich habe alle Informationen aufgeschrieben und die Unterlagen zusammen mit dem Stammbaum in einer kleinen schwarzen Schachtel auf dem Speicher verstaut. Ich bin sicher, dass ich irgendetwas übersehen habe, das dir weiterhelfen könnte. Hast du Interesse?«
»Nööö«, antwortete Addies Vater an ihrer Stelle. »Solche Sachen findet sie tödlich langweilig. Sie würde lieber nichts damit zu tun haben, stimmt’s, Spatz?«
Addie warf ein Marshmallow nach ihrem Vater, das dieser aber mit Leichtigkeit auffing und sich gleich in den Mund stopfte. Mit strahlenden Augen wandte sie sich ihrer Großmutter zu. »Ich fände es supertoll!«
»Schön«, lachte die alte Dame. »Morgen früh werden wir als Erstes auf dem Dachboden nach dem Kästchen mit all den Informationen suchen. Da oben liegen auch noch alle Fotoalben und sogar ein paar Tagebücher, die meine Mutter aufgehoben hatte …«
Sie sah Addies Gesichtsausdruck und unterbrach sich.
»Was ist los mit dir, Liebes?«
Das Strahlen war aus ihren Augen verschwunden. »Morgen?«
Addies Mutter musste lachen. »Liebling, es ist fast zehn Uhr. Zu spät, um noch den Dachboden zu durchsuchen.«
Großmutter sah die Enttäuschung auf Addies Gesicht und sagte verständnisvoll: »Wenn ich wüsste, wo die Kiste
steht, würde ich sie jetzt gleich holen, aber ich weiß es nicht.«
»Und wenn ich mit ihr nach oben gehe?«, bot ihr Vater an. »Wir sehen uns nur ein paar Minuten um«, versicherte er seiner Frau. »Außerdem haben wir Urlaub. Wen stört es, wenn sie morgen etwas länger schläft?«
Mrs McCormick musste lachen und gab sich kampflos geschlagen.
»Danke, Dad. Komm, wir laufen um die Wette!«
Mr McCormick sprang schnell auf, aber Addie war schon fast am Treppenaufgang und raste hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Sie war als Erste im zweiten Stock. Sie drehte sich kurz um, und schon rannte sie schnell die wenigen Stufen zum Dachgeschoss hinauf.
Einen Schritt vor ihrem Vater stieß sie die Tür zum Speicher auf und ließ sich schwer atmend auf ein altes Sofa plumpsen, das direkt neben der Tür stand. Eine Staubwolke nebelte sie ein. Sie griff hinter ihren Kopf, um das Licht anzuknipsen.
Mr McCormick, der nicht minder außer Atem war, setzte sich neben sie »Ich bin zu alt für so was«, keuchte er. Beide ruhten sich kurz aus, dann stand Addie auf.
»Wo sollen wir anfangen?«, fragte sie.
Ihr Vater lachte und breitete die Arme nach beiden Seiten aus. »Hier.« Addie verzog das Gesicht.
Großmutter war jemand, der nichts wegwerfen konnte. Überall standen Kisten und Kartons, Regale mit Kleidung, Möbel, mit staubigen weißen Tüchern abgedeckt, Teile von Maschinen, die Addie nicht kannte, Weidenkörbe, gefüllt
mit Einmachgläsern, Lampen ohne Schirm, ein Bettrost mit Matratze, eine Staffelei mit einer Palette voller eingetrockneter Farben – die Liste war endlos.
»Wir fangen hier an und arbeiten uns vorwärts«, schlug ihr Vater vor. Er zog von dem Karton neben dem Sofa den Deckel herunter und runzelte die Stirn.
»Was ist drin?«, wollte Addie wissen.
»Kleine Gläser mit Schraubdeckel«, antwortete er verdutzt.
»Du kennst doch Großmutter«, meinte Addie. »Man kann nie wissen, wann man sie mal braucht.« Sie imitierte die Stimme ihrer Großmutter täuschend echt. »Was ist da drin?«
Mr McCormick zog den Deckel vom nächsten Karton. »Noch mehr Kartons.«
»Ich habe genau den passenden Karton, um das einzupacken«, sagten beide gleichzeitig und brachen in schallendes Gelächter aus.
»Was macht ihr beiden denn hier oben?«, fragte eine barsche Stimme von der Tür her und Addie juchzte entzückt.
»Onkel Denny!« Sie lief, um ihren jüngsten Onkel mit einer Bären-Umarmung zu begrüßen, und er küsste sie auf den Scheitel. »Wir haben dich geschlagen!«
»Erinnere mich nicht daran, Peepunk!«, sagte er.
Peepunk war sein Kosename für Addie. »Ich hatte eine Reifenpanne, sonst hättet ihr das nicht geschafft.«
John McCormick umarmte seinen jüngsten Bruder. »Schön, dich zu sehen, Denny. Wie geht es dir so?«
Denny grinste. »Kommt mit hinunter, dann werde ich euch alles erzählen.«
John sah zu Addie hinüber. »Ich hatte Addie versprochen …«
»Geh ruhig, Dad«, beruhigte Addie ihn. »Ich glaube, ich weiß jetzt, was Großmutter meinte. Es ist besser, wenn sie morgen früh nach der Kiste sucht. Ich schau mich nur noch ein bisschen um und komme dann runter, okay?«
»Okay, Spatz.« Er zwinkerte ihr zu und tätschelte ihre Wange. »Bleib nicht so lang!« Die Stimmen verloren sich im Treppenhaus und Addie war allein.
Sie beschloss, die großen Kisten und Kartons nicht zu beachten. »Großmutter sagte, sie hat alles in eine kleine Kiste gepackt«, murmelte sie leise. Ungefähr die Hälfte der Kisten waren klein. Addie seufzte und begann mit dem Stapel, der ihr am nächsten war. Die ersten Kartons waren voller Schuhe, alle ziemlich altmodisch. Der nächste Stapel bestand aus Hutschachteln, und Addie hatte ihre helle Freude daran, breitkrempige Strohhüte, Pillbox-Hüte, Hüte mit Federn und Flanellhüte aufzusetzen. Alle waren alt, steif und rochen ein bisschen muffig, aber das störte Addie nicht.
Ihr Lieblingshut war aus dunkelblauem Samt mit einer breiten Krempe und langen Seidenbändern, die sie unter ihrem Kinn zu einer Schleife band. Hinten war eine große Straußenfeder mit noch mehr Seidenbändern, die ihren Rücken hinunterfielen. Sie behielt den Hut auf dem Kopf und öffnete den nächsten Karton.
Hier waren die Fotoalben! Addie war begeistert von ihrem Fund und grub sich fieberhaft durch die nächsten Kisten. Alles alte Fotoalben und Bilder. Wo waren diese Papiere? Es war logisch, dass Großmutter die Bilder und Papiere, die die Familie betrafen, in denselben Kisten aufbewahrte. Aber hier in der Ecke waren immer noch zehn oder fünfzehn Kartons, und sie wurde langsam müde.
Dann erweckte ein Schuhkarton, auf dem in schwungvollen Bleistiftbuchstaben OMA NOLDA geschrieben stand, ihre Aufmerksamkeit. Sie zog den Karton aus dem Stapel heraus und schaute hinein.
Obenauf lag ein sehr altes, sehr schlichtes schwarzes Lederbüchlein, auf dem das Wort Tagebuch noch schwach zu lesen war. Unter dem Tagebuch lag eine merkwürdige Sammlung verschiedenster Papiere. Sorgfältig gefaltete Briefbögen lagen zwischen Zeitungsartikeln mit handschriftlichen Bemerkungen an den Rändern. Manche Zettel waren wahllos aus Notizbüchern herausgerissen worden. Sogar einige Servietten mit Notizen darauf lagen dazwischen.
Addie hob das oberste Blatt hoch. Es war blassgelb, nicht größer als ein Lesezeichen und in zittriger Handschrift stand nur ein einziger Satz darauf: Meine Großmutter hat mir von ihrer ersten Begegnung mit einem Sklaven erzählt. NKE
»Das ist es!«, rief Addie laut. Sie stopfte den Zettel und das Tagebuch zurück in das Kästchen und klappte den Deckel zu.
»Großmutter! Großmutter!«, rief sie, während sie die
Stufen nur so hinunterflog, das Kästchen in der einen Hand, die Seidenbänder flatterten hinter ihr her. »Ich glaube, ich hab’s gefunden!«
Sie rannte mutig um die Ecke am Ende der Stufen zum Speicher. Der lose Baumwollteppich im Flur des zweiten Stockes rutschte unter ihr weg, und das Kästchen flog in hohem Bogen aus ihren Händen. Ohne Vorwarnung stürzte sie Hals über Kopf die nächsten Stufen hinunter und landete unsanft unten im Erdgeschoss. Großmutters Papiere segelten lautlos hinter ihr her.
Jacob und Daniel
Addie stöhnte leise. Sie konnte Stimmen hören, aber sie klangen verzerrt und weit entfernt. Sie öffnete die Augen oder dachte zumindest, sie würde sie öffnen, doch nichts veränderte sich. Sie sah nur weiße und graue Flecken, die um sie herumschwirrten.
»Addie?« Die Stimme ihres Vaters klang durch den Vorhang aus Geräuschen und sie stöhnte wieder leise.
»Liebling, kannst du mit mir sprechen?«
Addie atmete tief durch und schauderte. »Wow«, murmelte sie schwach.
»Vielen Dank, Herr!«, betete ihr Vater leise. »Okay, Spatz, beweg dich nicht zu hastig. Sag mir bitte, ob du deine Finger und Zehen bewegen kannst.«
Jetzt erst bemerkte Addie, dass sie wie ein fester kleiner Knoten zusammengekauert am Boden lag. Vorsichtig versuchte sie, ihre Arme und Beine auszustrecken.
»Ja, funktioniert noch alles«, murmelte sie schließlich.
Als sie ihre Augen wieder aufschlug, sah sie ihre Mom, ihre Großmutter, Onkel Denny und eine Frau, die sie noch
nicht kannte. Ihren Dad konnte sie nicht sehen, aber sie wusste, dass er hinter ihr war und über ihre Haare streichelte.
Die verschiedenen Köpfe schienen eine Zeit lang auf und ab zu schweben. Dann wurden sie langsamer und ließen sich schließlich auf den Schultern ihres jeweiligen Besitzers nieder. Addie blinzelte und lächelte ihre Mutter ein wenig schief an.
»Ach Schätzchen«, war alles, was ihre Mutter sagen konnte. Sie biss sich auf die Unterlippe und blinzelte die Tränen zurück.
»Sag mal, Peepunk, das war ja eine ziemliche Turnübung mit Salto Mortale und allem Pipapo!« Onkel Denny grinste angestrengt.
Die fremde Frau streckte die Hände aus und überprüfte Addies Arme und ihre Beine. Dann sah sie Addie direkt in die Augen und beobachtete sie ganz genau.
»Sind Sie Ärztin?«, fragte Addie.
Die hübsche junge Frau lächelte. »Ich bin Krankenschwester«, antwortete sie und sah von der Seite zu Onkel Denny.
Denny grinste wieder. »Gut, dass ich sie heiraten werde«, sagte er. »Schon jetzt ist sie sehr nützlich.«
Alle mussten lachen und Addie machte große Augen. »Heiraten?« Sie setzte sich vorsichtig auf.
»Tut dir dein Kopf weh?«, wollte die Frau wissen.
»Kannst du sagen, ob du an irgendeiner Stelle besonders hart aufgeschlagen bist?«
»Nein«, sagte Addie. »Mir war ziemlich schwindelig,
aber jetzt geht es schon wieder. Mein Kopf tut auch gar nicht weh. Aber das Knie hier«, sie zeigte auf ihr rechtes Knie, »und mein Handgelenk schmerzen. Ich glaube ich bin darauf gefallen.«
Ihr Vater nickte. »Stimmt, ich sah, wie du den Fall mit der Hand abgebremst hast«, bestätigte er.
»Nun, gebrochen ist nichts«, sagte die Krankenschwester. »Und eine Schwellung hat sie auch nicht. Wir müssen einfach abwarten. Wahrscheinlich bekommst du einige blaue Flecken, aber mehr nicht.«
»Müssen wir sie noch ins Krankenhaus bringen?«, fragte Addies Mutter.
»Nein«, meinte Onkel Dennys Verlobte. »Ihre Pupillen sind schon wieder normal und sie hat auch keine Beulen, über die wir besorgt sein müssten.«
»Mein Kopf ist in Ordnung«, wiederholte Addie. Sie hatte nicht die geringste Lust, zum Krankenhaus zu fahren. »Ich habe nur ein paar blaue Flecken. Das wird schon wieder. Danke«, meinte sie noch und lächelte die Krankenschwester an. »Ähm, wie heißen Sie?«
Onkel Denny lachte. »Das ist Linda Bedient, Peepunk, deine Fast-Tante.«
»Schön, Sie kennenzulernen«, sagte Addie leise. »Ich freue mich, eine neue Tante zu bekommen.«
»Danke«, antwortete Linda. »Ich freue mich auch schon darauf, eine Nichte zu haben. Besonders eine, die sich so gut anzieht!« Sie rückte den blauen Samthut gerade, der jetzt völlig schief auf Addies Kopf hing.
Alle lachten und Addies Vater half seiner Tochter beim
Aufstehen. Dann fiel Addies Blick auf die Sachen, die um sie herum verstreut lagen. Großmutters Karton lag leer da, das Tagebuch war unter ihr zerdrückt worden, und die Papiere lagen überall verstreut.
»O Großmutter, es tut mir so leid!«, rief sie.
Großmutters Gesicht war immer noch schreckensbleich, aber sie lächelte ihre Enkelin beruhigend an. »Nichts Schlimmes passiert, Schätzchen«, versicherte sie. »Denny und Linda helfen mir sicher, die Sachen aufzuheben. Ich denke, du gehörst jetzt ins Bett.« Sie gab Addie einen Kuss, drückte sie vorsichtig und schob alle drei McCormicks die Treppe hinauf.
Addies Mutter wich nicht von ihrer Seite, während sie ihr Nachthemd anzog und die Zähne putzte. Als sie unter die Bettdecke gekrabbelt war, setzten sich ihre Eltern auf die Bettkante. Ihr Vater dankte Gott, dass er Addie beschützt hatte, und bat darum, dass keine nachträglichen Schäden durch den Sturz auftreten würden.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Addie bei ihren Eltern, als sie zu Ende gebetet hatten. »Ich hätte besser aufpassen müssen.«
»Genau«, sagte ihr Vater, aber mit einem Zwinkern.
»Das ist auch ein Weg, aus Erfahrung zu lernen.«
»Die Erfahrung war ziemlich hart«, brummelte Addie. Ihr Knie und das rechte Handgelenk taten ihr weh, aber sie wollte jetzt nicht jammern. Sie gab ihren Eltern einen Gutenachtkuss und sie verließen das Zimmer. Aber es dauerte ziemlich lange, bis sie einschlafen konnte.
Als sie morgens aufwachte, strahlte die Sonne durchs
Fenster herein. Sie hörte unten im Erdgeschoss das Telefon klingeln und beim Geruch von Schinken und Rührei knurrte ihr der Magen. Ihre Mutter schaute ins Zimmer.
»Na endlich!«, lachte Mrs McCormick. »Großmutter wollte schon den Rest vom Schinken wieder in den Kühlschrank stellen.«
»Ich bin gleich unten«, rief Addie. Aber als sie sich bewegen wollte, tat ihr jeder einzelne Muskel weh, und sie sank stöhnend zurück in die Kissen.
»Schlimm?«, fragte ihre Mutter.
»Mhm«, war alles, was Addie antwortete. Wie konnte ich nur so etwas Blödes machen?, fragte sie sich. Aber von ein paar schmerzenden Muskeln lasse ich mich nicht aufhalten!
Nachdem sie sich eine Weile bewegt hatte, ließen die Schmerzen von selbst etwas nach. Aber Knie und Handgelenk taten ihr immer noch sehr weh, auch wenn sie sich bemühte, das zu verbergen. Sie brauchte länger als normal, um sich anzuziehen und die Treppe konnte sie auch nur humpelnd hinuntergehen.
Großmutter hatte eine Platte voller Rührei und gebratenem Schinken bereitgestellt. Addie trank einen Riesenschluck Orangensaft und verschlang zwei Scheiben Schinken, noch bevor sie auf dem Stuhl saß.
»Schmeckt super, Großmutter!«, stieß sie mit vollem Mund hervor.
»Addie!!«, rief ihre Mutter.
»Auch dir einen wunderschönen guten Morgen«, lachte Großmutter.
»Entschuldigung«, grinste Addie, »aber ich war halb tot vor Hunger.«
»Du siehst so aus, als ob es dir schon viel besser geht«, stellte Großmutter fest.
Addie nickte zustimmend. »Wer hat angerufen?«, wollte sie wissen. »Onkel Jim oder Onkel Lee?«
Großmutter biss sich auf die Lippe. »Onkel Lee«, antwortete sie schließlich. »Sie wollten zum Frühstück hier sein, aber sie kommen etwas später.«
Großmutters Tonfall verbat sich jede weitere Frage, aber Addies Vater stellte trotzdem eine – die eine, die alle auf dem Herzen hatten.
»Wieder Jacob und Daniel?«
Großmutter nickte nur.
Jake und Danny waren Onkel Lees Söhne. Sie waren nur achtzehn Monate auseinander, aber so grundverschieden, wie Jungen nur sein können. Danny war der Ältere, ein sportlicher, extrovertierter Junge, der mit Büchern und Lernen wenig im Sinn hatte, der aber trotzdem nie
Probleme in der Schule hatte. Er war ein Junge, den sein Vater verstehen konnte.
Ganz anders bei Jake. Er hatte überhaupt kein
Interesse an Sport, es sei denn, man würde Schach mit zu den Sportarten zählen. Er hatte einen unstillbaren Wissensdrang, stellte unentwegt Fragen und nahm Sachen auseinander. Er hatte einmal sechs Wochen damit zugebracht, einen Koffer zu entwerfen, der ein Ei schützen würde, wenn man es in dem Koffer aus dem sechzigsten Stock eines Hochhauses herunter auf den Boden
werfen würde. Es hatte funktioniert. Er hatte den Wettbewerb gewonnen, der von der ortsansässigen Universität unterstützt worden war. Hinterher hatte Onkel Lee Addies Vater davon erzählt. Für ihn war das Ganze nichts als Zeitverschwendung, und er machte sich ernsthafte Sorgen, wie sein jüngster Sohn in der »wirklichen Welt« bestehen würde.
Addie sah deutlich – und alle anderen in der Familie sahen es auch – dass Onkel Lee seinen älteren Sohn vorzog. Danny war ein netter Junge, und Addie liebte ihn, genau wie alle ihre Cousins, aber ihr Lieblingscousin war Jacob.
Zunächst einmal waren sie beide so etwas wie »Zwillinge«. Beide hatten am selben Tag Geburtstag mit nur einer Stunde Unterschied und an verschiedenen Orten. Doch war er das, was einem Bruder für Addie am Nächsten kam. Als sie älter wurden, begannen sie sich auch äußerlich immer ähnlicher zu werden. Sie hatten beide dickes schwarzes Haar und leuchtend blaue Augen, und die Leute dachten oft, sie seien Geschwister, und beide freuten sich darüber.
Wann immer die Familie zusammenkam, verbrachten sie jeden nur möglichen Augenblick zusammen. Addie hatte sich gefreut, Jacob so kurz nach Weihnachten schon wieder zu sehen, obwohl die Streitigkeiten zwischen Jacob und Daniel schon an den Feiertagen sehr hässliche Formen angenommen hatten. Seitdem waren die beiden zum Gesprächsthema der Familie geworden, denn die Kämpfe drohten außer Kontrolle zu geraten.
Addie behielt ihre Gedanken für sich. Ich werde Jake schon beschäftigt halten, während sie hier sind. Wenn mir jemand helfen kann, diesen Schatz zu finden, dann Jake.
»Sag mal, Großmutter«, fragte Addie zwischen zwei Bissen, »wo hast du den Brief und den Schlüssel hingelegt? Und den Karton mit den Papieren? Ich wollte heute Morgen anfangen, alles durchzusehen.«
»Hier«, antwortete Großmutter und griff nach einem Kasten, der auf der Mikrowelle stand. »Warum gehst du damit nicht in die Bibliothek? Dort kannst du alles ausbreiten, ohne jemandem im Weg zu sein. Alle anderen Zimmer werden nämlich anderweitig gebraucht.«
»Ist in Ordnung«, stimmte Addie zu. Sie beendete hastig ihr Frühstück, weil sie schon darauf brannte, endlich anzufangen.
Die Bibliothek war ein großer warmer Raum mit einem riesigen Sofa, Couchtisch und Schaukelstuhl, vielen Bücherregalen und zwei großen Schreibtischen. Addie entschied sich für Großvaters Schreibtisch, da der von Großmutter über und über voll war mit Büchern und Zeit schriften. Als sie sich hinter den Schreibtisch setzte, stiegen ihr plötzlich Tränen in die Augen. Es roch noch immer nach Großvater in diesem Zimmer. Sie vermisste ihn sehr, und plötzlich schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, wie viel mehr Großmutter ihn wohl vermissen musste.
Sie schob die antike Kiste mit dem Brief und dem Schlüssel auf die Seite. Dann nahm sie den Schuhkarton mit all den Papieren, stellte ihn vor sich hin und nahm
das Tagebuch heraus. Bei ihrem gestrigen Sturz war es so zerdrückt worden, dass die Seiten alle zerknittert waren und man die Buchdeckel nicht mehr zusammenklappen konnte. Sie versuchte so gut sie konnte, die Seiten wieder glatt zu streichen, dann steckte sie das Buch unter den dicken Brockhaus ihres Großvaters und hoffte, dass dieser sie vollends glätten würde.
Als Nächstes nahm sie den einfachen Familienstammbaum, den ihre Großmutter gezeichnet hatte, heraus. Jede von Addies Urgroßmüttern war mit Mädchennamen, Familiennamen und Geburtsdatum aufgeführt. Sie lehnte den Stammbaum gegen die Schreibtischlampe und nahm das erste Blatt heraus.
Mutter erinnert sich an Gespräche über den Schatz, als sie klein war. AEP
Wofür standen die Buchstaben AEP? Addie erinnerte sich, dass sie die Buchstaben auf der ersten Notiz schon einmal gesehen hatte, die sie im Dachgeschoss gelesen hatte. Ein kurzer Blick in den Schuhkarton zeigte, dass am Ende jeder Notiz eine Buchstabenkombination stand.
Initialen! Initialen der Leute, von denen Großmutter die Informationen bekommen hatte. Das musste –
Plötzlich knallte die Haustür mit solcher Wucht zu, dass Addie zusammenfuhr.
»Hör zu, du kleiner Wichtigtuer! Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich dein blödes Buch nicht gesehen habe. Was interessieren mich irgendwelche Wetterabläufe? Du hast es wahrscheinlich an der Raststätte liegen lassen. Und jetzt lass mich in Ruhe!«
»Mit Vergnügen! Ich wünschte, ich hätte dich an der Raststätte liegen lassen können!«
Jacob und Daniel waren angekommen.
Großmutters Gold
Jacob, bring deinen Koffer nach oben und bleib dort, bis du dich beruhigt hast! Daniel, in die Küche!« Onkel Lees Stimme donnerte durch das Haus. Addie beschloss, noch ein paar Minuten unsichtbar zu bleiben.
Sie setzte sich an Großmutters Schreibmaschine und tippte die Initialen neben den jeweiligen Namen im Stammbaum. Das würde es einfacher machen, die Buchstabenkombinationen in den einzelnen Notizen zuzuordnen. Sie konnte nicht besonders gut tippen, und deshalb dauerte es ein paar Minuten, bis sie die Arbeit beendet hatte.
Als sie fertig war, nahm sie das Blatt und huschte die Treppe hinauf zu dem Zimmer, das Jacob und Daniel immer bewohnten, wenn sie hier waren. Sie klopfte leise.
»Was ist?«, war die barsche Reaktion.
»Hi, Jake! Ich bin es.« Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte vorsichtig ins Zimmer.
Der kampflustige Ausdruck auf Jakes Gesicht verschwand augenblicklich, als er seine Lieblingscousine sah. Er legte einen Finger an die Lippen und winkte sie herein.
»Hi, Addie«, begrüßte er sie leise. »Lass dich bloß nicht hier drin erwischen. Dad wird dich beschuldigen, mit dem Feind zusammenzuarbeiten.«
»O Jake«, antwortete sie, »du bist doch kein Feind.«
»Erkläre das meinem Vater«, meinte er niedergeschlagen.
Addie hielt es für besser, das Thema zu wechseln. Sie reichte Jake den Familienstammbaum, und er betrachtete ihn interessiert.
»Was ist das hier?«, wollte er wissen.
»Die Namen von allen unseren Ur-Großmüttern seit dem Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten. Du wirst nicht glauben, was Großmutter mir geschenkt hat.«
In den nächsten Minuten gab Addie Jake eine detaillierte Beschreibung dessen, was alles am vergangenen Abend passiert war. Als sie bei der Stelle mit ihrem Sturz auf der Treppe kam, grinste er sie an.
»Ja, ja, immer schön grazil und elegant«, lachte er.
»Nein, im Ernst«, sagte sie. »Ich kann ja selbst kaum glauben, dass mir so etwas passieren konnte. Na ja, jedenfalls haben Großmutter, Onkel Denny und Linda – hast du Linda eigentlich schon kennengelernt? – alles aufgeräumt. Ich war gerade dabei alles durchzusehen, als ihr dann gekommen seid. Ich zeige dir alles, wenn du …«
»Wenn ich hier den Ausbruch schaffe, ja?«, beendete er ihren Satz in verschwörerischem Gangsterton.
Jake sah den Stammbaum jetzt mit neu erwachtem Interesse durch. »Nun, und was genau, denkst du, wirst du in Großmutters Aufzeichnungen entdecken?«
»Etwas, was mir sagt, zu welchem Schloss dieser Schlüssel gehört!«
Jake runzelte die Stirn. »Es wäre schön, zu wissen, was dieser Familienschatz überhaupt ist. Das könnte die Möglichkeiten, zu welchem Schloss der Schlüssel passt, nämlich schon einschränken.«
Das klang vernünftig. Was Jake sagte, war immer vernünftig. »Hilfst du mir?«, fragte Addie.
»Natürlich!« Jake lachte, aber nicht lange, denn man hörte jetzt Schritte auf der Treppe. »Zisch lieber ab, da kommt jemand.« Addie rutschte vom Bett und lief zur Tür. Ihr Zimmer lag genau gegenüber auf der anderen Seite des Flures.
Sie blieb einige Sekunden hinter der Tür stehen und trat dann gerade in dem Moment wieder aus dem Zimmer, als Onkel Lee oben am Treppenabsatz ankam.
»Hi, Onkel Lee«, sagte sie und umarmte ihn.
»Hi, kleine Wühlmaus«, antwortete er leise, »schön, dich zu sehen.«
»Freut mich auch«, gab sie zurück.
»Und wie geht’s Jake da drin?«, fragte er.
»Ihm geht’s gut …« – Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, da merkte sie, dass sie sich verplappert hatte.
Onkel Lee lächelte nur und zwinkerte ihr zu. »Geh mal nach unten, Tante Jenny möchte dich auch noch begrüßen.«
Nach wenigen Minuten kamen auch Lee und Jacob hi nunter ins Wohnzimmer. Jake ging sofort auf seinen Bruder zu.
»Tut mir leid«, sagte er kurz.
Daniel zuckte die Achseln. »Schon okay, mir auch.«
Alle, die im Zimmer waren, hörten die kurze Unterhaltung, taten aber so, als wären sie sehr beschäftigt. Mehrere laute Gespräche begannen gleichzeitig und Jacob setzte sich neben Addie auf das Sofa.
»Also, wo sind der Schlüssel und der Brief?«, wollte er wissen.
»In der Bibliothek. Komm mit«, sagte sie und ging voraus zum Hinterzimmer.
Jake zog einen Stuhl heran und setzte sich neben Addie vor Großmutters Schreibtisch. Schweigend las er den Brief mehrmals durch, dann schaute er auf.
»Ergibt das Ganze für dich einen Sinn?«, fragte er Addie.
»Nicht besonders.«
»Zuallererst«, meinte er, »wer ist Winnie?«
Addie zeigte auf den Namen, der ganz oben auf dem Blatt stand. »Die erste Frau in unserer Familie, die ihr Kind Addie genannt hat.« Sie erklärte Jake kurz das System mit den vielen Urs. »Ur plus vier, Winnies Tochter, wurde nach dieser Frau benannt.« Sie deutete auf den Namen am Ende des Briefes.
»Alles klar.« Jake studierte den Brief noch einmal genau. »Was meint sie mit ›großen Ereignissen, die letzte Woche in unserem Land geschehen sind‹?«, fragte er. »Der Schatz steht in Verbindung zu diesen Ereignissen.«
Addie überlegte, dann schnippte sie mit den Fingern. »Der Bürgerkrieg war …«
»Nein«, fiel Jake ihr ins Wort. »Der Krieg fing erst 1861 richtig an.« Er wandte sich wieder dem Brief zu. »Was bedeutet ›Omen‹?«
»Das ist so etwas wie ein Vorzeichen für kommende Dinge. Der Schatz ist keine Vorhersage, wie Addies Zukunft einmal aussehen wird.« Sie freute sich, wenigstens einmal eine von Jakes Fragen beantworten zu können.
»Also, das hört sich hier so an, als würde der Schatz Klein-Addie in den Schatten großer Männer stellen, aber die erwachsene Addie wünscht sich für sie eher, dass sie in deren Fußstapfen treten soll.« Jake lachte kurz auf und schob den Brief entnervt über den Schreibtisch. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, meinte er.
»Sag das nicht«, bat Addie. »Ich brauche wirklich deine Hilfe.«
»Na ja, mit diesem Brief sollten wir jedenfalls nicht anfangen«, sagte Jake.
Addie holte den ganzen Stapel Unterlagen aus dem Schuhkarton. Beide lasen die ersten drei oder vier Zeitungsartikel sehr sorgfältig. Sie suchten nach Quellenangaben und versuchten alles übersichtlich zu ordnen.
»So dauert das Ganze viel zu lange«, sagte Jake schließlich. »Pass auf, wir gehen folgendermaßen vor. Jeder nimmt sich einen Stapel Notizen und schaut sich die Ar tikel durch. Alles, was mit dem Schatz in Verbindung stehen könnte, sortieren wir aus und schauen es uns zusammen genauer an. Okay?«
Addie war einverstanden. Während der nächsten halben Stunde lasen sie beide schweigend. Am Ende lagen
drei Schriftstücke vor ihnen, in denen der Schatz direkt erwähnt wurde. Eines davon war das Blatt, das Addie schon morgens gefunden hatte. Mutter erinnert sich an Gespräche über den Schatz, als sie klein war. AEP. Auf dem anderen stand: Mamas Schatz hat das Feuer überstanden. NKE und Wir müssen den Schatz zurückbekommen. Das Feuer ist vorbei. NKE
Addie studierte den Familienstammbaum. »Also, AEP ist Adlon Elder Powell. Ihre Mutter erinnerte sich an Gespräche über einen Schatz, als sie klein war. Ihre Mutter ist NKE – Nolda Kelley Elder. Sie spricht von dem Feuer.« Sie sah Jake hilflos an. »Welches Feuer?«
Jacob zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«
»Warte mal!« Addie schaute noch einmal auf den Stammbaum. »Schau mal, AEP war Großmutters Großmutter. Vielleicht kann Großmutter sich an das Feuer erinnern. Los komm, wir fragen sie!«
Sie sausten in die Küche, wo das Mittagessen vorbereitet wurde. Großmutter und Onkel Denny zogen gerade den großen Tisch im Esszimmer aus und Addies Vater wartete, um das Tischtuch aufzulegen.
»Großmutter, schau dir das mal an!« Addie fuchtelte ihrer Großmutter mit dem Zeitungsausschnitt vor der Nase herum und ihr Vater warf ihr einen warnenden Blick zu.
»Warte, bis Großmutter fertig ist, Spatz«, meinte er.
»’Tschuldigung.« Addie sprang zurück und wartete, bis der Tisch die ganze Länge des Esszimmers ausfüllte. Dann fragte sie: »Kannst du dich an dieses Feuer erinnern, Großmutter?«
Großmutter sah sich das Papier genau an. »O ja«, meinte sie und schüttelte traurig den Kopf.
»Oma Nolda war meine Urgroßmutter. Als sie noch ein junges Mädchen war, brannte das ganze Haus ihrer Eltern bis auf die Grundmauern nieder. Sie konnten nur ein paar Dinge vor den Flammen retten.«
Großmutters Augen weiteten sich. »Das war über hundert Jahre her. Ist das nicht aufregend? Na ja, als ich anfing, mich für den Schatz zu interessieren, war Oma Nolda schon über achtzig und schon etwas verwirrt. Immer wenn ich sie nach dem Schatz fragte, wurde sie sehr aufgeregt und erzählte mir, dass der Schatz vor dem Feuer sicher sei, aber dass wir ihn zurückholen müssten. Niemand verstand, was sie damit meinte.«
»Du hast deine Urgroßmutter gekannt?« Jake konnte es kaum glauben.
Großmutter nickte. »Sie lebte länger als meine Mutter und meine Großmutter. Die Frauen in unserer Familie waren immer noch ziemlich jung, als sie Mutter wurden, und so war es für uns nicht ungewöhnlich, dass die lebende Verwandtschaft vier oder fünf Generationen umfasste.«
»Weißt du sonst noch irgendetwas über Oma Noldas Kindheit oder das Feuer?«
Großmutter schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ihr habt doch ihr Tagebuch. Warum sucht ihr nicht dort einmal?«
»Ach, ist das Noldas Tagebuch?«
Großmutter nickte.
»Komm, Jake.« Addie stürmte zur Tür, aber ihre Mutter bremste sie.
»Ihr könnt nach dem Mittagessen weitersuchen, Addie. Jemand muss noch den Tisch decken. Möchtest du das nicht mit Jake machen?«
Addie seufzte und nickte widerstrebend. »Für wie viele Personen?«
»Zehn«, antwortete Großmutter.
Jake und Addie deckten den Tisch in rekordverdächtiger Zeit. Beide hofften, schnell noch einmal in die Bibliothek zu kommen. Aber Tante Jenny und Großmutter folgten ihnen auf dem Fuß und stellten Schüsseln und Platten für das Mittagessen auf den Tisch, das gleich im Anschluss begann.
Die Mahlzeiten bei Großmutter waren immer toll. Bald hatten Addie und Jake ihren Eifer vergessen und schwatzten lachend mit dem Rest der Familie. Sogar Daniel war guter Laune. Er schien den Streit vom Vormittag unbedingt ausbügeln zu wollen.
»Habt ihr Lust, heute Nachmittag in die Stadt zu gehen und dort einen Film anzusehen?«, fragte er Jake und Addie.
Jake antwortete, bevor Addie einen Ton sagen konnte. »Nein danke. Addie und ich sind beschäftigt.«
»Vielleicht könnte Daniel uns helfen, die Papiere durchzuforsten«, schlug sie Jake vor, als sein Bruder gegangen war. »Ich glaube, du hast ihn verletzt.«
Jake rümpfte die Nase. »Du machst Witze. Den kratzt überhaupt nichts.«
Aber Onkel Lee war auch Addies Meinung. Als die beiden vom Tisch aufstanden und gehen wollten, sagte
er: »Das war Daniels Versuch, sich wieder mit dir zu vertragen. Kannst du ihm nicht wenigstens auf halbem Wege entgegenkommen?«
Jake war verblüfft: »Aber ich möchte nicht ins Kino gehen, Dad.«
Onkel Lee schüttelte nur den Kopf und winkte ihnen, dass sie gehen konnten.
»Was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?«, fragte Jake, als er mit Addie in der Bibliothek angekommen war. »Es ist völlig egal, was ich tue, es ist immer falsch. Ich geb’s einfach auf.«
»Vergessen wir das Ganze einfach eine Weile«, meinte Addie nur. »Willst du dir die Papiere noch einmal vornehmen und versuchen, Ordnung hineinzubringen? Ich schaue mir in der Zwischenzeit das Tagebuch von Oma Nolda an. Vielleicht finde ich ja etwas.«
Die nächste Stunde lasen beide schweigend. Hin und wieder schaute Jake auf und fragte »Was gefunden?« Die Antwort war jedes Mal Nein.
Aber Addie lernte eine Menge andere Dinge über ihre Ur-Ur-Großmutter. Das Tagebuch begann im Jahre 1888, als Nolda elf Jahre alt war. Sie war ein freimütiges junges Mädchen, das ihre Meinung zu einer Reihe von Themen ganz unverblümt zum Besten gab, angefangen beim neuesten Verehrer der Nachbarstochter bis hin zur Kleiderfarbe, die der Frau des Pfarrers am besten stand.
Sie hatte auch die Angewohnheit, inmitten ihrer längeren Ausführungen kleine Stoßgebete einzufügen über Dinge, die ihr offensichtlich gerade in den Sinn gekommen
waren. Diese Stellen waren in dicken Lettern geschrieben und unterstrichen. Addie las Jake ihre Lieblingsstelle vor: »›Mary Kates Sommersprossen nehmen in diesem Sommer wieder überhand. Sie ist ganz übersät davon. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum ihre Mutter ihr nicht beibringt, wie man sich mit so heller Haut im Sommer anzuziehen hat, vor allen Dingen, wenn man in die Sonne geht. Ich danke dir, Herr, dass du mich vor dem Fluch von Sommersprossen bewahrt hast. Bitte bewahre mir doch die klare Haut. Und bitte, Herr, wenn es dein Wille ist, bewahre doch auch Mary Kate.‹«
Jake bog sich vor Lachen angesichts des »Fluches von Sommersprossen«, dann bemerkte er auf einmal Addies Gesichtsausdruck. »Was ist los?«
»Hör dir das an!« Addies Stimme klang ganz rau vor lauter Aufregung.
»›Heute hat mir Mama ihre Schätze gezeigt und mir von Großmutters Gold erzählt. Sie sagt, sie hat auch Zeitungsausschnitte darüber, aber die können wir jetzt nicht finden. Mama muss unbedingt ordentlicher werden.‹«
Die Jagd beginnt
Als Großmutter den Tagebucheintrag las, funkelten ihre Augen. »Mamas Schatz und Großmutters Gold«, wiederholte sie mehrmals. »Ich wusste, du würdest es schaffen, Addie!«
»Großmutter«, protestierte Addie. »Wir haben doch überhaupt noch nichts gefunden.«
»Ihr seid weiter gekommen, als ich jemals war – an einem einzigen Tag.« Großmutter drückte ihre beiden Enkel kurz an sich und wandte sich dann wieder dem Tagebuch zu. »Ich wusste nie, dass auch Gold im Spiel ist!«
»Es hört sich aber nicht so an, als ob der Schatz und das Gold ein und dasselbe sind«, gab Addie zu bedenken. »Nolda sagt, dass der ›Schatz‹ Mama gehört, der ersten Adlon, und das Gold gehört Großmutter, deren Name Winnie Johnson Haile war.«
»Richtig«, meinte Großmutter gedankenverloren. »Würde mich interessieren, wo die Zeitungsausschnitte geblieben sind, von denen sie spricht.«
»Vielleicht geht es in diesen Artikeln um das Feuer«, überlegte Addie.
Großmutter schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Das Feuer war erst einige Jahre später. Nolda war schon verlobt und wollte heiraten. In den Artikeln muss es um das Gold gehen.«
»Ich habe mir alle Zeitungsausschnitte in dem Schuhkarton angesehen«, sagte Jake. »In keinem ist von Gold oder einem Schatz die Rede. Es sind alles Nachrufe.«
Addie schnitt eine Grimasse. »Warum heben die Leute Todesanzeigen und Nachrufe auf? Ich werde immer traurig, wenn ich lese, wie die Leute gestorben sind.«
Großmutter lächelte sanft. »So komisch es klingt, Herzchen, es ist nun mal ein Teil des Lebens. Und die Geschichte der Menschen aufzubewahren, die du geliebt hast, kann dir großen Trost geben. Aber«, Großmutter räusperte sich und kam wieder auf das Tagebuch zu sprechen, »was ist mit der Geschichte von dem Schatz und dem Gold? Gibt es eine Verbindung?«
»Und warum sollte es Zeitungsartikel darüber geben?«, ergänzte Jake noch. »Und wo könnten wir Kopien der Artikel herbekommen?«
Addie nahm Jake das Tagebuch aus der Hand. Oma Nolda hatte nicht jeden Tag hineingeschrieben und ein Datum hatte sie nur sporadisch hinzugefügt. Addie blätterte zurück zu den ersten Seiten und suchte nach der letzten Datumsangabe in der Nähe der Stelle, an der vom Schatz die Rede war.
»7. Juli 1899«, sagte sie. »Vielleicht könnten wir in der Bücherei vorbeigehen und die Lokalzeitungen des Jahres 1899 durchsehen.«
»Ihr solltet aber zuerst eure Eltern fragen«, erinnerte Großmutter sie.
Ihre Eltern hatten nichts dagegen und Onkel Denny schlug vor, sie mit in die Stadt zu nehmen und an der Bücherei abzusetzen. Er und Linda wollten mit Daniel ins Kino gehen.
Die Bücherei war ein riesengroßes altes Backsteingebäude. Das Innere war aber sehr modern eingerichtet. Dicke Teppichböden dämpften die Schritte, und die Bibliothekarin saß hinter ihrer Theke auf einem kleinen Podest in der Mitte des großen offenen Raumes. Es wirkte ein bisschen wie ein Boot, das auf einem Meer von Büchern schwimmt.
Addie und Jake gingen zu der jungen Bibliothekarin und trugen ihr Anliegen vor. Die junge Frau zeigte großes Interesse.
»Ich hoffe, ich kann euch helfen«, sagte sie. »Wir haben das alte Zeitungsmaterial auf Mikrofilm im Archiv. Die Archive sind im Keller.« Sie zeigte auf eine unscheinbare Tür mit der Aufschrift TREPPENHAUS. »Dort unten ist auch eine Bibliotheksangestellte, aber da nicht viele Besucher nach unten kommen, könnte es sein, dass ihr sie suchen müsst.«
Addie und Jake rannten die Treppe hinunter durch eine Tür, die durch einen Karton offengehalten wurde. Hier im Keller war es viel dunkler, weil es keine Fenster gab, aber
trotzdem war alles gut beleuchtet und voller Bücher. Vorn am Schreibtisch saß niemand, und so gingen die Kinder durch verschiedene Gänge, auf der Suche nach der Bibliotheksangestellten.
Hier unten in den Archiven schien niemand zu sein und die Stille wurde langsam unheimlich. Addie kicherte nervös.
»Wahrscheinlich sind wir die einzigen Kunden in diesem Jahrzehnt«, flüsterte Jake. »Vielleicht ist sie schon vor Jahren abgehauen und alle anderen denken, sie ist noch hier unten und arbeitet.«
»Kann ich euch helfen?« Die klare leise Stimme schien aus dem Nichts zu kommen und ließ Addie und Jake zusammenfahren. Sie drehten sich um und standen einer sehr hübschen jungen Frau gegenüber, die sie amüsiert anschaute.
»Äh, Entschuldigung«, murmelte Jake verlegen. »Wir waren uns nicht sicher, ob hier unten jemand ist.«
»Nun, ich bin hier«, lächelte sie. »Wie kann ich euch helfen?«
Addie erklärte das Projekt, an dem sie arbeiteten, und die junge Frau – ihr Name war Joanna – war sofort Feuer und Flamme.
»Was für eine faszinierende Familiengeschichte!«, rief sie. »Ich bin ganz sicher, dass wir Kopien von dieser Zeitung aus dem entsprechenden Jahr haben – alles auf Mikrofilm.«
Kurze Zeit später hatte sie Addie und Jake dazu gebracht, vor einem alten Mikrofilm-Sichtgerät Platz zu
nehmen. Sie brachte alle Filme des entsprechenden Jahres und zeigte ihnen, wie sie sie einlegen mussten.
Die beiden begannen mit dem 1. Januar, sahen sich jede einzelne Seite der Zeitung an und durchsuchten die Schlagzeilen nach einem Hinweis auf das Gold oder Winnie Johnson Haile. Die ganze Sache war sehr mühsam. Als sie die letzte Ausgabe für den Monat Januar durchgesehen hatten, war schon über eine Stunde vergangen.
»So funktioniert das nicht«, meinte Jake schließlich total entmutigt.
Addie schaltete den Projektor aus und rieb sich die schmerzenden Augen. »Der Meinung bin ich auch.«
»Wir brauchen genauere Informationen, etwas Bestimmtes, nach dem wir suchen können«, sagte Jake.
»Wir müssen uns das Tagebuch noch einmal vornehmen und sehen, ob Nolda uns genauere Informationen über die Zeitungsausschnitte geben kann.«
Sie sahen einem älteren Mann zu, der mit einem Putzwagen aus einem Nebenraum am anderen Ende kam.
Joanna ging zu ihm und gemeinsam verstauten sie den kleinen Wagen in der Putzkammer. Der Mann nahm seinen Mantel, und Joanna wünschte ihm einen guten Abend.
Addie versuchte, mit Kopfkreisen ihre Nackenschmerzen zu beseitigen. »Wahrscheinlich hätten wir das zuallererst tun sollen. Ich werde mich schwarzärgern, wenn ich lese, dass Nolda am nächsten Tag die Ausschnitte gefunden hat.«
Sie räumten alle Filme zusammen und brachten sie wieder ins Regal. Auch Joanna war enttäuscht.
»Ich hatte wirklich gehofft, dass ihr das, was ihr sucht, auch finden würdet«, sagte sie bedauernd.
Jake lachte. »Wir wissen nicht einmal genau, wonach wir eigentlich suchen.«
»Nun, wenn ihr Genaueres wisst, dann kommt wieder. Ich würde euch wirklich gern helfen.«
Die Kinder schmökerten noch bis fünf Uhr in der Abteilung für Jugendbücher. Dann trafen sie in einem Eiscafé Denny, Linda und Daniel. Daniel aß eine Riesenportion Vanilleeis mit Schokoladensoße.
»Na, Sherlock, was für Indizien habt ihr beiden Spürnasen denn in Sachen Familienschatz aufgetrieben?«
Daniel senkte bei den letzten drei Wörtern verschwörerisch seine Stimme und Jake runzelte die Stirn.
»Wir haben gar nichts gefunden«, brummte er kurz.
»Ihr hättet mit ins Kino kommen sollen, wie ich vorgeschlagen hatte«, gab Daniel zurück. »Ihr habt den ganzen Nachmittag in der Bibliothek vergeudet.«
»Ja, genau«, erwiderte Jake sarkastisch. »Die Bibliothek ist total verschwendete Zeit. Ich wünschte, ich hätte den Nachmittag mit einem bösen außerirdischen Asteroiden verbracht, dem nach und nach alle seine Gummigliedmaßen weggepustet werden. Das wäre sehr aufschlussreich gewesen.«
Daniels Augen wurden schmal und er funkelte seinen jüngeren Bruder an. »Onkel Denny hat es gefallen«, sagte er.
Jake warf seinem Onkel einen schnellen Seitenblick zu und biss sich auf die Lippe, um nichts zu erwidern.
»Zieht mich nicht in eure Streitereien hinein. Wir reden über was anderes, okay?«
Beide nickten.
»Möchte einer von euch auch ein Eis?«, fragte Linda.
Addie wollte gern ein kleines Eis, aber Jake hatte keinen Hunger. Die Heimfahrt verlief sehr ruhig.
Als sie in die Küche kamen, bereitete Großmutter gerade die Suppe für das Abendessen vor. Sie sah auf. »Glück gehabt?«
Addie schüttelte den Kopf.
»Wie war es im Kino?«, fragte Onkel Lee seinen ältesten Sohn.
Daniel fixierte Jake und sagte: »Aufschlussreich« und verließ den Raum.
Zum Abendessen gab es Gemüsesuppe und Großmutters selbst gebackenes Brot. Addie aß fast immer zu viel davon und der heutige Abend war keine Ausnahme. Sie tunkte große Stücke davon in ihre Suppe und als Nachtisch gab es noch eine Scheibe mit Brombeergelee. Sie war die Letzte, die fertig wurde, und das bedeutete, dass es ihre Aufgabe war, den Tisch abzuräumen. Sie machte sich nichts daraus. Großmutters Brot war es wert.
Nachdem der Abwasch erledigt war, schlug Onkel Denny vor, Scharade zu spielen. Sie saßen alle im Wohnzimmer und es wurden Titel von bekannten Filmen oder Büchern oder berühmte Namen und Orte vorgespielt. Daniel war nicht besonders gut bei diesem Spiel und so verließ er das Zimmer relativ früh.
Jake entschuldigte sich wenig später. Addie dachte sich
nichts dabei, bis sie laute Stimmen hörte. Sie kamen aus der Bibliothek. Onkel Lee hörte die Stimmen auch und schloss müde die Augen. Dann stand er auf und ging hi nunter ans andere Ende des Hauses.
Alle schwiegen, während der Streit immer lauter wurde.
»Er wühlt in Addies Sachen herum!«, hörte man Jakes Stimme. »Damit hat er überhaupt nichts zu schaffen!«
»He, ich gehöre auch zur Familie. Ich wollte nur mal sehen, was es mit diesem ganzen Geheimniskram auf sich hat. Was ist daran falsch?«
Die Tür der Bibliothek wurde geschlossen und die Stimmen wurden leiser. Die Scharade ging weiter, aber keiner war mehr so recht bei der Sache. Als Addie schließlich den Film »Vom Winde verweht« erraten hatte, hörten sie auf. Jemand schaltete den Fernseher an, und Großmutter, Tante Jenny und Addies Mama gingen in die Küche, um Kaffee zu holen. Denny und Linda gingen hinüber zum Klavier, und Linda spielte, während Denny und Addies Vater alte Lieder sangen. Normalerweise hätte Addie gerne mitgesungen, aber heute Abend legte sie sich auf die Couch und schloss die Augen. Sie hörte einfach nur zu.
Onkel Lee kam wieder ins Zimmer. »Jake wünscht dir eine gute Nacht«, flüsterte er Addie zu. »Er und Daniel gehen heute früh zu Bett.«
»Danke«, flüsterte sie zurück. Er wandte sich ab, aber Addie zupfte ihn noch einmal am Arm und er sah sie an. »Onkel Lee, es macht mir nichts aus, wenn Daniel sich Großmutters Papiere anschaut. Es ist auch sein Familienschatz – genauso wie meiner.«
Onkel Lee strich ihr übers Haar. »Danke, Liebes. Aber das Problem sind eigentlich nicht Großmutters Papiere.«
Addie nickte. »Ich weiß.«
Onkel Lee gesellte sich zu seinen Brüdern und sein kräftiger Bass passte gut zu ihren Stimmen. Sie sangen sehr harmonisch zusammen und es wurde eine stille Kameradschaft zwischen den dreien spürbar, die weit über die Worte hinausging, die sie sangen.
Addies Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. Wodurch waren die Brüder nur so zusammengewachsen? Und warum konnte das bei Jacob und Daniel nicht genauso sein?
Sie stand auf und ging hinüber zu ihrem Vater, um ihm einen Gutenachtkuss zu geben. Dann steckte sie den Kopf durch die Küchentür.
»Ich gehe ins Bett, Mom«, rief sie.
»Ich komme gleich noch kurz rauf, Schätzchen«, antwortete ihre Mutter.
Addie ging noch einmal in die Bibliothek, um Oma Noldas Tagebuch zu holen, ehe sie hinaufging. Sie zog ihren Schlafanzug an, putzte sich die Zähne und krabbelte dann mit dem Tagebuch ins Bett. Ihre Mutter kam und betete noch mit ihr. Sie schien wie immer genau zu wissen, was Addie auf dem Herzen hatte.
»Herr«, betete sie, »wir möchten heute für Jacob und Daniel bitten. Vater, sie sind so verschieden, aber beide sind in deinen Augen wertvoll. Ich bitte dich darum, dass sie schon in jungen Jahren über ihre Verschiedenheit
hinwegsehen können und lernen, die Stärken des anderen zu schätzen.
Und, Herr, wenn es dein Wille ist, gib bitte Addie die Weisheit und Einsicht, die sie benötigt, um zwischen den beiden einen Puffer zu bilden. Zeige ihr Möglichkeiten, sie einander näherzubringen. Es ist viel, was wir erbitten, aber du bist der allmächtige Gott. Wir danken dir für deine Fürsorge in all unseren Nöten. Segne bitte Addie mit gutem Schlaf. In Jesu Namen, Amen.«
Addie küsste ihre Mutter. Sie war zu müde, um noch in dem Tagebuch zu lesen, also legte sie es auf ihren Nachtschrank und knipste das Licht aus.
Ein Puffer zwischen den beiden, hm?, dachte sie schläfrig. Hört sich nicht besonders angenehm an.
Der Goldrausch
Addie brachte das Tagebuch mit, als sie am Donnerstagmorgen zum Frühstück herunterkam. Jake saß schon am Tisch und aß. Großmutter stellte eine Platte mit französischem Toast auf den Tisch, und Addie nahm sich gleich drei Scheiben. Jake nahm auch noch zwei, goss reichlich Ahornsirup darüber und gab dann den Sirup an Addie weiter.
»Also, wo fangen wir heute Morgen an?«, fragte er und sparte sich den Gruß.
»Warum fangt ihr nicht damit an, dass ihr schon ein paar von euren Hausaufgaben erledigt?«, schlug Onkel Lee vor.
Addies Mutter, die gerade Geschirr abwusch, hörte seinen Vorschlag. »Gute Idee«, bekräftigte sie. »Ich weiß, dass Addie eine ganze Menge aufhat.«
Addie und Jake sahen sich verzweifelt an, aber keiner sagte ein Wort. Als sie mit dem Frühstück fertig waren, trugen sie beide ihre Teller zur Spüle, suchten ihre Bücher zusammen und zogen sich in die Bibliothek zurück.
Addie setzte sich an Großmutters Schreibtisch und arbeitete an einigen Mathematikaufgaben, während Jake es sich im Schaukelstuhl mit seinem Buch über Wetterabläufe bequem machte. Ein paar Minuten später kam noch Daniel dazu, der es sich mit einem Geschichtsbuch auf dem Sofa bequem machte. Er warf einen Blick auf das Buch, in dem Jake gerade las, sagte aber nichts.
Während der nächsten Stunde arbeiteten oder lasen alle Kinder schweigend. Die einzigen Geräusche, die man gelegentlich hörte, kamen aus der Küche, wo ein Topf oder eine Pfanne weggestellt wurde. Addie war fast fertig mit ihren Mathematikaufgaben, als sie bei einem Blick aus dem Fenster Onkel Jims Wagen vorfahren sah. Ehe der Wagen noch vollständig zum Stehen gekommen war, öffnete sich die Seitentür und drei kleine Körper purzelten heraus.
»So viel zum Thema Ruhe und Frieden«, murmelte Daniel und grinste. Addie und Jake klappten ihre Bücher zu und die drei gingen zusammen zur Haustür, um ihre drei jüngeren Cousins zu begrüßen.
Onkel Jim kam als letzter der vier Brüder bei Großmutter an. Er und Tante Bev hatten vier Kinder – Christopher war acht, Abraham war vier, Evan drei und die kleine Lindsey war noch nicht ganz zwei Monate. Die drei Jungen waren sehr gut erzogene Kinder, aber alle wussten, dass Tante Bev völlig aus dem Häuschen war, jetzt noch ein kleines Mädchen zu haben.
Abraham war Addies besonderer Freund und er durchsuchte das Meer der vertrauten Gesichter, bis er
ihres fand, dann tauchte er in einem Dschungel aus Beinen unter und kam an ihrer Seite wieder zum Vorschein.
»Heb mich hoch, Addie«, kommandierte er, und sie gehorchte augenblicklich. Als Dank bekam sie einen nassen Kuss auf die Wange, der nach Kartoffelchips roch.
»Abe«, sagte sie lachend, »hast du Chips gegessen?«
Sein Strahlen bestätigte ihren Verdacht und er flüsterte laut: »Frühstück!«
Tante Bev wurde rot, aber sie hob nur die Schultern. »Wir sind heute Morgen so früh losgefahren. So früh wollte keiner etwas essen. Ich dachte, wir würden vor dem Frühstück hier sein. Leider klappte das nicht und Abe und Evan wurden quengelig. Also durften sie die Chips essen. Ich dachte, es würde sie schon nicht umbringen.«
Tante Bev hatte eine sehr großzügige Einstellung, was Ernährungsfragen bei Kindern anging, und Addie merkte, dass ein Anflug von Neid in ihr aufstieg. Chips zum Frühstück hätten ihre Mutter in eine mittlere Krise gestürzt.
Großmutter nahm Onkel Jim die kleine Lindsey ab. Angesichts dieses neuesten Familienmitgliedes brach die restliche Familie nun in Bewunderung aus. Dann begaben sich die Erwachsenen wieder in die Küche, um noch eine Tasse Kaffee zu trinken. Bald standen nur noch die Kinder in der Diele.
»Was machst’n so, Addie?«, fragte Abe.
»Wir lösen gerade ein Geheimnis, Abe«, antwortete sie ihm. »Möchtest du helfen?«
»Uuh ja!«, krähte der Kleine begeistert.
»Ich auch«, meldete sich Christopher zu Wort und warf
einen finsteren Blick auf seinen kleinen Bruder. »Ich bin größer. Ich kann viel besser helfen als du.«
»Eban auch«, bestimmte der Kleinste und zog an Addies Hosenbein.
Jacob schnappte sich den Kleinen schwungvoll und der kicherte begeistert. »Ihr könnte alle helfen«, sagte er. »Kommt mit. Wir zeigen euch den geheimnisvollen Brief und den Schlüssel.«
Er setzte sich Evan auf die Schultern und Addie führte den Zug zur Bibliothek an. Evan drehte sich noch einmal um und schaute zurück in den Flur. »Komm, Danny!«, rief er. »Wisst du nicht heefen?«
Addie grinste ihren ältesten Cousin an. »Genau Danny, wir brauchen deine ›Hiiife!‹« Daniel gesellte sich zu ihnen.
In der Bibliothek angekommen, las Addie den drei Kleinen den Brief vor. Christopher hörte genau zu, Abe interessierte sich mehr für den großen Schlüssel und Evan begann, auf dem Sofa Kopfstand zu üben.
»Hört zu«, sagte Jacob als Addie fertig war, »es ist sehr wichtig, dass keiner diesen Brief oder den Schlüssel oder den Karton mit den Papieren anfasst. Nur Addie und –«, er zögerte einen Moment, »Daniel und ich dürfen diese Dinge anfassen.«
»Jacob, ich bin acht Jahre alt.« Christopher war ein bisschen beleidigt.
»Das weiß ich, Christopher, aber es ist sehr wichtig, dass du den beiden Kleinen ein Beispiel gibst. Du sollst ihnen zeigen, wie wichtig es ist, dass der Brief, der
Schlüssel und die anderen Sachen an ihrem Platz bleiben.
Verstehst du?«
Christopher nickte ernst. »Das werde ich, Jacob. Ich verspreche es.« Zu seinen Brüdern sagte er mit Grabesstimme: »Wenn ihr das hier auch nur anfasst, seid ihr tot.«
Daniel kicherte und Addie beugte sich schnell vor, um Abe und Evan zu umarmen. »Wir vertrauen euch«, versicherte sie ihnen und bemühte sich, nicht loszulachen.
Evan zog ein Gesicht und Abe streckte seinem älteren Bruder die Zunge heraus. Chris ballte seine Faust und Evan versteckte sich schnell hinter Addies Beinen.
»Na, großartig«, murmelte Addie. »Jetzt muss ich fünf verschiedene Brüder davon abhalten, sich gegenseitig umzubringen.«
Daniel und Jacob tauschten einen verlegenen Blick, und Daniel wechselte das Thema. »Du solltest besser genau erklären, was wir eigentlich tun«, empfahl er.
»Ich wette, wir suchen diesen Schatz, von dem in dem Brief die Rede ist«, meinte Christopher.
»Was für ein Schatz? Wer hat einen Schatz?« Plötzlich war auch Evan ganz Ohr.
»Ist das der Schlüssel zu einer Schatztruhe?« Abe streckte die Hand aus und berührte den Schlüssel fast, aber Christopher gab ihm einen Klaps auf die Finger.
»Mit den zweien im Schlepptau kommt ihr überhaupt nicht weiter«, informierte Christopher seine älteren Cousins.
Wie aufs Stichwort öffnete jetzt Onkel Jim die Tür und
fragte: »Wer von euch dreien möchte denn noch Frühstück? Großmutter hat französischen Toast.«
Abe und Evan stürzten beinahe übereinander, als sie gleichzeitig losrasten, aber Christopher blieb noch zurück.
»Kann ich wiederkommen, wenn ich fertig bin?«
»Natürlich, Chris.« Addie lachte den kleinen Jungen liebevoll an und er hüpfte fröhlich aus dem Zimmer.
Die drei verbliebenen Kinder sahen sich an. »Wir müssen uns beeilen«, verkündete Jake.
»Ich überfliege den Rest des Tagebuchs, ob noch etwas zum Thema Zeitungsartikel oder Feuer drinsteht«, sagte Addie.
»Ich versuche, die Notizen zu ordnen«, meinte Jake. Er zögerte. »Willst du mir helfen, Daniel?«
»Klar«, antwortete Daniel. »Sag mir nur, wonach ich suchen soll.«
Jacob erklärte kurz, was sie bis dahin schon herausgefunden hatten. »In Noldas Tagebuch steht, dass sie zum ersten Mal von Adlons Schatz und Winnies Gold gehört hat. Wir glauben, dass beides irgendwie zusammengehört, wissen aber nicht wie.
Die einzigen anderen Informationen zum Thema Schatz stehen ins Großmutters Notizen.« Er zeigte Daniel die Zettel mit den Initialen NKE am Ende. »Als Nolda alt wurde, erzählte sie Großmutter, dass der Schatz vor dem Feuer sicher sei, aber dass sie ihn zurückholen müsse. Großmutter sagte, dass Nolda zu der Zeit schon nicht mehr ganz bei sich gewesen sei und niemand wusste, was sie damit meinte.«
Daniel sah skeptisch in die Runde. »Großmutter hat gesagt, dass sie nicht mehr ›ganz bei sich‹ war?«
»Nein«, Addie warf Jake einen finsteren Blick zu. »Sie sagte, ihr Geist war manchmal schwach.«
Jake hob die Schultern. »Wie auch immer. Wir müssen alles sammeln, das uns Auskunft über den Schatz, das Gold oder das Feuer gibt. Okay?«
Daniel nickte. Er nahm eine Handvoll Zettel und machte es sich wieder auf dem Sofa bequem.
Christopher war schneller zurück, als sie gedacht hatten. »Die Kleinen gehen mit Dad und Onkel John zum Supermarkt«, berichtete er. »Was soll ich machen?«, fragte er Jake voller Eifer.
Jake sah in das aufgeregte Gesicht und atmete tief durch. »Nun, kannst du lesen?«
Christopher baute sich kerzengrade vor Jake auf und sah ihm empört ins Gesicht. »Natürlich kann ich lesen. Ich bin der Beste im Lesen in der ganzen dritten Klasse!«
»Super«, sagte Jake. »Der Schatz ging nach einem großen Brand verloren. Lies diese Briefe und sag mir, ob etwas über den Schatz, einen Brand, oder Gold darin steht.« Er gab Christopher zwei Briefe auf blauem Briefpapier.
Der Kleine setzte sich im Schneidersitz auf den Fußboden und begann zu lesen.
Addies Suche im Tagebuch brachte keine neuen Erkenntnisse. Obwohl Oma Nolda verschiedene Bemerkungen über »Mamas Geschichte« oder »Großmutters Gold« machte, nannte sie doch nie Einzelheiten. Das Tagebuch hörte noch vor dem Brand auf. Addie war verblüfft.
»Warum hat sie in ihrem Tagebuch nichts über den Schatz geschrieben?«, wunderte sie sich. »Über alles andere schreibt sie. Man könnte fast denken, der Schatz war nicht wichtig für sie.«
Christopher nickte ernst. »Ich schreibe nur wirklich wichtige Sachen in mein Tagebuch«, betonte er. »Geheimnisse.«
»Du führst ein Tagebuch?« Addie war verwundert, aber Jake sah seinen kleinen Cousin gedankenverloren an.
»Er hat recht, weißt du? Der Schatz war damals kein Geheimnis. Die Leute wussten davon. Noldas Mutter hatte ein Geschenk bekommen. Nichts Besonderes. Ein kleines Mädchen würde darüber bestimmt nichts in sein Tagebuch schreiben.«
»Und was war mit dem Gold?« Addie wollte nicht so schnell aufgeben. »Das war doch bestimmt wichtig für sie.«
Jake zuckte die Achseln. »Wenn die Goldgeschichte in der Familie allgemein bekannt war, warum sollte sie da rüber etwas in ihr Tagebuch schreiben?«
»Man sollte doch annehmen, dass irgendjemand ein Interesse daran hatte, aufzuschreiben, wie die Familie in den Besitz des Goldes kam.«
»Vielleicht haben sie das Gold gefunden«, versuchte Christopher zu helfen.
»Chris, Gold liegt nicht einfach auf der Straße herum«, erwiderte Jake ungeduldig.
Der Junge blieb hartnäckig: »Mein Lehrer sagt, eine Menge Leute haben Gold gefunden. Das war früher, und alle haben sich furchtbar beeilt, um welches zu finden.«
Daniel grinste. »Er meint den Goldrausch.«
Christophers Miene erhellte sich zusehends. »Genau, das ist es – der Goldrausch.«
»Okay, du hast recht, Chris«, lenkte Jake ein. »Damals haben die Leute Gold einfach so gefunden. Aber das war in Kalifornien. Wir sind hier in Wisconsin.«
»Vielleicht sind sie nach Kalifornien gegangen, um es zu finden.« Christopher ließ sich nicht so leicht beirren.
Daniel starrte seinen Cousin an und sagte dann langsam: »Vielleicht haben sie das wirklich getan …«
Jake warf seinem älteren Bruder einen vielsagenden Blick zu. Warum unterstützt du ihn auch noch? Aber Daniel bemerkte ihn nicht. Er war damit beschäftigt, die Zettel zu durchwühlen, die er gerade gelesen hatte. Addie und Jake protestierten laut.
»Dan, sei doch vorsichtig!«, beschwerte sich Jake. »Manche von den Papieren sind schon sehr alt.«
»Ja, ja, ja, ja«, brummelte Daniel. Dann hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte, und er hielt ein sehr altes Stück Zeitung hoch. »Hört mal zu!«
»Was ist es?«, wollte Addie wissen.
»Eine Todesanzeige … von Samuel Elder«, antwortete er, »aber das ist nicht das Wichtige.«
Addie schaute in den Familienstammbaum. »Samuel Elder war Noldas Ehemann.«
»Toll«, sagte Daniel kurz, »aber das ist nicht wichtig. Das hier ist wichtig!« Er begann vorzulesen: »Mister Elders Tod durch Ertrinken ist bereits die dritte solcher
Tragödien, von denen die Familie von Mrs Elder heimgesucht wurde. Ihr Vater, Randolph Kelley –«
Er stoppte und sah Addie an. Addie prüfte den Stammbaum und nickte.
Daniel las weiter: »Randolph Kelley starb bei einem Schiffsunglück im Jahre 1899. Ihr Großvater Harrison Haile«, Addie nickte wieder, »starb auf See im Jahre 1858.«
»Harrison Haile war Winnies Ehemann«, erklärte Addie langsam.
»Irgendwann muss er Wisconsin verlassen haben«, ergänzte Daniel trocken. »Es gibt hier nicht viele Meere, in denen man ertrinken könnte.«
»Welches Meer?«, fragte Jacob eindringlich.
Daniel zuckte die Achseln »Steht hier nicht. Aber – es kommt noch mehr.« Er griff unter das Sofa und zog das Geschichtsbuch hervor, in dem er vorher gelesen hatte. »Wir haben letztes Halbjahr den Goldrausch durchgenommen. Er blätterte wild in den ersten Kapiteln des Buches herum und murmelte halblaut vor sich hin.
Jacob konnte es nicht mit ansehen. »Schlag im Inhaltsverzeichnis nach«, sagte er ungeduldig.
Daniel schnitt eine Grimasse. »Schlag im Inhaltsverzeichnis nach«, äffte er ihn nach, tat aber, was ihm geraten worden war, und fand das Gesuchte sofort. Er überflog den Text.
»Hier!« Er begann vorzulesen: »Obwohl viele Goldgräber in Kalifornien bleiben wollten, um noch mehr Gold zu finden, waren andere auch zufrieden, das Gefundene mit in die Heimat nehmen zu können. Es war unbequem,
schwierig und gefährlich, große Mengen Gold quer über den Kontinent zu transportieren. Und so wählten die meisten den bequemeren Weg über das Meer, von der Westküste an die Ostküste. Aber auch diese Art zu reisen war nicht ohne Risiken. Es gab verschiedentlich Berichte von modernen Piraten, aber häufiger lag das Problem in den Naturgewalten, mit denen die Schiffe zu kämpfen hatten. Starke Fallwinde und Wirbelstürme bedrohten die Reisenden, und mehr als ein Schiff kippte die Ladung ins Meer, um die Menschenleben zu retten.«
Daniel sah von seinem Buch auf. »Na, was meint ihr?«
Jacob sah immer noch skeptisch aus.
»Jake, hier drin steht ausdrücklich, dass der Goldrausch seinen Höhepunkt zwischen 1855 und 1860 hatte. Wir wissen, dass Winnie Haile Gold besaß. Wir wissen, dass ihr Mann auf See umkam, und wir wissen, dass es Zeitungsberichte über das Gold gab. Vielleicht berichteten die Zeitungen über ein Schiffsunglück. Für mich hört sich das ziemlich plausibel an«, meinte Daniel bestimmt.
Addie spürte, wie sie vor Aufregung eine Gänsehaut bekam. Sie knuffte Jake freundschaftlich in die Seite und er lachte widerwillig.
»Wir können es ja mal überprüfen«, sagte er.
»In Ordnung!« Daniel freute sich. »Gute Detektivarbeit, Christopher!« Er hielt seine Hand hoch und Christopher schlug ein. Er strahlte übers ganze Gesicht.
Wieder in der Bibliothek
Kommt, wir wollen zuerst Großmutter von unserer Theorie erzählen«, schlug Addie vor.
»Gute Idee«, stimmte Jacob ihr zu.
Sie fanden ihre Großmutter im Wohnzimmer, wo sie ihr jüngstes Enkelkind schaukelte. Das Baby war hellwach und gluckste leise vor sich hin, ruderte mit den Armen und sah sich mit weit aufgerissenen Augen überall um. Es war schwer, Großmutters Aufmerksamkeit zu erhaschen.
»Ein Schiffsunglück?« Großmutter schaffte es nun doch, die Augen von Klein-Lindsey abzuwenden und sich auf ihre vier älteren Enkel zu konzentrieren. »Wer soll bei einem Schiffsunglück umgekommen sein?«
Daniel zeigte ihr die Todesanzeige. »Harrison Haile starb auf See.«
»Und zwei andere Männer aus unserer Familie sind ebenfalls ertrunken«, fügte Addie hinzu.
Großmutter schnippte mit den Fingern. »Ihr habt recht! Jetzt fällt es mir wieder ein. Oma Nolda hatte eine Heidenangst vor Wasser. Sie sagte, die beiden einzigen Männer,
die sie geliebt hätte, wären beide durch Wasser zu Tode gekommen – ihr Ehemann und ihr Vater. Harrison Haile kannte sie natürlich nicht. Aber sie wusste, dass er auf See umkam. Sie hat mir sogar den Namen des Schiffes gesagt, das damals unterging. Ich hatte den Namen irgendwo in den Unterlagen notiert. Habt ihr ihn nicht gefunden?«
Jacob und Addie sahen sich an. »Ich glaube nicht, dass irgendwo ein Schiff erwähnt wird, Großmutter«, sagte Addie dann. »Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern.«
»Ihr solltet besser noch einmal nachschauen«, meinte sie. »Ich bin sicher, dass ich es irgendwo aufgeschrieben habe. Wenn ihr nichts findet, müssen wir Onkel Ed anrufen. Er hat ja so ein tolles Gedächtnis. Wenn er jemals davon gehört hat, kann er euch bestimmt den Namen des Schiffes sagen.«
Ed war kein leiblicher Onkel, sondern er war Großmutters Cousin und der beste Freund von Großvater McCormick gewesen. Die beiden Männer waren während des Zweiten Weltkrieges in der gleichen Kompanie gewesen. Als Ed während eines Urlaubs nach Hause gekommen war, hatte er seinen Freund Ken McCormick mitgebracht. Großmutter war sechs Jahre jünger als Ken McCormick, aber sie verliebte sich in den gut aussehenden Soldaten und der Rest war Geschichte.
Auch die genaueste Untersuchung des Schuhkartons förderte keinen Schiffsnamen zutage, und so rief Großmutter bei Onkel Ed an und lud ihn mit seiner Frau Lizzy zum Mittagessen ein. Tante Lizzy ging es nicht gut, aber Onkel Ed stand eine halbe Stunde später vor der Küchentür.
Er kam fast gleichzeitig mit Addies Vater und Onkel Jim, die mit den beiden kleinen Jungen von ihrem Ausflug zum Supermarkt zurückkamen. Sie hatten auf dem Rückweg an einem Hähnchengrill angehalten, und bald standen Schüsseln mit köstlich gerösteten Hähnchenteilen, Salaten und Kartoffeln mit Soße auf dem Tisch.
Das Mittagessen verlief heute ganz locker mit Papptellern und Papierservietten, und die ganze Familie hörte gespannt zu, als Addie und Jacob von ihrer Suche nach dem Familienschatz berichteten. Daniel und Chris erzählten, wie sie auf die Idee gekommen waren, dass Harrison Haile in Kalifornien nach Gold gesucht haben könnte.
Als sie geendet hatten, strahlte Onkel Lee seinen Ältesten stolz an: »Das war sehr gut kombiniert!«
Daniel lächelte nur und Jacob schaute starr auf seinen Teller.
Addie sah seinen Gesichtsausdruck und wechselte das Thema. »Kannst du dich an den Namen des Schiffes erinnern, Onkel Ed?«, fragte sie.
Ed runzelte die Stirn. »Ich fürchte, nein. Ich glaube, ich habe den Namen nie gehört«, sagte er. »Ich kann mich zwar entfernt an die Umstände von Harrison Hailes Tod erinnern, aber etwas Genaues weiß ich nicht. Ich bin aber sicher, dass ein so wichtiges Ereignis in den örtlichen Zeitungen gestanden hat. Ich denke, ihr solltet noch einmal in die Bibliothek gehen und weiter nachforschen. Ich kann euch auf dem Weg nach Hause dort absetzen, wenn ihr möchtet.«
Klein-Abraham klatschte begeistert in die Hände: »Ich liebe die Bibotek«, verkündete er und strahlte Addie an.
Addie lächelte auch, holte aber tief Luft. Jake und Daniel schienen überall hinzuschauen, nur nicht in Abes Richtung. Christopher hingegen sah nicht den geringsten Grund, taktvoll zu sein.
»Du kommst nicht mit«, sagte er unverblümt.
Abes Unterlippe begann, verräterisch zu zittern und Evan schniefte zum Herzerweichen. Chris sah seine Felle davonschwimmen und er wandte sich an seine Mutter.
»Mom!«, bat er, aber sie deutete mit der Hand auf seinen Vater.
»Also Chris«, begann Onkel Jim, doch Jake fiel ihm ins Wort.
»Die Bücherei hat oben eine große Kinderabteilung«, erklärte er Addie und Daniel. »Wir könnten uns beim Aufpassen abwechseln.«
Abe und Evan jubelten begeistert. Christopher wusste, dass es keinen Zweck haben würde zu widersprechen. Also machte er seinen kleinen Brüdern schon auf dem Weg zu den Mänteln die Regeln klar.
»Es gibt keinen Bonbonautomaten in der Bücherei, also frag gar nicht erst danach!«, ermahnte er Evan. »Und wir gehen auch nicht alle fünf Minuten mit dir aufs Klo, verstanden?« Abe nickte. »Wir müssen arbeiten …«
Seine Stimme verlor sich, als sie durch den Flur gingen, und die Erwachsenen lachten leise. Onkel Lee nahm Jake beiseite. »Denk daran, dass du der Verantwortliche bist. Beschwer dich nicht, wenn du mit dem Aufpassen an
die Reihe kommst. Lass Daniel nicht wieder alles allein machen!«
Jake entwand sich dem Griff seines Vaters. »Es war meine Idee, Dad«, sagte er schroff. »Mach dir keine Sorgen deswegen!«
Onkel Lee runzelte die Stirn angesichts des Tons, den sein Sohn ihm gegenüber anschlug, aber er nickte nur. »Ruft an, wenn ihr fertig seid. Einer von uns holt euch dann ab.«
Die sechs Kinder zogen sich extra dick an, denn es war bitterkalt draußen. Dann drängten sie sich alle in Onkel Eds großen schwarzen Wagen. Christopher und Daniel saßen vorne. Addie und Jake saßen hinten und hatten zwischen sich Evan und Abe zusammen mit dem verbliebenen Sicherheitsgurt angeschnallt. Jake starrte nur wortlos aus dem Fenster, bis sie an der Bibliothek ankamen.
Dort angekommen, sagte er, dass er die erste Schicht Aufpassen übernehmen würde. »Zeig Chris und Daniel das Archiv«, meinte er zu Addie. »In etwa zwanzig Minuten kann ja einer von euch raufkommen und mich ablösen, okay?«
Addie führte ihre Cousins also in den Keller. Joanna saß an ihrem Schreibtisch und sie freute sich, Addie wiederzusehen.
»Wo ist Jake?«, wollte sie wissen.
»Oben. Er passt auf meine beiden kleinen Brüder auf«, erklärte Christopher. »Wir wechseln uns ab.«
Joanna musste sich das Lachen verbeißen. Zu deutlich konnte man hören, dass er bei dieser Aufgabe am liebsten
übersprungen worden wäre. »Wonach wollt ihr heute suchen?«, fragte sie Addie.
Als Addie erklärte, dass sie heute den Mikrofilm über die Zeitungsausgaben von 1858 sehen wollten, wurde Joannas Lächeln dünner.
»Ich fürchte, dass die Ausgaben vor 1860 sehr lückenhaft sind«, meinte sie bedauernd. »Ich zeige euch, was wir hier haben, aber es ist nicht besonders viel. Vor dem Krieg hat offensichtlich niemand daran gedacht, die Zeitungen zu archivieren. Die Kopien, die wir haben, stammen aus privaten Sammlungen.«
Diesmal gab es nur eine Spule Mikrofilm. Addie ging damit zum Projektor und legte den Film vorsichtig ein. Sie begann das erste Exemplar durchzusehen, das auf den 13. März 1858 datiert war.
»Was ist, wenn er vor März gestorben ist?«, wollte Daniel wissen.
»Dann haben wir Pech«, gab Addie zur Antwort. Sie suchte zuerst nach den Todesanzeigen. Kein Harrison Haile. Dann ging sie zurück zum Titelblatt und sah sich jede Schlagzeile genau an. Wieder nichts. Es gab nur noch vier Zeitungen vom März 1858. Dann kamen zwei Monate Pause und das nächste Exemplar war vom elften Juni.
»Es wäre ein Wunder, wenn wir den Artikel fänden, in dem über das Unglück berichtet wird«, meinte Daniel.
Im Stillen musste Addie ihm recht geben, aber sie sagte kein Wort und arbeitete weiter jedes einzelne Blatt durch. Das Ganze schien noch mühsamer zu sein als am vergangenen Tag. Über eine Stunde verging.
»Jake!«, rief Daniel auf einmal. Er nahm seinen Mantel und rannte die Treppen hinauf. Noch keine Minute war vergangen, als Jake auch schon neben Addie Platz genommen hatte. Addie erklärte, worin das Problem bestand, und Jake machte sich an die Arbeit, während Addie ihre müden Augen entspannte.
Kurz danach wurde auch Christopher müde und er beschloss, nach oben zu gehen und Daniel zu helfen. »Ihr müsst mich nicht ablösen«, sagte er zu Addie, »ich möchte das hier nicht mehr machen. Es ist todlangweilig.«
Addie erklärte sich einverstanden und dankte ihm für seine Mitarbeit. Jake und sie lasen nun allein die wenigen noch verbliebenen Zeitungen durch. Daniel wollte nämlich auch lieber oben bei den Kleinen bleiben.
Ungefähr zwanzig Minuten später kam Joanna nach unten, um zu sehen, wie weit sie mit ihren Bemühungen gekommen waren. »Ihr habt noch kein Glück gehabt, oder?«
»Nein«, bestätigte Jake. »Ich glaube auch nicht, dass wir etwas finden werden.«
»Ich weiß, dass es Listen über die Schiffsunglücke auf den amerikanischen Gewässern gibt«, sagte sie. »Wir können uns die Listen vornehmen und die Schiffe, die im Jahr 1858 untergegangen sind, herausschreiben. Das wird eine Weile dauern, aber es ist machbar.«
»Entschuldigung, Joanna.« Der Mann mit dem Putzwagen, den Jake und Addie schon am Vortag gesehen hatten, sprach Joanna vom hinteren Ende des Raumes an: »Ich bringe diese Müllsäcke zum Container. Bitte machen Sie mir die Tür wieder auf, wenn ich klopfe.«
Joanna nickte und winkte ihm zu, woraufhin der Mann einen Sack über die Schulter warf und zwei weitere mit der Hand aufnahm.
»Was macht er?«, wollte Jake wissen.
Joanna lachte trocken. »Wir versuchen, in den Lagerräumen Ordnung zu schaffen und die Bestände zu katalogisieren. Ich habe vor sechs Monaten die Arbeitsstelle hier bekommen und seitdem läuft das Projekt. Ein Raum muss immer noch durchgesehen werden. Die vorherigen Bibliotheksangestellten haben jedes Buch, jede Zeitschrift, ja, man könnte sagen jedes Blatt Papier, das ihnen in die Hände kam, aufbewahrt. Überall wurde nur ›Archiv‹ draufgeschrieben und dann wurden die Sachen hier unten eingelagert. Seit Jahren hat sich keiner darum gekümmert.«
Sie schaute nach dem Mikrofilm im Projektor. »Ihr seid ja schon fast fertig«, freute sie sich. »Seht noch schnell den Rest durch, damit ihr sicher seid, nichts übersehen zu haben. Dann gehen wir zusammen nach oben und sehen nach, ob wir nicht irgendetwas über Schiffsunglücke im Jahre 1858 herausfinden können.«
Ungefähr zehn Minuten später waren Addie und Jake fertig. Sie gingen zurück zu Joannas Schreibtisch und fanden sie vor der Schreibmaschine. Sie tippte gerade eine Liste und versprach ihnen, nach oben zu kommen, sobald sie fertig sei.
Also stiegen die beiden die Treppe zum Erdgeschoss wieder hinauf. Sie konnten Daniel und Evan in der Kinderecke auf dem Boden liegen sehen. Sie waren damit
beschäftigt, ein schwieriges Puzzle zusammenzusetzen. Christopher saß neben ihnen und las in einem Buch.
Als sie ankamen, hob Daniel den Kopf. »Ich wusste, dass ihr nichts finden würdet«, sagte er, bevor er überhaupt gefragt hatte.
»Schau, Addie«, meldete sich Evan zu Wort, »wir haben ein Zeba, ein Känguru, ein Hippo und ein rosa Flaminko … ein rosa Flamengo … ein …« Das Gelächter der anderen Kinder beendete seine Versuche, das Wort richtig auszusprechen, und so deutete er einfach auf das Bild und erklärte: »So einen!«
»Ein rosa Flamingo«, verbesserte Addie ihn leise und schaute sich um. »Wo ist Abe?«
Daniel sah von seinem Puzzle auf. »Bist du nicht mit ihm zur Toilette gegangen?«, fragte er Christopher. Der schaute ganz erschrocken. »Ich dachte, du hättest ihn hingebracht.«
»Na super«, brummelte Daniel. Er stand auf und streckte sich. »Kommt, wir müssen ihn suchen. Irgendwo hier muss er ja stecken.«
Addie nahm Evan mit und die Kinder suchten alles ab, aber der kleine Abe blieb verschwunden.
Verschollen in der Bücherei
Ziemlich erschrocken und aufgeregt standen die Kinder am Eingang zur Kinderabteilung mit den Vorschulmaterialien. Jacob suchte noch einmal alle Räume der Bücherei ab. Er sah sehr besorgt aus und sein Gesicht war blass. Daniel suchte in seiner Hosentasche nach einer Münze zum Telefonieren, während Addie versuchte, Evan zu beruhigen.
»Wo könnte er denn sonst sein?«, fragte Jacob besorgt. Er beobachtete, wie Daniel fünfundzwanzig Cent aus den Münzen in seiner Hand heraussuchte. »Was hast du vor?«, wollte er wissen.
»Dad anrufen«, antwortete Daniel. »Was sonst?«
»Wieso das denn?«, platzte Jake heraus. »Wenn er herausfindet, dass wir Abe verloren haben, bringt er mich um.«
»Warum sollte er dich umbringen?«, fragte Daniel. »Ich war doch derjenige, der hier oben aufpassen sollte.«
»Dad wird das nicht so sehen.« Jacob beharrte auf seiner Meinung. »Er wird mich verantwortlich machen, weil
ich die Idee hatte. Hast du nicht gehört, was er vorhin zu mir gesagt hat?«
»Das ist verrückt«, meinte Daniel. »Wieso kommst du eigentlich ständig auf die Idee, dass Dad hinter dir her ist?«
»Weil es so ist«, murmelte Jake.
»Wo liegt der Unterschied, wenn wir wissen, wer schuld ist?«, fragte Christopher. »Abe ist weg!«
Evan fing wieder an zu weinen, als er die Verzweiflung in der Stimme seines Bruders hörte. Addie nahm den kleinen Kerl fest in den Arm. »Sollen wir beten und Gott bitten, uns zu helfen?«
Evan nickte zwischen einigen Schluchzern, und Addie betete schnell und flehentlich. »Herr, bitte hilf uns nachzudenken. Bitte zeig uns, wo Abe ist. Danke. In Jesu Namen, Amen.« Addie stand auf und sah Joanna auf sie zukommen. Sie lächelte.
»Seid ihr so weit, dann können wir … aber was ist los?«, fragte sie. »Ihr seht alle total erschrocken aus.«
»Unser Cousin ist verschwunden«, erklärte Jacob knapp. »Er ist vier Jahre alt und wir können ihn nirgendwo finden.«
Joanna wusste Rat. »Wir gehen zur Bibliotheksaufsicht. Sie kann ihn über Lautsprecher ausrufen.«
Die Kinder folgten ihr zu dem Schreibtisch in der Mitte des Hauptraumes. Addie musste Evan tragen, weil der Kleine jetzt bitterlich weinte. Er vergrub sein Köpfchen an ihrer Schulter und schluchzte lautlos vor sich hin, während man die blecherne Stimme der Bibliothekarin durch die Lautsprecher hörte.
»Könnte Abraham McCormick bitte zum Informationsstand im Erdgeschoss kommen? Abraham McCormick bitte zum Informationsstand kommen. Danke.«
»Im Erdgeschoss?«, fragte Jacob plötzlich. »Gibt es denn auch einen ersten Stock?«
Joanna schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »nur den Keller.«
»Der Keller!« Addie, Jake und Danny, alle dachten in diesem Moment dasselbe und Addie sprach es aus.
»Er ist in den Keller gegangen, um Jake und mich zu suchen!«
»Sieht ihm ähnlich!«, sagte Christopher sehr erleichtert, aber doch ein bisschen sauer. »Der kleine Dummkopf.«
»Haben wir ihn gefunden?« Evans Kopf tauchte ruckartig auf. Er rieb sich die geröteten Augen.
»Noch nicht ganz, aber wir sind auf der richtigen Spur«, meinte Addie.
Sie stellte Evan auf den Boden, und die ganze Gruppe stieg die Eisentreppe hinunter. Abe war noch nicht in Sicht, aber aus dem hinteren Teil des Raumes konnte man Stimmen hören. Dann hörte man ein sehr vertrautes Kichern in einem der Gänge und alle seufzten hörbar erleichtert auf.
»Abraham!«, rief Evan mit piepsiger Stimme und Christopher hielt ihm eine Hand vor den Mund.
Die Tür zum Geräteraum öffnete sich lautlos und Abrahams ernstes Gesicht kam zum Vorschein. Seine Augen waren riesengroß und angsterfüllt. Er wusste, dass er Ärger bekommen würde.
Christopher marschierte zielstrebig auf seinen kleinen Bruder zu. »Abe, komm da raus, aber sofort!«, rief er mit heiserer Stimme.
Abes Gesicht verschwand und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
»Du kleiner Dummkopf«, murmelte Christopher und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war abgeschlossen.
»Ich habe einen Schlüssel«, sagte Joanna und hatte Mühe, sich das Lachen zu verbeißen.
Doch jetzt ging die Tür noch einmal auf und der ältere Mann erschien mit einem reuevoll aussehenden Abraham an der Hand. Abe versuchte, sich hinter ihm zu verstecken, als Christopher ihn grob am Arm packte.
»Nur keine Aufregung«, sagte der Mann begütigend, als er die beiden trennte.
»Warte nur, bis wir zu Hause sind«, zischte Christopher. »Wenn Mama hört, dass du abgehauen bist und hier im Keller herumschnüffeln wolltest, wirst du für den Rest deines Lebens auf dem Stuhl sitzen!« Zur Bekräftigung boxte er ihn auf den Arm. Abe boxte zurück, traf aber nicht.
»Gar nicht!«, schrie der Kleine.
»Wohl!«
»Hört auf!« Diesmal trennte Jacob die beiden. »Warum hast du uns nicht gesagt, dass du hier unten bist?«
Abe zog die Schultern hoch. »Ihr wart so beschäftigt und da sah ich Ernie und der hatte eine Kiste, und ich wollte wissen, was da drin ist, und da hab ich gefragt und da hat er es gesagt und da hab ich …«
»Okay, okay«, unterbrach Daniel ihn. »Komm, wir sagen Ernie Dankeschön und dann rufen wir bei Großmutter an, damit wir nach Hause kommen. Mein Bedarf an Bücherei ist für heute gedeckt.«
»Dankeschön, Ernie«, sagte Abe mit schüchternem Lächeln zu seinem neuen Freund.
»Bitteschön, Abraham«, antwortete Ernie. »Ich hoffe, ihr findet euren Schatz.«
»Habt ihr ihn gefunden, Addie?«, fragte Abe.
»Addie?« Ernie betrachtete das Mädchen aufmerksam.
»Seid ihr alle Addie McCormicks Enkel?«
»Nein«, kicherte Abe. »Addie ist doch nicht unsere Großmutter.«
Addie lachte ihren Cousin an. »Er meint Großmutter, Abe. Sie heißt auch Addie McCormick.«
»Das ist dumm« meinte Abe nur, und alle lachten.
»Ich wusste gar nicht, dass die McCormicks einen Schatz in der Familie haben«, sagte Ernie scherzhaft.
Jake lachte. »Wir wissen auch erst seit ein paar Tagen davon«, erklärte er. »Und niemand scheint zu wissen, was für ein Schatz das ist und wo er versteckt ist.«
Addie versuchte, die Lage, in der sie sich befanden, so kurz wie möglich zu schildern: »Großmutter hat mir einige Dinge gegeben, die sie selbst von ihrer Großmutter bekommen hat. Alles deutet auf diesen Schatz hin, den jemand der ersten Addie noch vor dem Bürgerkrieg gegeben hat.«
Ernie rieb sich gedankenvoll das Kinn. »Wenn ihr irgendwas über jemanden aus dieser Stadt wissen wollt,
dann solltet ihr mit Irlene Campbell sprechen. Irlene ist 98 Jahre alt, aber sie hat ein Gedächtnis wie ein Elefant.
Jedenfalls, was die alten Tage angeht. Sie kann sich natürlich nicht erinnern, was sie gerade zu Mittag gegessen hat, aber so ist das eben mit alten Leuten.«
»Was gab es denn heute bei dir zu Mittag, Ernie?«, fragte Abe, und Ernie musste schallend lachen.
»Du glaubst ich bin alt, stimmt’s, Abe?«, schmunzelte er. »Ich glaube, du hast recht, denn ich kann mich ehrlich gesagt nicht mehr erinnern.« Er öffnete die Tür zum Materialraum und zwinkerte den Kindern zu. »Sprecht mit Irlene, wenn ihr etwas herausfinden möchtet«, wiederholte er und schloss die Tür hinter sich. Er kicherte immer noch in sich hinein.
Joanna bot ihnen noch einmal ihre Hilfe bei der Suche nach Informationen über Schiffsunglücke im Jahr 1858 an, aber mittlerweile waren alle ziemlich müde. Addie und die beiden älteren Jungen beschlossen, dass es das Beste sei, nach Hause zu fahren.
»Vielleicht kommen wir morgen noch einmal vorbei. Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte Addie zu ihr.
Kurz nach Daniels Telefonanruf war auch schon Addies Vater da, um sie abzuholen. Zurück bei ihrer Großmutter liefen Jake und Addie schnurstracks in die Küche. Großmutter bereitete zusammen mit den anderen Frauen das Abendessen vor. Chili con Carne und Maisbrot sollte es heute geben. Onkel Lee und Onkel Jim deckten im Esszimmer den Tisch.
»Hmmm, riecht das gut!« Addie freute sich schon auf
das Essen. Sie rieb ihre Hände aneinander, um sie wieder aufzuwärmen. »Draußen ist es ziemlich kalt.«
»Großmutter, kennst du zufällig eine Frau mit Namen Irlene Campbell?«, fragte Jake unvermittelt.
Großmutter lächelte. »O ja«, antwortete sie. »Habt ihr Irlene in der Bücherei getroffen?«
»Nein«, sagte Addie. »Wir haben dort mit einem Mann gesprochen, der uns riet, mit Irlene zu sprechen, wenn wir etwas über irgendjemanden aus dem Ort wissen wollten.«
»Nun, da hat er allerdings recht«, bestätigte Großmutter und nickte. »Soviel ich weiß, ist Irlene die älteste Frau in der Stadt. Ich selbst habe sie schon längere Zeit nicht mehr gesehen, aber nach allem, was ich so höre, ist sie immer noch gut beieinander. Für sie war es schon immer sehr wichtig, über den allerneuesten Klatsch informiert zu sein.«
Abe und Evan kamen zu ihnen in die Küche. Abe kletterte sofort auf Addies Schoß und versuchte zielstrebig, sich einen Keks aus der Keksdose zu angeln. Leider bemerkte seine Mutter sofort, was er vorhatte, und stellte die Dose ganz oben auf den Kühlschrank.
Großmutter lächelte die Kinder an. Sie war gespannt: »Wer hat euch denn von Irlene erzählt?«
»Ernie«, antwortete Abe, »er ist der Hausmeister.«
»Wie habt ihr es denn geschafft, den Hausmeister auszufragen?«, lachte Tante Bev.
Abe zuckte die Achseln. »Ich habe ihn halt kennengelernt und da er uns das erzählt.« Er wich dem Blick seiner Mutter geschickt aus. Aber Tante Bev kannte ihren
Zweitältesten gut genug, um zu merken, wenn ihr etwas verheimlicht wurde.
»Abe«, sagte sie mit wissender Stimme, »was ist passiert?«
Abe seufzte abgrundtief und schaute Addie und Jake an. Addie erzählte, wie Abe kurz vermisst worden war und
Tante Bev sah ihren Sohn ernst an.
»Das bringt dir eine Auszeit auf dem Stuhl ein«, sagte sie fest und zeigte auf die Tür zum Esszimmer.
»Wie lange?«, fragte Abe mit ergebener Stimme.
»Zehn Minuten«, antwortete Tante Bev.
Abes Gesicht hellte sich sofort wieder auf. Zehn Minuten war schließlich um Längen von »für dein ganzes Leben« entfernt. Der Kleine trottete fast glücklich ins Esszimmer zu dem Stuhl, der dort immer in einer Ecke stand, wenn Tante Bev, Onkel Jim und ihre Kinder da waren. Tante Bev sah ihm verwundert hinterher, sagte aber nichts mehr, sondern schüttelte nur den Kopf.
Onkel Lee hatte die ganze Unterhaltung von der Küchentür aus mitverfolgt. Jetzt trat er in die Küche. »Und wo warst du, als das alles passierte?«, fragte er Jake.
Jakes Gesicht wurde ernst, und Addie konnte sehen, wie sein ganzer Körper steif wurde. »Addie und ich waren im Keller, um …«
»Ich dachte, wir hätten abgesprochen, dass du die Verantwortung für die Kleinen hast?«
»Daniel war oben und sollte aufpassen …«
»Jetzt schieb nicht alles auf deinen Bruder. Wir waren uns einig, dass du ihn nicht alle Arbeit allein machen lässt!«
»Hab ich nicht!«, schrie Jake und schob krachend seinen Stuhl nach hinten.
»Wo glaubst du, dass du jetzt hingehst?«, wollte sein Vater wissen.
»In mein Zimmer«, schnauzte Jake.
»Gut. Bleib da, bis ich dir erlaube, wieder herauszukommen!«
Jake starrte seinen Vater einige Augenblicke lang an, dann rannte er aus dem Zimmer hinüber zur Treppe.
Daniel versuchte im Esszimmer noch, ihn aufzuhalten, aber Jake entwand sich seinem Griff und stürmte die Stufen hinauf, immer zwei auf einmal nehmend.
Daniel kam in die Küche und sah seinen Vater unglücklich an. »Dad, es war meine Schuld, dass Abe heute verloren gegangen ist. Jake hat als Erster aufgepasst, fast eine ganze Stunde. Ich ging hinauf, um ihn abzulösen. Evan und ich fingen ein Puzzle an. Ich bekam gar nicht mit, wie Abe auf einmal weg war.«
Onkel Lee starrte seinen Ältesten an und aller Ärger schien zu verfliegen. Niemand sagte ein Wort. Oben knallte eine Tür mit solcher Wucht ins Schloss, dass die Tassen in Großmutters Vitrine klirrten.
Irlene
Onkel Lee und Jake blieben für die nächste halbe Stunde allein in Jakes Zimmer, während alle anderen sehr schweigsam ihr Abendbrot aßen. Als die beiden schließlich wieder ins Zimmer kamen, setzte sich Jake auf seinen üblichen Platz neben Addie, sagte aber kein Wort. Am anderen Ende der Tafel hörte Addie die tiefe Stimme ihres Onkels, der eine belanglose Bemerkung machte. Keiner von beiden gab eine Erklärung ab.
Jacob aß sein Chili nicht auf und das Maisbrot blieb unberührt liegen. Er entschuldigte sich, ging wieder nach oben und blieb den restlichen Abend in seinem Zimmer. Addie und Daniel spielten im Wohnzimmer Karten, während die Kleineren einen Zeichentrickfilm anschauten, den sie in der Videothek ausgeliehen hatten.
»Wie planst du deine Schatzsuche fortzusetzen?«, fragte Daniel. Er legte eine Karte auf den Stapel – jetzt musste Pik gespielt werden, und Addie runzelte sorgenvoll die Stirn. Sie hatte nur Karo auf der Hand.
»Ich weiß nicht so recht.« Sie seufzte. Sie wünschte,
Jake wäre hier und würde ihr helfen zu überlegen. »Wir haben ja bis jetzt kein Glück gehabt bei der Suche nach dem Schiff, auf dem Harrison Haile verunglückt ist. Vielleicht sollten wir uns mehr auf das Feuer konzentrieren. Bei der Gelegenheit ist der Schatz ja verschwunden.«
»Ich wette, Irlene Campbell weiß über den Brand Bescheid«, sinnierte Daniel.
Großmutter schaukelte gerade die kleine Lindsey in den Schlaf. Sie summte leise vor sich hin und küsste sanft die winzigen Fingerchen. Als sie Daniel den Namen Irlene Campbell erwähnen hörte, sah sie auf.
»Ich könnte Irlene morgen früh anrufen, wenn ihr sie gerne besuchen möchtet«, sagte sie. »Ich bin sicher, sie kann euch eine Menge erzählen und ganz bestimmt freut sie sich über Gesellschaft.«
»Okay.« Addie nickte. »Ich hoffe nur –« Sie war nicht sicher, wie sie den Satz möglichst unverfänglich beenden sollte. Daniel tat es für sie.
»Du hoffst, dass Jacob Lust hat mitzukommen. Er wird mitkommen. Morgen früh hat er seine schlechte Laune überwunden und alles wird wieder gut sein. Das war bisher immer so.«
Beim Wort »immer« schaute er Addie mit sorgenvollem Blick an. Er senkte die Stimme. »Weißt du, er hat sich immer beklagt, dass Dad auf ihm herumhackt. Ich habe ihm nie geglaubt. Vermutlich habe ich immer gedacht, er wäre nur eifersüchtig auf mich.«
Daniel brach ab und Addie schaute angestrengt auf ihre
Karten, um seinem Blick nicht zu begegnen. »Findest du, dass Dad ihn anders behandelt als mich?«
Addie seufzte und wählte ihre Worte sehr sorgfältig aus. »Nun, ich glaube, dein Dad versteht dich besser als Jake.«
»Da hast du auf jeden Fall recht«, meinte Daniel. »Ich kenne niemanden, der Jake versteht, abgesehen von dir.«
Addie gab keine Antwort und Daniel begann nervös auf seinem Stuhl herumzurutschen. »Das sollte keine Beleidigung sein«, sagte er.
Sie lachte. »Ich weiß. Manchmal habe ich auch Schwierigkeiten, Jake zu verstehen, aber ich finde, es macht Spaß, mit ihm zusammen zu sein. Er bringt mich zum Nachdenken. Ich sehe die Dinge mit anderen Augen, wenn ich mit ihm zusammen bin.«
»Ja, er ist ganz schön schlau«, stimmte Daniel ihr zu. »Ich dachte mir schon immer, dass es Spaß machen würde, die Dinge auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzten, so wie er das tut. Nur, es bringt Dad sofort auf die Palme, wenn Jake Sachen auseinandernimmt.« Daniel schüttelte den Kopf und sagte eine Zeit lang nichts mehr.
Addie streckte sich und gähnte herzhaft. Daniel grinste. »Halte ich dich vom Schlafengehen ab?«, witzelte er.
Addie lachte: »Ich könnte auf der Stelle einschlafen.«
Daniel nickte zustimmend. »Vielleicht werde ich mich heute auch früher in die Koje hauen. Ich werde mal sehen, was Jake so macht.« Er legte eine Trumpfkarte auf Addies beste Karte und sie warf entnervt das ganze Blatt hin.
»Du gewinnst!«, bestimmte sie.
»Wie immer«, lächelte Daniel selbstgefällig. Er legte seine Karten auch auf den Stapel und stand auf. »Nacht, Addie. Nacht, Großmutter.«
»Gute Nacht, Lieber«, antwortete Großmutter und Addie winkte.
»Wo geht Danny hin?« Abe löste sich von dem Film und beobachtete seinen ältesten Cousin, der leichtfüßig die Treppe hinauflief.
»Ins Bett«, meinte Großmutter.
»Aber hier bei dir gehen wir doch niemals früh ins Bett, Großmutter«, sagte Abe entgeistert.
»Ich glaube, er möchte sich noch ein wenig mit Jake unterhalten«, erklärte Großmutter. Sie lächelte Addie herzlich an. »Dein Verdienst, Liebes. Du bist sehr klug damit umgegangen.«
Addie errötete bei diesem Kompliment ihrer Großmutter. »Nun, ich hoffe, dass ich helfen konnte. Ich wünschte, die anderen könnten Jake so sehen, wie ich ihn sehe. Besonders sein Vater.«
»Großmutter seufzte. »Geschichte, die sich wiederholt«, sagte sie.
»Wie meinst du das?« Addie war verwirrt.
»Ist dir jemals aufgefallen, wer von uns allen am besten mit Jake auskam?«, fragte Großmutter.
Addies Augen weiteten sich. »Großvater.«
Großmutter nickte. »Er hat Jake alles beigebracht zum Thema Mechanik und Motoren. Und Großvater konnte nie verstehen, warum Onkel Lee sich viel mehr für Fußball interessierte als für mechanische Dinge.«
Addie versuchte, alles zu verstehen, was ihre Großmutter sagte. Also hatte Großvater seinen eigenen Sohn, Lee, auch nie verstanden. Und jetzt stand Onkel Lee vor genau so einem Rätsel. Addie schüttelte den Kopf, während sie versuchte, die komplizierten verwandtschaftlichen Zusammenhänge zu entwirren.
Später am Abend dann, als ihre Eltern an ihr Bett kamen, um mit ihr zu beten, hatte sie eine Frage an ihren Vater.
»Bist du mit deinem Vater gut ausgekommen?«, wollte sie geradeheraus wissen.
Er schien überrascht von der Frage, aber nur für einen Moment. »Dad und ich haben uns sehr gut verstanden«, lächelte er. »Denny und Jim haben ihm auch sehr nahegestanden. Aber Lee …, nun, zwischen Lee und ihm krachte es schon mal.«
Addies Mama zog eine Augenbraue hoch und ihr Vater verzog das Gesicht. »Okay, es krachte ständig. Das hilft dir, die Probleme zwischen Onkel Lee und Jake besser zu verstehen, richtig?«
Addie nickte.
»Das macht es nicht besser«, fuhr ihr Vater fort. »Ich glaube, es gab einige Dinge, die Dad und Lee hätten tun können, um besser miteinander auszukommen. Und ich weiß, dass auch Jake und Lee sich näherkommen könnten. Aber sie müssten beide Kompromisse eingehen.«
Addie nickte wieder. »Hat ihnen das schon einmal jemand gesagt?«
Ihr Vater lachte. »Vielleicht möchte der Herr, dass du das tust.«
Addie und die kleineren Jungen saßen schon beim Frühstück, als Daniel und Jake am Freitagmorgen herunterkamen. Sie unterhielten sich leise, und Jake lächelte Addie an, als sie ins Zimmer traten.
»Daniel hat erzählt, dass wir uns heute mit dieser alten Dame treffen«, sagte er. Die Probleme vom vergangenen Abend erwähnte er mit keinem Wort.
Addie rümpfte die Nase. »Nenn sie nicht ›alte Dame‹, Jake. Sie heißt Mrs Campbell.«
Jake lächelte verlegen. »Tschuldigung. Manchmal denke ich einfach nicht nach. Hat Großmutter sie schon angerufen?«
»Ja, habe ich«, antwortete Großmutter vom Herd, wo sie gerade die Haferflocken umrührte. »Ich bin nicht ganz sicher, ob sie verstanden hat, worum es euch geht, aber ich dachte, ihr könnt das selbst am besten erklären, wenn ihr euch trefft. Sie freut sich auf euren Besuch. Ich glaube, sie wird sogar noch schnell Kekse backen, bevor ihr kommt.«
»Ich liebe Kekse«, verkündete Abe, und die vier anderen Kinder schauten sich bestürzt an.
Tante Bev ergriff die Gelegenheit, ehe ein anderer etwas sagen konnte. »Du bleibst heute Vormittag zu Hause, Schätzchen. Das ist ein Teil der Strafe für dein kleines Abenteuer von gestern.«
Abes Unterlippe schob sich merklich vor, was Tante Bev geflissentlich übersah. »Du bist auch schon fertig mit dem
Frühstück. Warum gehst du nicht mit Evan hinüber ins Esszimmer und spielst ein bisschen Lego mit ihm?«
Wortlos kletterte Abe von seinem Stuhl, nahm seinen kleinen Bruder an die Hand und marschierte schweigend aus dem Zimmer. Sehnsüchtig schaute er über die Schulter nach hinten.
»Was für ein Schauspieler«, murmelte Tante Bev, und die anderen Kinder mussten lachen.
»Wer bringt uns denn zu Mrs Campbell?«, fragte Daniel.
»Warum geht ihr nicht zu Fuß?«, schlug Großmutter vor. »Es ist wärmer geworden und die frische Luft wird euch guttun.«
Die Idee gefiel den Kindern und so waren sie bald alle warm eingepackt und machten ein Wettrennen den Hügel hinunter. Christopher war sehr schnell für sein Alter und überholte plötzlich Addie und Jake. Daniel war unangefochten der Schnellste, aber das Rennen um den zweiten Platz wurde spannend. Jake schob sich im allerletzten Moment nach vorn. Dann kamen Addie und Christopher gleichzeitig als Dritte unten an.
Alle waren völlig außer Atem und so sagte keiner ein Wort, ehe sie die Bücherei hinter sich gelassen hatten.
»Großmutter hat gesagt, dass es einen Block südlich von der Bücherei liegt«, sagte Addie, »ein großes gelbes Haus an der Ecke.«
»Da ist es!« Christopher hatte das Haus als Erster gesehen. Er lief über die Straße und stieg die Eingangsstufen hinauf. Addie, Jake und Daniel folgten ihm.
Die gelbe Farbe war durch ihr Alter stark verblichen, an manchen Stellen schon stark abgeblättert. Die Scheibe in der Haustür hatte einen Sprung und das Fliegengitter war auch am Rand kaputt.
»Hier müsste mal was dran getan werden«, meinte Jake kritisch. Er klopfte so laut er konnte an die Tür.
»Immer langsam!« Daniel sah seinen Bruder finster an. »Immerhin ist sie 98 Jahre alt.«
Sie waren alle überrascht von der Frau, die ihnen die Tür öffnete. Sie war groß, fast so groß wie ihre Großmutter und trug das dünne graue Haar kurz geschnitten. Ihre dunkelbraunen Augen wirkten hinter der Brille ungewöhnlich groß. Offensichtlich war sie stark weitsichtig. Sie ging langsam an einem Stock, aber sonst verriet nichts an ihr das hohe Alter oder wirkte gebrechlich. Sie öffnete die Tür und bedeutete ihnen wortlos hereinzukommen.
Addie schluckte und sprach als Erste: »Hi, Mrs Campbell, wir sind …«
»Ich weiß, wer ihr seid«, unterbrach Irlene sie. »Habt ihr Hunger?«
Sie hatten alle keinen Hunger, aber keiner wagte, die Schüssel mit Keksen, die auf dem Wohnzimmertisch stand, einfach stehenzulassen. Nachdem alle mit Kokosmakronen versorgt waren, stellte sie die Schüssel wieder hin und schaute Addie über den Rand ihrer Brille an.
»So, also du bist Adlon, ja?«, fragte sie unvermittelt. »Viel zu viele Adlons in dieser Familie! Sehr verwirrend.
Machte es auch nicht viel besser, mal eine Nolda und eine Londa einzuwerfen. Ich konnte sie natürlich immer
auseinanderhalten, aber alle anderen wussten nicht, wer wer war.«
»Großmutter sagte, Sie könnten uns vielleicht etwas über das Feuer sagen, das unsere Familie vor langer Zeit getroffen hat«, erzählte Addie ihr.
»Klar weiß ich über das Feuer Bescheid«, erwiderte Mrs Campbell. »Nolda sprach ja von nichts anderem – davon und von ihrem toten Ehemann.«
»Haben Sie Oma Nolda gekannt?«, fragte Jake.
»Ja. Ihre Tochter Adlon – nicht eure Großmutter sondern die Adlon vor ihr – und ich waren gut befreundet. Im selben Jahr geboren, 1895. Ich war viel mit ihr und Nolda zusammen. Haben immer versucht, mich zu bekehren. Haben mir ständig von der Liebe Jesu gepredigt.«
Die Kinder grinsten sich vielsagend an, aber Mrs Campbell bemerkte es nicht.
»Hab mit Religion nie viel anfangen können. Muss aber zugeben, dass es Nolda durch manche harten Zeiten gebracht hat. Noldas Mann ertrank, als Adlon und ich noch Teenager waren. Nolda nahm eine Arbeit an und zog die Kinder alleine groß, ’türlich drückte sie es nie so aus. Sie sagte immer, Gottes Geist würde sie leiten und seine Gnade ihre Fehler zudecken.«
»Sie sagten, dass sie viel über das Feuer erzählte«, erinnerte Addie sie vorsichtig.
»O ja«, sagte Mrs Campbell. »Das Feuer war natürlich vor meiner Zeit. Nolda war damals verlobt und stand kurz vor der Hochzeit, als das Haus ihrer Eltern abbrannte.
Ihre ganze Aussteuer ging in Flammen auf. Sie prahlte vor Addie und mir oft von all den Spitzendeckchen und anderen Nippsachen, die sie vor ihrer Hochzeit gesammelt hatte. Dann pflegte sie zu sagen: ›Aber es verbrannte alles mit dem Haus. Nur der Gnade Gottes verdanke ich, dass ein wenig davon übrig blieb.‹«
Irlene schüttelte den Kopf voller Unglauben. »Ich konnte nie verstehen, wie Gottes Gnade dein Haus abbrennen und deinen Mann ertrinken lassen kann.«
»Gott hat diese Dinge nicht getan!« Die Worte platzten aus Addie heraus, ehe sie sich zurückhalten konnte, und Irlene sah das junge Mädchen mit einem interessierten Lächeln an.
»Ja. Du gehörst hundertprozentig zur Familie. Nolda hat nie etwas Schlechtes über Gott gesagt. Hab sie dafür immer irgendwie bewundert.«
»Ähm, aber sie sagte doch, dass sie etwas vor dem Feuer retten konnte, stimmt’s?« Jacob schaute zu Addie hinüber und versuchte, Mrs Campbell wieder zum Thema zurückzuführen.
Irlene nickte. »Addies Erbe auf jeden Fall.«
»Sie wissen etwas darüber?«, fragte Addie aufgeregt.
»Die ganze Stadt wusste Bescheid darüber! Nolda war so stolz auf diese Kleinigkeiten, wie man nur sein kann. Da war irgendeine Kette, ein Bild und dann natürlich das Gold. Keiner in der Stadt hatte Goldgräber als Großeltern.«
Christopher unterbrach sie. »War es viel Gold?«
»’Türlich nicht. Wie ich’s verstanden habe, ist das meiste Gold verloren gegangen, als ihre Großeltern von der
Goldsuche aus Kalifornien zurückkamen. Das Schiff, auf dem sie waren, kam in einen Hurrikan und ging unter. Die Frau wurde gerettet, aber der Mann ertrank. Alles, was der Frau blieb, waren ein paar Nuggets in ihrem Mieder.«
»Winnie und Harrison Haile«, murmelte Addie leise.
Irlene nickte. »Genau. So hießen die Leute.«
»Kennen Sie den Namen des Schiffes?«, fragte nun Daniel.
Irlene schüttelte den Kopf. »Nö. Aber er steht auf ihrem Grabstein, wenn ich mich richtig erinnere. Eure Familie hatte immer was für Inschriften auf dem Grabstein übrig.«
»Wo ist das Gold jetzt?«, wollte Jacob noch wissen.
»Das kann ich euch nicht mit Gewissheit sagen.« Irlene zuckte die Achseln. »Bei manchen Sachen konnte Nolda auch ganz schön zugeknöpft sein. Wollte ihre Wertsachen nicht zu Hause aufbewahren. Hatte immer Angst vor einem weiteren Brand. Also hatte sie die Sachen bei einer Freundin deponiert. Alle vermuteten, dass es Mary war, aber Nolda hat es nie verraten.«
»Wer war denn Mary?«, fragte Daniel.
»Mary Brockworth, ihre beste Freundin.«
Addie holte tief Luft und lächelte Jake triumphierend an. Die Teile des Puzzles fingen an zusammenzupassen.
Addie Weston
Der Fußmarsch nach Hause ging schnell vorbei. Die Kinder waren so aufgeregt, dass keiner von ihnen die Kälte, den Wind oder die dunkelgrauen Wolken am Horizont bemerkte. Sie rannten den Weg zum Haus fast genauso schnell hinauf wie vorher den Weg nach unten. Trotz der Kälte war Addie erhitzt, als sie durch die Haustür ins Haus stürmte und den Mantel achtlos in der Diele fallen ließ.
»Großmutter!«, rief sie und lief zur Küche.
Im Esszimmer hielt Tante Jenny die Kinder auf. Sie legte einen Finger an die Lippen.
»Tante Bev hat Lindsey gerade hingelegt«, flüsterte sie. »Seid bitte leise.« Sie lächelte die Kinder an. Alle hatten von Aufregung und Kälte gerötete Wangen. Nun musste sie sich einem Schwall von geflüsterten Neuigkeiten er wehren, denn die Kinder konnten ihren Erfolg nicht für sich behalten.
»Kommt mit in die Küche, dann machen wir die Tür zu und alle können hören, was ihr zu erzählen habt«, lachte sie.
Es dauerte einige Minuten, bis die Kinder sich beruhigt hatten. Dann einigte man sich darauf, dass Addie die Rolle des Sprechers übernehmen sollte. Bis dahin hatten alle Familienmitglieder mitbekommen, dass es interessante Neuigkeiten gab, und hatten sich um den Küchentisch oder an Großmutters Arbeitsplatte versammelt.
»Winnie und Harrison gingen nach Kalifornien, um Gold zu suchen«, begann Addie ihren Bericht. »Für die Rückreise benutzten sie ein Schiff, das in einen Hurrikan geriet und sank. Mrs Campbell konnte sich nicht an den Namen des Schiffes erinnern, aber sie sagte, er stünde auf Winnies Grabstein.«
»Also müssen wir nur noch den Grabstein finden, dann wissen wir auch, wie das Schiff hieß«, warf Jake ein.
»Harrison Haile ertrank«, fuhr Addie fort, »aber Winnie wurde gerettet. Das meiste Gold war verloren, bis auf die Nuggets, die sie in ihrem Mieder versteckt hatte.« Bei dieser Mitteilung begannen alle Erwachsenen zu lachen.
»Was ist überhaupt ein Mieder?«, wollte Christopher von Großmutter wissen.
»Oder ein Trusso, oder Nippsachen?« Daniel imitierte täuschend echt Irlene Campbells raue Stimme. Großmutter lachte aus vollem Herzen. »Ich sehe, Irlene ist immer noch die Alte«, sagte sie dann. »Nun, ein Mieder ist Unterwäsche von damals.« Christopher verzog das Gesicht.
»Nippsachen sind kleine Dekorationsgegenstände und ein Trousseau ist eine Aussteuerkiste, in der ein Mädchen
all die Sachen sammelt, die es mit in sein neues Heim nehmen möchte.« Jake beendete die Erklärung für sie.
»Richtig.« Großmutter nickte. Ihre Augen funkelten. »Also ist tatsächlich Gold im Spiel.«
Addie nickte. »Aber das ist noch nicht alles«, erzählte sie ihren Zuhörern. »Irlene sagte, es gäbe noch irgendeine Kette und auch noch einen Kilt.«
Jake lachte. »Da hast du dich aber gründlich verhört, liebe Cousine«, zog er sie auf.
»Bitte?«
»Kein Kilt, ein Bild, eine Fo-to-gra-fie.« Er betonte jede Silbe.
Addie schüttelte den Kopf. »Ich dachte, sie meinte irgend so ein Traditionsstück.«
Großmutter lächelte. »Das ist aber auch verwirrend«, meinte sie. »Aber ich glaube, Jake hat wahrscheinlich recht. Oma Nolda hatte ein sehr schönes Fotoalbum. Habt ihr es gefunden, als ihr vorgestern auf dem Speicher wart?«
Addie nickte. »Vermutlich. Ich habe einige Fotoalben gesehen. Ich dachte, es wären deine.«
»Die meisten sind auch von mir. Einige gehörten meiner Mutter. Ihr könnt sie euch ruhig ansehen, besonders das von Oma Nolda. Vielleicht stoßt ihr auf interessante Informationen. Ich wollte die Alben durchsehen und einige der alten Bilder restaurieren lassen. Vielleicht werde ich das jetzt in Angriff nehmen.«
»Addie«, flüsterte Christopher. »Denk an diese Mary Sowieso.«
»Mary was?«, wollte Großmutter wissen.
»Mary Brockworth war Oma Noldas beste Freundin. Irlene vermutet, dass Oma Nolda sie gebeten hat, die Wertsachen, die sie vor dem Feuer retten konnte, für sie aufzubewahren. Sie hatte große Angst vor einem weiteren Brand.«
»Was, wenn Marys Haus abgebrannt wäre?«, fragte Abraham nachdenklich. Der Kleine hatte allem genau zugehört.
Addie sah ihn einen Moment lang verzweifelt an. »Gute Frage, Abe. Ich hoffe, es steht noch.«
Großmutter war immer noch nachdenklich. »Der Name Mary Brockworth sagt mir überhaupt nichts. Ich kann mich nicht erinnern, dass hier in Camp Point jemals eine Familie mit diesem Namen gewohnt hat.«
Onkel Lee holte das Telefonbuch und sah unter »B« nach.
»Es gibt keine Brockworths hier«, sagte er und schüttelte den Kopf.
Das war natürlich eine Enttäuschung, aber Addie ließ sich nicht entmutigen. »Es muss jemanden geben, der sich an sie erinnert. Wenn uns gar nichts anderes einfällt, könnten wir immer noch einmal zu Irlene gehen und sie fragen, was aus ihr geworden ist.«
»Ich möchte zum Friedhof gehen und nach Winnie Hailes Grabstein suchen«, forderte Jake.
Aber Großmutter schüttelte wieder den Kopf. »Winnie Haile liegt nicht im Familiengrab«, sagte sie. »Ich bringe zweimal im Jahr Blumen hin und dort ist kein Grabstein mit dem Namen Winnie Haile. Aber auf dem alten
Friedhof könnte einer sein«, fuhr sie fort. »Aber der alte Friedhof ist seit Jahren eingezäunt und abgeschlossen. Die Leute vom Heimatkunde-Verein haben gesagt, sie würden dort sauber machen und den Friedhof dann wieder öffnen, aber sie haben noch nichts unternommen.«
Dann schnippte sie mit den Fingern. »Onkel Ed! Wenn euch einer auf den Friedhof lassen kann, dann ist es Onkel Ed. Es könnte sogar sein, dass er weiß, wer Mary Brockworth war.« Sie griff schon nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer, ehe sie den Satz zu Ende gesprochen hatte.
Addie sprang von dem hohen Stuhl, auf dem sie gesessen hatte. »Wie viel Zeit haben wir noch bis zum Mittagsessen?«, fragte sie.
»Nur noch eine Stunde«, lächelte ihre Mutter. »Nicht genug Zeit, um auf Friedhöfen herumzustöbern.«
»Dann lasst uns diese Fotoalben ansehen«, sagte Addie zu ihren Cousins. »Ich weiß genau, wo sie auf dem Speicher liegen.«
»Ich liebe Dachböden«, verkündete Abe mit einem schüchternen Lächeln.
Addie musste lachen. »Klar, Abe. Du und Evan, ihr könnt beide mitkommen. Großmutter hat bestimmt nichts dagegen, wenn wir vor dem Essen noch ein bisschen auf dem Dachboden herumstöbern.«
Großmutter telefonierte immer noch mit Onkel Ed, aber sie hatte die Unterhaltung mitbekommen und zeigte ihr Einverständnis durch Kopfnicken und Winken.
Christopher führte den Zug hinauf zum Dachboden
an. Addie, Abe und Evan blieben zurück. Als Addie mit den beiden Kleinen oben ankam, stöberten die älteren Jungen schon eifrig in verstaubten Kisten und Kartons. Addie ging geradewegs zu den Schachteln, in denen sie die Fotoalben am ersten Abend entdeckt hatte.
Die oberen Alben gehörten Großmutter. Addie und ihre Cousins verbrachten ziemlich viel Zeit damit, sich Bilder aus Kinder- und Jugendzeiten ihrer Eltern anzusehen. Es war lustig, ihre Väter in demselben Alter zu sehen, in dem sie gerade waren. Addies Vater trug eine schwarz gerahmte Brille und hatte sehr dünne Beine. Onkel Jim hatte einmal volles, schwarzes Haar gehabt und Onkel Denny war früher noch nicht so groß und stark gewesen.
Addie interessierten die Fotos von Onkel Lee am meisten. Auf den meisten Familienfotos war Onkel Lee nicht ins Familiengeschehen miteinbezogen. Er stand immer ein wenig abseits. Sein Lächeln wirkte verkrampft und er sah viel öfter zu seinem Vater hinüber als in die Kamera.
Jakes Blick schien an diesen Bildern kleben zu bleiben, und als er aufsah, begegnete sein Blick Addie, die ihn unverhohlen anstarrte. Er wurde rot und blätterte schnell weiter.
»In Großmutters Alben ist nichts Interessantes«, murmelte Jake. »Lass uns lieber die anderen durchsehen.«
Daniel griff nach einem, das ihrer Urgroßmutter gehört hatte. Hier waren die Fotos viel älter, aber sie konnten Großmutter als kleines Mädchen erkennen. Sie hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Addie. Die Jahre vergingen
und Großmutter wuchs schnell heran. Dann folgten Fotos von Onkel Ed und seinem Freund aus der Armee: Ken McCormick. Bald verschwand Onkel Ed von den Bildern und Großmutter hatte seine Stelle neben dem jungen Soldaten eingenommen. Dann kam das Hochzeitsbild von ihr und Großvater und auf der letzten Seite befanden sich noch zwei einzelne Bilder. Auf einem war Großmutter mit einem Baby im Arm zu sehen. Es war John, Addies Vater. Das zweite zeigte Großmutter, Großvater, John als Krabbelkind und Baby Lee auf Großmutters Arm.
»Wenn wir uns alle Fotos so genau ansehen, kommen wir nie zu Oma Noldas Fotoalbum«, meinte Daniel. »Lasst uns die mal überschlagen.«
Addie war derselben Meinung. Sie suchte ganz unten in der Kiste und fand das Album, nach dem sie suchten. Es war schwer, ganz schwarz und sehr einfach. Kein Verschluss war daran und die Einbanddeckel waren nicht wattiert, wie bei den anderen. Auch die Fotos darin waren ganz anders. Die Bilder waren aus viel dickerem Material, fast schon Karton. Alle Gesichter schauten ernst, kein spontanes Lächeln oder eine Grimasse. Diese Menschen waren offensichtlich für diese Bilder in Pose gestellt worden.
Evan rümpfte sein Näschen bei diesen seltsamen Fotos. »Wo sind die glücklichen Leute?«, wollte er wissen.
Jake musste lachen. »Diese Leute waren vermutlich auch glücklich, Evan. Aber sie lachten für gewöhnlich nicht, wenn ein Foto gemacht wurde. Jede Bewegung hätte die Aufnahme verdorben.«
Die Kinder erkannten natürlich niemanden auf den Bildern, und nirgendwo stand ein Name, der ihnen hätte weiterhelfen können. Daniel war bald entmutigt.
»Wonach suchen wir überhaupt?«, wollte er wissen.
Addie zuckte nur die Achseln. »Das weiß ich auch nicht genau.«
»Wenn wir nicht wissen, wonach wir suchen, wie sollen wir dann wissen, wenn wir es gefunden haben?«, fragte Abe vorsichtig.
Addie lächelte, obwohl ihr nicht danach zumute war. »Für einen Vierjährigen stellst du ganz schön knifflige Fragen«, war ihre einzige Antwort.
Sie schlug die letzte Seite des Albums auf und pfiff durch die Zähne. »Vielleicht ist es das, was wir suchen«, bemerkte sie leise.
Ein großer gelber Umschlag steckte hinter der letzten Seite des Fotoalbums. Darin waren noch verschiedene andere Bilder. Es waren Tafelfotos, sehr alte Bilder, die auf eine dünne Blechplatte gedruckt waren. Addie holte sie besonders vorsichtig aus dem Umschlag.
Sechs Tafelbilder waren in dem Umschlag. Auf allen war eine hübsche junge Frau abgebildet. Addie drehte die Abbildungen um und sah nach, ob ein Name auf der Rückseite stand. »W. Haile« war auf der Rückseite des ersten Bildes eingeritzt.
»Das ist Winnie Haile«, rief sie aufgeregt. Das zweite Bild zeigte Winnie mit einem kleinen Mädchen, ungefähr zwei Jahren alt. Sie saßen beide auf einem Stuhl mit hoher Lehne, trugen dunkle Kleider und eine Haube.
Die nächsten beiden Bilder zeigten die beiden in ähnlicher Pose. Das kleine Mädchen wurde zusehends älter.
Addie starrte fasziniert auf die allererste »Addie« in ihrer Familie. Das kleine Mädchen hatte ein schmales Gesicht und große dunkle Augen, die für sein Alter schon sehr erwachsen blickten. Addie merkte gar nicht, wie Jake ihr die letzten beiden Platten aus der Hand nahm.
»Addie. Addie!« Jakes drängender Tonfall riss Addie aus ihren Träumereien. »Schau dir diese mal an!«
Die Platte zeigte zwei junge Frauen, Winnie Haile und eine Freundin, die vor einem großen Backsteingebäude standen. Obwohl sie die Hauptsache auf der Fotografie waren, konnte man doch auf dem Bürgersteig, links von ihnen, Hunderte von Menschen entlangströmen sehen.
Winnie hielt die kleine Addie auf dem Arm. Auf der Rückseite waren drei Namen eingeritzt – W. Haile, A. Haile und A. Weston. Unterhalb der Namen stand noch ein anderes Wort, das wie »Chicago« aussah, wobei das »i« und das »c« fehlten. Eine Zeile darunter stand noch ein ganzer Satz, aber den konnte niemand mehr entziffern. Fast am Rand der Blechplatte war er so abgegriffen, dass man die Buchstaben kaum noch lesen konnte.
»Das ist die Original-Addie«, sagte Jake zu den anderen. Alle scharten sich um das Bild, um die legendäre Frau zu sehen. »Könnt ihr euch noch an den Brief erinnern? Er war unterschrieben mit Addie W. Das ist sie, Addie Weston.«
»Und die andere Frau ist Winnie Haile mit ihrem Baby Addie.« Addie nahm Jake das Foto wieder aus der Hand
und drehte es noch einmal um. »Ich wünschte, ich könnte entziffern, was hier unten steht!«
Sie hielt die Platte hoch, um im Licht des Fensters hinter ihr besser sehen zu können. »Das erste Wort fängt mit L an. Dann kommt ein i und das dahinten ist vielleicht ein o und da ist noch ein n.«
»Von dem zweiten Wort kann man eigentlich gar nichts erkennen. Nur wieder ein i und ein n«, meinte Jake.
»Da steht das«, ergänzte Christopher und deutete auf das dritte Wort.
Daniel nickte. »Du hast recht, Chris. Und im nächsten Wort stehen die Buchstaben rst und das letzte Wort sieht so aus wie Bild.«
Die Kinder studierten alle fieberhaft die rätselhafte Botschaft, aber sie konnten keinen Sinn darin erkennen.
»Wenn man nur die sichtbaren Buchstaben liest, steht da Lion in das rst Bild«, sagte Christopher.
»Kommt, wir zeigen Großmutter, was wir entdeckt haben«, schlug Addie vor. »Ich bin sicher, dass sie gar nicht wusste, dass dieser Umschlag hier drin war. Vielleicht kann sie sich einen Reim darauf machen. Wo sind denn Abe und Evan schon wieder?«
Die beiden kleinen Jungen waren zum anderen Ende des Speichers gelaufen und saßen dort in einer leeren Kiste, die sie umgestülpt hatten. Chris holte sie heraus und alle gingen zusammen in die Küche zurück.
Großmutter machte gerade Schinkenbrote. Sie konnte den Text auch nicht entziffern, aber sie war begeistert von der Entdeckung, die die Kinder gemacht hatten. »So, dann
hieß sie also Addie Weston. Das habe ich nie gewusst.
Dieses Bild habe ich auch nie zuvor gesehen. Das ist großartig! Ich werde es vergrößern und abziehen lassen. Und außerdem«, sie strahlte die Kinder an, »kennt Onkel
Ed den Präsidenten der Gesellschaft für Heimatkunde. Er bekommt den Schlüssel und wird nach dem Mittagessen mit euch auf den alten Friedhof gehen. Ihr werdet diesen Schatz schon noch finden.«
Die »Kronjuwel«
Großmutter wandte sich nun wieder den Schinkenbroten zu und die Kinder setzten sich um den Küchentisch und warteten auf das Mittagessen.
»Würde mich interessieren, wo dieser Friedhof ist«, meinte Daniel.
»Ich liebe Friedhöfe«, verkündete Abe.
Jake lachte den kleinen Kerl an. »Es gibt ja rein gar nichts, was du nicht liebst, stimmt’s?«
»Abe«, sagte Christopher ungeduldig, »auf Friedhöfen werden Leute begraben.«
Abe sah beunruhigt aus: »Echte Leute?«
Chris lehnte sich vor, ergriff seinen Bruder am Arm und flüsterte in sein Ohr. »Ja. Echte tote Leute!«
Für Christopher war es ein Glück, dass von den Erwachsenen keiner diese Unterhaltung mitbekam. Abes Augen wurden groß und er riss seinen Arm von seinem Bruder los. Er sprang von seinem Stuhl und wollte aus dem Zimmer rennen, prallte aber gegen seinen Vater.
»Ich geh auf keinen Friedhof«, sagte er mit Nachdruck
und puffte zur Bekräftigung seinen Vater gegen das Bein.
»Ich bleib hier. Komm Evan!«
Brav trottete Evan hinter seinem Bruder her und Onkel Jim sah ihnen verwundert hinterher.
»Und ihr wollt zum Friedhof?«, fragte er die älteren Kinder.
»Onkel Ed geht mit uns, um Winnie Hailes Grab zu finden«, erklärte Addie.
»Ich glaube, Abe möchte nicht mit«, meinte Chris.
»Ach wirklich? Wann gibt es Mittagessen?«
»Sobald jemand den Tisch deckt«, sagte Großmutter und stellte zwei große Platten mit belegten Broten vor Daniel auf den Tisch. »Keiner isst, ehe nicht alles fertig ist.«
Die Kinder, die alle von dem Ausflug zu Irlene einen Bärenhunger hatten, eilten, um Teller, Besteck, Servietten und Gläser auf den Tisch zu stellen. In Windeseile war der Tisch gedeckt, die Familie versammelt und Großmutter sprach das Tischgebet.
Gegen Ende der Mahlzeit klopfte Onkel Ed an die Tür. Er nahm sich ein Brot, während die Kinder liefen, um sich Mäntel, Schals, Mützen und Handschuhe anzuziehen.
»Ja, zieht euch nur warm an!«, rief er. »Der Wind ist stärker geworden und es hat angefangen zu schneien. Ich glaube, wir bekommen einen Sturm.«
Alle liefen zum Auto, als Addie plötzlich zögerte. »Ich bin gleich zurück«, rief sie und rannte noch einmal in die Bibliothek, holte ein Stück Zeichenpapier und einen Bleistift. Sie rollte das Blatt auf und steckte es mit dem Stift
in ihre linke Manteltasche. Dann nahm sie noch den Brief und den Schlüssel, steckte den Schlüssel vorsichtig in den gefalteten Brief und schob alles in die andere Manteltasche. Diese Tasche hatte nämlich einen Reißverschluss und so waren beide Teile gut verwahrt. Dann lief sie hinaus zum Wagen.
Diesmal saßen Addie und Jake vorne. Chris und Danny nahmen auf dem Rücksitz Platz. Unten am Fuß des Hügels, auf dem Großmutters Haus lag, bog Onkel Ed ab und fuhr stadtauswärts.
»Der alte Friedhof ist nur ungefähr eine Meile entfernt«, erklärte er. »Aber die Abzweigung dorthin ist schwer zu finden. Helft mir bitte und haltet die Augen offen. Es muss auf der linken Seite sein.«
Sie schauten alle aufmerksam aus den Fenstern und Chris entdeckte als Erster den schmalen Feldweg, der von braunen Büschen fast völlig verdeckt wurde. Onkel Ed bog ab und fuhr über einen flachen Hügel.
Hinter dem Hügel stand ein verrosteter Eisenzaun, der eine Reparatur dringend nötig gehabt hätte. Sie stellten den Wagen ab, und Onkel Ed führte sie zum Eingang. Das Tor war durch eine Kette mit einem einfachen Schloss gesichert. Er öffnete das Schloss mit einem kleinen Schlüssel und das Tor schwang ächzend auf.
Der Friedhof war klein. Die Kinder konnten ihn mit einem Blick vollständig erfassen. Die meisten Grabsteine waren umgefallen, verwittert und mit Unkraut überwuchert. Die Inschriften auf den Steinen waren vielfach durch Wind und Regen abgeschliffen worden. Sie alle
fingen an zu frieren, denn der Wind blies hier völlig ungebremst und heftig.
»Nun, es sollte nicht allzu lange dauern, sie zu finden, wenn sie hier beerdigt ist«, meinte Onkel Ed. »Warum teilen wir uns nicht auf und suchen in verschiedenen Reihen? Wir suchen die Längsreihen durch, das ist am sinnvollsten.«
Alle waren einverstanden und es dauerte nicht lange, bis sie den Friedhof abgesucht hatten. Man konnte fast alle Inschriften noch entziffern und die Kinder bewegten sich schnell in dem bitterkalten Wind. Wieder war es Chris, der das Gesuchte fand.
»Hier ist sie! Hier ist sie!«, schrie er und hüpfte aufgeregt hin und her. Alle rannten zu ihm hinüber und Addie und Jake lasen die Inschrift auf dem Grabstein gemeinsam vor:
Hier liegt Winifred Johnson Haile
Geboren 1840 – gestorben 1895
Treue Gattin von Harrison
Liebevolle Mutter von Adlon Die heiligen Bande der Ehe wurden Jahre vorher in Tragik getrennt durch den Untergang der Kronjuwel. Der Herr gibt und der Herr nimmt.
Gelobt sei der Name des Herrn.
»Die Kronjuwel«, wiederholte Jake. »Das dürfte nicht so schwer zu finden sein.«
Addie sah sich die Grabsteine in der Umgebung genau an und Onkel Ed lächelte. Er gab ihr ein Zeichen, und sie folgte ihm zu einem kleineren Grabstein, der ein paar Reihen weiter stand.
»Sie liegt hier zusammen mit ihrem Ehemann in seinem Familiengrab«, sagte er und zeigte auf das Grab von Adlon Haile Kelley. Ihre Inschrift war ähnlich.
Hier liegt Adlon Haile Kelley Geboren 1859 – gestorben 1912
Ehefrau von Randolph Mutter von Nolda, Joseph, William und Edward Mein Herz hält dir vor dein Wort:
»Ihr sollt mein Antlitz suchen.«
Darum suche ich auch, HERR, dein Antlitz.
Addie holte das Zeichenpapier und den Bleistift aus ihrer Manteltasche. Das Stück Papier war nicht groß genug, um den ganzen Namen abzupausen, und so rubbelte Addie »Adlon Haile« und das Geburts- und Todesjahr durch.
Jake kam und sah zu. »Ganz schön clever«, meinte er anerkennend. »Bist du fertig?«
Addie fröstelte. »Darauf kannst du Gift nehmen.«
Onkel Ed verschloss das Tor wieder und sie verließen den kleinen Friedhof. Als sie am Fuß von Großmutters Hügel ankamen, hielt Onkel Ed an.
»Möchtet ihr nach Hause? Oder wollt ihr noch woanders hin? Ich könnte euch fahren«, bot er an.
»Wir sollten vielleicht noch einmal mit Irlene
sprechen«, sagte Addie. Onkel Ed kannte den Namen Mary Brockworth nämlich nicht, und so schien Irlene die Einzige zu sein, die sie zu der geheimnisvollen Frau führen konnte.
»Und ich möchte noch einmal in die Bücherei, um die Berichte über den Untergang der Kronjuwel zu finden«, fügte Jake noch hinzu.
»Wollt ihr wieder mit dieser Maschine arbeiten?«, fragte Christopher.
Jake nickte und der Junge seufzte.
»Onkel Ed kann dich nach Hause bringen«, beruhigte Addie ihren Cousin. »Jake und Daniel und ich können –«
»Äh, ich hatte gehofft, rechtzeitig zur Basketballübertragung wieder zu Hause zu sein«, warf Daniel ein.
Also setzte Onkel Ed Addie und Jake vor dem Haus von Irlene Campbell ab. »Ruft an, wenn ihr abgeholt werden möchtet«, rief er ihnen noch zu und war wegen des heulenden Windes kaum zu hören. Der Wind hatte mittlerweile fast schon Sturmstärke und um sie herum wirbelten Schneeflocken. »Sicher wollt ihr bei diesem Wetter nicht nach Hause laufen.«
Addie nickte und winkte, als Onkel Ed davonfuhr. Jake und sie rannten die Stufen zur Haustür hinauf. Sie klopften laut an die Tür und schauten durch die Scheibe, ob die alte Dame zu sehen wäre. Doch sie war nirgendwo zu sehen, und so klopfte Jake noch lauter, während sie sich die Arme rieben und mit den Füßen stampften, um warm zu bleiben. Nach einigen Minuten gaben sie auf und liefen die Straße hinunter zur Bücherei.
In der Bücherei schlug ihnen ungewöhnlich warme Luft entgegen, aber für die frierenden Kinder war das eine Wohltat. Sie gingen sofort in den Keller und fanden Joanna an ihrem Schreibtisch. Sie lächelte breit, als sie die beiden sah.
»Der Name des Schiffes war Kronjuwel«, rief Jake, ohne sich mit langen Vorreden aufzuhalten.
»Super!«, antwortete Joanna. Sie hob zwei große Bücher hoch, die sie auf eine Seite ihres Schreibtisches gelegt hatte. Das eine hatte den Titel Geschichte der Schiffskatastrophen in Amerika. Das andere hieß Schatzsuche: Wertvolle Funde im Meer. Sie reichte Jake und Addie den ersten Band und schlug im Index des zweiten selbst nach.
»Hier ist es«, sagte Addie leise. Im Kapitel »Gold auf dem Meeresgrund« wurde der Untergang der Kronjuwel detailliert beschrieben. Das Schiff war durch einen Hurrikan am 27. September 1858 untergegangen. Der Bericht gab die Menge des Goldes an, die an Bord gewesen sein sollte, sowie die Anzahl der ertrunkenen Passagiere. Es wurde über die mutigen Aktionen von kleineren Schiffen berichtet, die in der tosenden See versuchten, Menschen zu retten, und über die große Anzahl Medaillen, die der Kapitän der Kronjuwel posthum verliehen bekommen hatte. Er war mit seinem Schiff untergegangen.
In Joannas Buch stand nahezu dasselbe, aber es gab eine Fußnote mit dem Hinweis auf ein Buch mit dem Titel: Helden des Meeres: Der Untergang der Kronjuwel. Sie wollte gleich nach oben laufen, um nachzusehen, ob das Buch vorrätig war.
»Können wir uns den Mikrofilm noch einmal ansehen, um zu überprüfen, ob für die fragliche Zeit irgendwelche Ausgaben der Zeitung vorhanden sind?«, fragte Jake.
»Selbstverständlich«, erwiderte Joanna und zog die Kassette mit der Aufschrift »Januar – Dezember 1858« heraus. »Wenn wir Kopien aus dieser Zeit haben, sind sie auf diesem Film.«
Addie und Jake kannten sich mittlerweile mit dem Mikrofilmprojektor aus, deshalb ließ Joanna sie allein arbeiten und ging die Treppe hinauf.
Die Suche verlief enttäuschend. Zwischen dem 4. September und dem 1. November 1858 war nicht eine einzige Zeitung vorhanden. Der Schiffsuntergang war auch Anfang November noch Gesprächsthema, aber es handelte sich hierbei immer um die Augenzeugenberichte einiger Überlebender. Kein Artikel stammte von Winnie Haile. Außer diesen Schilderungen gab es noch zahlreiche Würdigungen des hoch geschätzten Kapitäns, der den sinkenden Dampfer virtuos gesteuert hatte.
Addie drückte gerade auf den Aus-Knopf, als Joanna neben sie trat. In der Hand hatte sie ein Exemplar des Buches Helden des Meeres: Der Untergang der Kronjuwel. Sie hatte einen Finger im Buch, um die Seite zu behalten, und legte es jetzt aufgeschlagen vor Addie und Jake auf den Tisch. Ihre Augen strahlten, als sie auf ein uraltes schwarzweißes Foto zeigte.
»Ist es das, wonach ihr gesucht habt?«, fragte sie.
Es war ein Bild, auf dem Winnie Haile mit ihrem Baby neben Adlon Weston stand.
Der Sturm
Wie haben Sie das denn gefunden?«, rief Addie.
Joanna lachte. »Mir fiel der Name eurer Großmutter ein. Vorne in dem Buch ist eine Liste der Überlebenden abgedruckt. Jeder von ihnen schrieb seine persönlichen Eindrücke nieder. Hier sind die von Winnie. Eine ziemlich spannende Geschichte.«
Addie schob das Buch in die Mitte des Tisches, damit sie und Jake gleichzeitig lesen konnten. Die Geschichte war wirklich ziemlich spannend. Winnie und Harrison Haile waren gerade ein paar Monate verheiratet gewesen, als sie sich entschlossen, in den Westen zu ziehen und dort nach Gold zu suchen. Zu ihrer Überraschung hatten sie bald großen Erfolg beim Schürfen. Sie wollten eigentlich noch länger in Kalifornien bleiben, aber dann wurde Winnie schwanger. Nun beschlossen sie, nach Connec ticut zurückzukehren, damit das Kind innerhalb der Familie Haile aufwachsen konnte.
Die Heimreise war extrem anstrengend. Weil Winnie im fünften Monat schwanger und in gesundheitlich
schlechter Verfassung war, wählten sie die relativ sichere und komfortable Dampfschiffpassage. Auf ihrem Weg nach Kalifornien hatten sie sich recht gut mit einem anderen jungen Paar, Addie und Arden Weston, angefreundet, die auch in Kalifornien gewesen waren und Gold gefunden hatten. Es war Addie, die der jungen werdenden Mutter in den schlimmsten Anfällen morgendlicher Übelkeit und Erschöpfung beistand.
Das erste Schiff, mit dem sie fuhren, war die Minerva. In Panama angekommen, verließen die Passagiere die Minerva und fuhren das kurze Stück bis zum Atlantischen Ozean mit der Eisenbahn. Dort wurden sie von der schicksalsträchtigen Kronjuwel aufgenommen.
Nach zwei Tagen auf See geriet die Kronjuwel in den verhängnisvollen Hurrikan. Das Schiff kämpfte mehrere Stunden lang gegen meterhohe Wellen und Windböen. Viele wurden seekrank, so auch Adlon Weston. Merkwürdigerweise blieb Winnie Haile von Übelkeit verschont und so konnte sie der lieben Freundin Addie ein wenig von der Fürsorge zurückerstatten, »die sie mir an meinem Krankenlager erwiesen hat«.
Am Abend wurde ein Leck entdeckt. Wasser drang ins Schiff ein. Während der Nacht stieg das Wasser so stark an, dass die Dampfmaschinen ausfielen und das Schiff nun führerlos auf dem Meer trieb. Alles verzweifelte Wasserschöpfen half nichts und bald war offensichtlich, dass das Schiff verloren war. Als im Morgengrauen ein fremdes Schiff gesichtet wurde, konnten alle Frauen und Kinder in Rettungsbooten das Schiff verlassen. Wegen ihres
Zustandes war Winnie Haile eine der Ersten, die in Begleitung von Adlon Weston das Schiff verlassen konnte. Ihre Ehemänner blieben aber noch an Bord der Kronjuwel zurück. Der nächste Absatz trieb Addie Tränen in die Augen:
Die Zeit unserer Trennung rückte immer näher, als die Rettungsboote zu Wasser gelassen wurden; trotzdem saß ich neben meinem geliebten Harrison, und wir sprachen von unseren Hoffnungen, unseren Plänen für die Zukunft und den Träumen, die wir für das Baby hatten, das geboren werden sollte. Dann befahlen wir uns der Gnade Gottes an und umarmten uns ein allerletztes Mal. Harrison war bis zum Ende ruhig, gefasst und zuversichtlich. Der Gedanke an die unerschütterliche Zuversicht meines Mannes stärkte mein Gemüt in den Tagen, die folgten, und half meine Tränen zu trocknen.
Addie musste hart schlucken und las weiter. Alle Frauen und Kinder, die die Kronjuwel verlassen hatten, wurden gerettet. Nachdem das Schiff am Morgen sank, wurden noch fünfzig Männer von einem vorbeifahrenden Schiff aus dem Wasser geborgen. Arden Weston war einer dieser Männer, aber Harrison Haile blieb auf See vermisst.
So weit reichte der persönliche Bericht von Winnie Haile, aber auf einem Textbalken neben ihrem Foto wurde die Geschichte fortgeführt. Die traumatischen Erlebnisse auf See hatten ihre Schwangerschaft in höchstem Maße
gefährdet. Als die Geretteten in New York ankamen, wurde eine Fehlgeburt befürchtet. Statt zu Harrisons Familie nach Connecticut zu reisen, verbrachte die junge Witwe die nächsten vier Monate in New York. Im Haus von Adlon und Arden Weston lag sie bei strenger Bettruhe und wurde liebevoll versorgt. Hier wurde auch am 28. Januar des Jahres 1859 ihre Tochter Adlon geboren.
Nach einer Zeit der Erholung reiste Winnie dann zur Familie ihres verstorbenen Ehemannes nach Connecticut. Im Mai 1859 kam sie endlich wieder zu Hause an.
Die Fotografie, auf der Winnie zusammen mit ihrer Freundin Adlon und der kleinen Addie zu sehen war, wurde im Mai 1860 in Chicago aufgenommen. Winnie war mit ihrer kleinen Tochter dorthin gereist, um sich mit Addie und Arden zu treffen, die noch einmal nach Kalifornien reisen wollten in der Hoffnung, das Vermögen, das sie zwei Jahre vorher auf See verloren hatten, wiederzuerlangen.
Addie lehnte sich zurück und wartete, bis Jake zu Ende gelesen hatte.
»Wow«, war alles, was er sagen konnte, und Addie nickte zustimmend.
Joanna, die inzwischen wieder an ihrem Schreibtisch saß, sah, dass die beiden fertig waren, und kam zu ihnen.
»Ihr könnt das Buch gerne ausleihen, wenn ihr möchtet«, sagte sie.
»Wir haben keine Ausleihkarte«, erinnerte Addie sie.
»Ach ja, richtig«, erwiderte Joanna. »Aber wisst ihr was? Ich werde das Buch auf meine Karte ausleihen. So
könnt ihr es mit nach Hause nehmen und eurer Großmutter zeigen und sie bringt es dann nächste Woche wieder zurück, okay?«
»Vielen Dank!« Addie strahlte. »Sie waren wirklich eine große Hilfe.«
Joanna lachte. »Das ist die Bestimmung eines Bibliothekars«, meinte sie scherzhaft. Sie schaute auf ihre Uhr. »Wir müssen uns beeilen. Das Wetter ist sehr schlecht geworden. Es wurde eine Sturmwarnung ausgegeben, deshalb wird die Bibliothek heute früher geschlossen als sonst«, erklärte sie ihnen. »Soll ich euch nach Hause bringen?«
»Das wäre klasse«, sagte Addie, »wenn es nicht zu viele Umstände macht.«
»Überhaupt nicht.« Joanna nahm Addie das Buch aus der Hand und eilte nach oben.
Ernie kam aus dem hinteren Raum. Er schob den Wagen mit den Putzutensilien vor sich her. Als er die Kinder am Schreibtisch sitzen sah, winkte er ihnen. Sie winkten zurück. Er stellte den Wagen weg und kam den Gang herunter.
»Die Bibliothek macht bald zu«, erklärte er. »Es schneit sehr stark draußen. Wisst ihr beiden, wie ihr nach Hause kommt?«
Jake lachte. »Joanna hat uns gerade angeboten, uns mitzunehmen«, antwortete er dem freundlichen älteren Herrn.
»Das muss sie aber nicht«, meinte Ernie. »Ich wohne genau auf der anderen Seite von dem Hügel, auf dem das Haus eurer Großmutter steht. Ich muss nur noch zwei
Meilen weiter stadtauswärts. Auf dem Weg nach Hause kann ich euch absetzen.«
Addie und Jake sahen einander an und zuckten die Achseln.
»Gebt mir Bescheid«, sagte Ernie. »Ich muss noch einige Sachen holen, ehe ich aufbreche.«
Ernie verschwand wieder im hinteren Geräteraum. Addie nahm noch einmal die Geschichte der Schiffskatastrophen in Amerika zur Hand und begann, das Kapitel über die Titanic zu lesen.
Jake griff nach Schatzsuche: Wertvolle Funde im Meer, entschied sich aber dann doch anders. »Ich werde nach oben auf die Toilette gehen«, erklärte er Addie. Sie nickte gedankenverloren, denn sie steckte schon mittendrin in der spannenden Schilderung der berühmtesten Schiffskatastrophe aller Zeiten. Plötzlich bemerkte sie, dass neben ihr jemand stand. Sie sah hoch und er wartete, Jake zu sehen. Stattdessen lachte Ernie sie an.
»Na, habt ihr euch überlegt, ob ihr mitfahren möchtet?«, fragte er.
»Ich glaube nicht, Ernie«, antwortete Addie. »Ich habe noch einige Fragen an Joanna. Wir werden auf sie warten. Trotzdem vielen Dank.« Addie lächelte den alten Mann an.
»Wie ihr möchtet«, meinte er freundlich. »Ich hoffe, dass ihr findet, wonach ihr sucht. Also dann, tschüss.«
Addie sah ihm nach, wie er langsam die Stufen zum Erdgeschoss hinaufging. Dann wandte sie sich wieder ihrer Geschichte zu.
Kurz danach gesellte sich Jake wieder zu ihr und setzte sich auf seinen Stuhl. Er sah, dass Addie ganz in ihr Buch vertieft war, und so fing auch er an zu lesen.
Schließlich war Addie fertig mit dem Kapitel über die Titanic und klappte das Buch zu. Jake lächelte.
»Interessant?«, wollte er wissen.
Addie kräuselte die Nase. »Sehr interessant – aber traurig.«
Jake zuckte die Achseln. »Ich habe noch nie von einem fröhlichen Schiffsuntergang gehört«, bemerkte er trocken.
Addie musste lachen. »Ja, da hast du recht, glaube ich«, sagte sie. Dann fiel ihr Blick auf das Buch, das er las. Es war Helden des Meeres: Der Untergang der Kronjuwel. »Wo hast du das denn her?«, wollte sie wissen.
»Oben habe ich Joanna getroffen«, sagte er. »Sie hat es mir gegeben.«
»Wo ist sie jetzt?«, fragte Addie ihn.
»Ich habe ihr gesagt, dass Ernie uns nach Hause fährt, da ist sie gegangen. Draußen ist es wirklich schlimm. Ich hoffe, Ernie ist bald fertig zur Abfahrt.« Jake sah zum Hinterzimmer hinüber und suchte nach dem Hausmeister.
Addie stöhnte. »Na wunderbar«, murmelte sie.
»Was?«
»Ich haben Ernie gesagt, dass Joanna uns nach Hause bringt. Er ist seit ungefähr zehn Minuten weg.«
Jake blieb der Mund offen stehen. Dann begann er laut zu lachen. »Du meinst, wir hatten zwei Angebote, nach Hause gebracht zu werden, und jetzt haben wir gar nichts?«
Addie grinste zurück. »Glasklar erkannt.«
»Na gut«, meinte Jake. »Lass uns nach oben gehen und telefonieren. Jemand von zu Hause wird uns abholen.«
Sie gingen schnell die Treppe hinauf und traten in den halbdunklen Raum.
»Komm, wir suchen nach dem Lichtschalter«, flüsterte Addie zurück. Dann kicherte sie. »Warum flüstern wir eigentlich?«
»Weil es hier ganz schön unheimlich ist, wenn man ganz alleine ist«, antwortete Jake mit normaler Stimme. Seine Stimme gab ein lautes Echo, das dann im leeren Raum verhallte. »Das ist ja vielleicht komisch«, flüsterte er.
Langsam und dicht beieinander gingen sie den Gang hinunter zu dem Tisch, an dem die Hauptbibliothekarin ihren Platz hatte. Es schien unendlich lange zu dauern, bis sie dort angekommen waren. Als Addie hinter den Schreibtisch trat, fühlte sie sich wie auf einem Präsentierteller.
»Hier ist ein Telefon«, sagte sie und nahm den Hörer ab. Der Ton der Amtsleitung in ihrem Ohr beruhigte sie wieder ein bisschen und sie wählte schnell Großmutters Nummer.
Es klingelte einmal, zweimal, und dann hörte man ein lautes Klicken. Weit entfernt schien jemand etwas zu sagen, aber Addie konnte kein Wort verstehen. Dann folgte wieder der Amtston.
Sie schaute Jake entsetzt an und er nahm ihr den Hörer aus der Hand. »Reg dich nicht auf, wir probieren
es noch einmal«, meinte er. Er wählte wieder die Nummer. Einmal Klingeln, zweimal Klingeln, klick. Wieder ein Versuch – einmal Klingeln, zweimal Klingeln, dreimal Klingeln, klick.
»Wo liegt das Problem?«, überlegte er.
»Wahrscheinlich sind die Telefonleitungen durch den Sturm gestört«, meinte Addie.
Jake legte den Hörer zurück auf die Gabel. »Weißt du was? Ich kann mich noch erinnern, als ich einmal aus der Schule versucht habe, meine Mutter anzurufen. Damals konnte ich sie nicht hören, aber sie konnte mich hören. Vielleicht sollten wir es noch einmal versuchen und einfach sprechen, so als ob jemand am anderen Ende zu hören würde.«
»Natürlich, einen Versuch ist es wert«, stimmte Addie zu.
Wieder wählte Jake die Nummer. Nachdem es zweimal geklingelt und einmal geklickt hatte, begann er zu sprechen. »Addie und ich sitzen hier in der Bücherei fest. Wegen des Sturmes wurde heute vorzeitig geschlossen und wir wurden versehentlich hier eingeschlossen. Bitte kommt und holt uns!«
Dann starrte er auf den Hörer, als ob dort jemand zu sehen wäre, und Addie musste lachen. Jake wurde rot und legte auf.
»Was sollen wir jetzt machen?«, wollte Addie wissen.
»Komm, wir sehen mal nach, wie das Wetter draußen überhaupt ist. Im schlimmsten Fall müssen wir wahrscheinlich nach Hause laufen«, sagte Jake.
Der schlimmste Fall war bereits eingetreten. Als sie durch die Eingangstür nach draußen schauten, konnten sie die Straßenlaterne, die nur ein paar Meter entfernt stand, kaum noch erkennen. Alle Umrisse wurden von einem Teppich aus dicken wirbelnden weißen Flocken verdeckt. Außerdem war die Eingangstür von innen verschlossen.
»Na, klasse«, murmelte Jake. »Selbst wenn uns jemand abholen würde, könnten wir nicht nach draußen.«
»Einer von den Bibliothekaren muss doch einen Schlüssel haben.«
»Die wissen aber nicht, dass wir hier drinnen sind«, erinnerte sie Jake.
»Joanna und Ernie haben vermutlich einen Schlüssel.«
»Joanna denkt, wir sind zu Hause. Und Ernie glaubt das auch.«
»Wenn unsere Eltern mitbekommen, was mit uns passiert ist, werden sie jemanden finden«, versetzte Addie kurz. Sie wollte sich nicht von Jakes Pessimismus anstecken lassen.
»Das könnte eine Weile dauern.«
Addie musste nun auch zugeben, dass sie in einer ziemlichen Klemme steckten. »Sie drehen wohl auch die Heizung übers Wochenende ab«, sagte sie. »Mir ist eiskalt.«
»Mir auch«, bestätigte Jake. »Lass uns nach unten gehen und unsere Mäntel holen.«
»Gute Idee«, stimmte Addie zu. Sie gingen zurück durch den nun immer dunkler werdenden Raum und rannten die Treppe hinunter in den noch beleuchteten Keller. Jake stieß versehentlich gegen den Karton, der die Tür
aufhielt. Er rutschte zur Seite und die Tür fiel lautlos ins Schloss.
Sie fanden ihre Mäntel und Addie zog ihren sofort an. Jake folgte mit seiner Jacke und steckte sich das Buch in die Tasche.
»Wir gehen am besten wieder nach oben und versuchen, den Lichtschalter zu finden«, schlug er vor. »Wenn wir alle Lampen anschalten, wird das bestimmt jemand sehen und die Polizei alarmieren.«
»Gute Idee«, Addie war einverstanden. »Sollen wir hier unten das Licht abdrehen?«
»Ja«, sagte Jake. »Der Schalter ist neben der Tür.«
Addie drehte das Licht genau in dem Augenblick ab, als Jake am Türknopf drehte. Aber der Türknopf bewegte sich nicht und Addies Herz rutschte im Raketentempo nach unten.
Jake rüttelte am Türknauf und zog fest an der Tür, aber ohne Ergebnis. Addie schaltete das Licht wieder an und die beiden Kinder starrten sich an.
Sie konnten es nicht fassen!
Addie fand als Erste ihre Sprache wieder: »Na ja«, meinte sie, »sieh es mal so: Schlimmer kann es wirklich nicht mehr kommen.«
Über ihnen klingelte das Telefon.
»Ach ja?«, sagte Jake finster.
Der Schatz
Endlich hörte das Klingeln auf.
»Glaubst du, das waren unsere Eltern?«, fragte Addie ihren Cousin.
Jake zuckte die Achseln. »Ich hoffe, es war nicht mein Dad. Wäre interessant zu sehen, wie er mir das hier in die Schuhe schiebt.«
»Worüber habt ihr euch gestern Abend denn unterhalten?«, wollte Addie wissen.
»Er hat … sich entschuldigt«, gab Jake zu.
Addie sagte erst einmal gar nichts.
»Er versucht es, Jake. Vielleicht solltest du ihm auf halbem Wege entgegenkommen.«
Jake gab keine Antwort und Addie versuchte es noch einmal. »Großmutter sagte, dass Großvater und Onkel Lee es auch sehr schwer miteinander hatten.«
Jake nickte. »Das konnte man auf den Bildern in Großmutters Fotoalben deutlich sehen. Ich habe den Ausdruck auf seinem Gesicht wiedererkannt. Ich weiß genau, wie er sich fühlte, als Außenseiter in der Familie.«
Als er das ausgesprochen hatte, schien er überrascht über sich selbst zu sein, und Addie musste lachen.
»Vielleicht habt ihr beiden mehr Gemeinsamkeiten, als euch bewusst ist«, meinte sie.
»Kann sein«, gab er widerstrebend zu. Er stand auf und wechselte das Thema. »Bestimmt gibt es hier im Keller noch einen anderen Ausgang«, sagte er.
Den gab es, aber die Tür war auch verschlossen. »Könnte es vielleicht sein, dass sie hier unten irgendwo Ersatzschlüssel aufbewahren?«, meinte Addie. »Wenn wir einen Schlüssel fänden und hier raus kämen, könnten wir es bestimmt bis zu Irlenes Haus schaffen.«
»Sofern sie zu Hause ist«, antwortete Jake düster. »Nennen wir es doch einfach mal beim Namen, Addie. Ich denke, dass wir hier noch einige Zeit festsitzen werden. Wenn Joanna und Ernie darauf kommen, was passiert ist, werden sie vermutlich zuerst bei Großmutter anrufen, um nachzuhören, ob uns nicht jemand anders abgeholt hat. Natürlich wird die Antwort Nein lauten, also rufen sie in der Bibliothek an, um sich zu vergewissern, dass es uns gut geht. Wenn wir nicht ans Telefon gehen, werden sie denken, dass wir woanders sind oder dass wir zu Fuß auf dem Weg nach Hause sind.«
»Also wird jemand sich auf die Suche nach uns machen, aber sie werden an den völlig falschen Stellen suchen«, fuhr Addie fort.
Jake nickte und verdrehte die Augen. »Meine Mutter bekommt eine Krise, wenn sie denkt, dass ich im Schneesturm durch die Gegend wandere.«
Addie drehte sich um und ließ sich mit dem Rücken an der Wand auf den Fußboden gleiten.
Jake gesellte sich zu ihr. Sie schloss die Augen und keiner von ihnen sagte etwas.
»Herr«, murmelte Addie schließlich, »bitte hilf, dass irgendjemand herausfindet, was passiert ist. Schnell.« Sie hielt inne. »Ich muss auf die Toilette.«
Jake kicherte und Addie puffte ihn. »Das ist nicht lustig.«
»Ich wette, es gibt hier unten irgendwo auch eine Toilette«, sagte er.
»Wahrscheinlich ist sie abgeschlossen«, brummelte Addie.
Sie standen beide auf und gingen zum anderen Ende des Kellers. Sie wussten, welches der Lagerraum war, denn sie hatten Ernie dort mehrfach ein- und ausgehen sehen. Es gab aber noch zwei weitere Türen. In einem Raum waren Möbel untergestellt und der andere war die Waschküche, in der Ernie seinen Reinigungskarren aufbewahrte.
»Was ist mit dem anderen Ende?«, meinte Jake.
Dort gab es nur eine einzige Tür. Zu Addies großer Erleichterung war es eine Toilette – und sie war offen.
»Fang doch schon mal an, nach Schlüsseln für die Außentüren zu suchen«, schlug Addie ihrem Cousin vor.
Als sie wieder zu Joannas Schreibtisch zurückkam, hatte er sich dort schon häuslich eingerichtet. Die Füße auf einer offenen Schublade, ging er gerade mit dem Zeigefinger eine lange Liste durch.
»Keine Schlüssel«, sagte er schließlich.
Addie zog die oberste Schreibtischschublade auf. Jake nahm schwungvoll seine Füße von der untersten Schublade.
»Wenn du mir nicht glaubst, schau halt selbst nach«, grinste er.
Genau das tat Addie, und sie verbrachte die nächsten Minuten damit, den Inhalt jeder Schublade peinlich genau zu durchsuchen. Auch hinter den Schubladen sah sie nach.
Keine Schlüssel.
»Zufrieden?«, wollte Jake wissen.
Addie schnitt nur eine Grimasse. »Was liest du da gerade?«
»Das hier ist eine Liste von Dingen, die in den Lagerräumen gefunden wurden«, antwortete er. »Hör dir das mal an: Rechenschieber. Rechenmaschine. Kaminrost. Atlas von 1929 –«
»Ein Kaminrost?«, rief Addie. »In einer Bibliothek?«
»Vielleicht gab es hier mal einen Kamin«, vermutete Jake. »Aber es kommt noch besser: Hanteln. Taschenrechner (4). Einmachgläser. Weihnachtsbaum …«
Addie unterbrach ihn noch einmal. »Ich verstehe nicht, warum in einer Bibliothek solche Gegenstände in den Lagerräumen liegen.«
»Das hier ist eine Liste mit Dingen ›Besitzer/Herkunft – unbekannt‹«, las er vor. »Die zweite Liste ist wesentlich länger. Darauf stehen die Namen von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften und solche Sachen. Bibliothekenkram halt.«
Addie nahm ihm die Listen aus der Hand und sah sie aufmerksam durch. Hinter dem Blatt war noch ein Papier angeheftet, das nicht mit der Maschine geschrieben war. Dieses Blatt war handschriftlich erstellt worden. Addie blätterte zwischen beiden Zetteln mehrere Male hin und her.
»Ah ja, ich verstehe«, sagte sie schließlich. »Die getippten Listen sind von den ersten beiden Räumen, die schon durchgesehen sind. Diese Liste«, sie zeigte ihm die letzte Liste, »gehört zu dem Raum, den sie jetzt aufräumen.«
Jake nickte. Joannas Handschrift war klar und sauber, aber trotzdem war das Blatt schwer zu entziffern, weil sie überall mit verschiedenfarbigen Stiften Zusätze und Bemerkungen an den Rand geschrieben hatte.
»Johnson Dekoration Familiengrab«, las Jake. Er blätterte um. »Fotoreportage Geschichte von Camp Point. Das hört sich interessant an. M. Brockworth Chalmers, Kameltruhe.«
Jake stutzte und Addie riss ihm die Liste aus der Hand.
»M. Brockworth!«, schrie sie aufgeregt. »Das ist sie! Noldas beste Freundin! Brockworth war ihr Mädchenname. Steht da noch mehr über sie?«
Die beiden Kinder überflogen aufgeregt die Seite und Jake fand ihren Namen ganz unten noch einmal.
»M. Chalmers 1925–1945. Was soll das denn heißen?«
Er hielt inne und zeigte auf etwas. »Schau mal. Hier steht ›Bibliothekare‹ und da sind noch vier weitere Namen aufgeführt. Sie muss hier für zwanzig Jahre als Bibliothekarin gearbeitet haben.«
»Und ihre Truhe steht hier im Lagerraum!«
Die beiden Kinder stolperten fast übereinander bei dem Versuch, als Erster zum anderen Ende des Kellers zu kommen. Jake kam zuerst an. Er griff nach dem Türknauf und zog.
Abgeschlossen.
Addie stöhnte laut auf und Jake riss am Türgriff und trommelte frustriert gegen die Tür.
»Okay, okay«, meinte Addie dann. »Beruhigen wir uns erst mal und denken nach. Joanna hat ihre Schlüssel, aber es müssen Zweitschlüssel sein, denn Ernie muss hier ständig raus und rein und so …«
»Ernie!« Beide Kinder schrien den Namen fast gleichzeitig und rasten zu dem Raum zwei Türen weiter. Die Waschküche war nicht abgeschlossen und der Putzwagen stand direkt hinter der Tür. Rund um den Hals einer Flasche mit Desinfektionsmittel hing ein Band mit einem Schlüssel.
»Danke, Herr!« Addie atmete durch und nahm den Schlüssel. Sie gingen zurück zum Lagerraum und öffneten die Tür.
Der erste Raum roch nach Desinfektionsmittel und hier war offensichtlich schon geputzt worden. Bücher und Papiere waren ordentlich auf Regalen und in Kartons verstaut. Große weiße Schilder an der Wand zeigten den jeweiligen Inhalt an. Es gab noch zwei weitere Türen, eine links und eine andere am hinteren Ende des Zimmers.
Die Tür links führte in einen kleineren Raum. Auch hier war erst kürzlich aufgeräumt worden. Allerdings war
es etwas staubiger und der Fußboden war nicht gesäubert worden.
»Sieht so aus, als wären sie es langsam leid, hier sauber zu machen, was?«, fragte Jake und grinste.
Jetzt blieb nur noch das letzte Zimmer, und Addie drückte den Lichtschalter neben der Tür. Dieser Raum gab ihnen einen Eindruck von der riesigen Aufgabe, vor der Joanna und Ernie ganz am Anfang gestanden hatten. Der Staub hing hier so dick in der Luft, das Addie ihn fühlen konnte, wenn sie einatmete. Überall hingen Spinnweben, und das kleine Fenster nahe der Decke war so schmutzig, dass man von dem Sturm, der draußen tobte, nichts sehen konnte.
Die Deckenlampe bestand aus einer simplen Glühbirne. Sie warf bizarre Schatten an die Wand und ließ den Raum sehr schäbig aussehen. Kisten waren übereinandergestapelt, manche Stapel reichten bis zu Addies Kopf. An allen Wänden waren Bücher aufgereiht. Stapelweise lagen Zeitungen auf dem Boden, die mit einfachen Schnüren notdürftig zusammengebunden waren.
Jake schnüffelte und rieb sich die Nase. »Das ist ja ekelhaft«, brummte er.
Addie schaute ihren Cousin an. »Jake …«, fing sie an.
Jake nickte. »Ich weiß, was du denkst. Aber ich glaube wirklich nicht, dass Joanna etwas dagegen hätte, dass wir hier drin sind. Ich meine, wir bringen ja nichts durcheinander«, grinste er. »Bei all dem Staub, den ich in der Nase habe und an meinen Kleidern mitnehme, ist es wahrscheinlich schon sauberer hier, wenn wir wieder gehen.
Und wir schauen uns auch nicht die Sachen von irgendeinem anderen an, richtig?«
Addie nickte. »Richtig. Aber was ist überhaupt eine Kameltruhe?«
»Eine Truhe mit einem Buckel oben drauf«, meinte Jake, »manche haben flache Deckel, andere nicht. Du kannst auf einen solchen Deckel nichts drauflegen, also sollte die Truhe leicht zu finden sein.«
»Sie haben die Truhe schon gefunden, erinnerst du dich?«, warf Addie ein.
»Genau. Wo siehst du hier so etwas wie Ordnung?«, fragte er.
Zögernd betrachtete Addie den Raum ganz genau. »Vielleicht … da hinten«, sie zeigte mit dem Finger in eine Ecke.
Dort standen auch Stapel von Kisten und Papieren, aber diese Stapel waren von der Wand abgerückt worden. Jake und Addie stiegen über Berge von Papier in der Mitte des Ganges und schauten hinter zwei Kartons nach, die schon so alt waren, dass die Ecken zerfleddert waren und die Seitenteile sich durchbogen.
»Bingo«, flüsterte Jake. Er schob den einen Karton zur Seite. Er riss und bog sich noch mehr. Er wartete, um sicherzugehen, dass nichts herausfallen konnte, dann schob er den anderen Karton zur anderen Seite. Er blieb ganz. Das verschaffte ihnen genügend Platz, die Truhe herauszuziehen. Jake nahm einen Griff und Addie den anderen, aber Addies zerriss, als sie daran zog.
»O nein«, jammerte sie.
»Mach dir keine Sorgen«, tröstete Jake sie. »Dieser ganze Kasten fällt sowieso schon fast auseinander.«
Addie schaffte es, sich hinter die Truhe zu zwängen, und nun schob sie, während Jake zog. Sie zerrten den sperrigen alten Kasten in die Mitte des Zimmers unter die Glühbirne. Jetzt konnten sie besser sehen.
Die Truhe war in einem jämmerlichen Zustand. Das Leder, mit dem die ganze Truhe einmal überzogen gewesen war, war in großen Fetzen abgefallen und man konnte den Holzkörper darunter sehen. Den Namen Brockworth konnte man an der Vorderseite aber immer noch entziffern, auch wenn die Buchstaben R, C, K und O fehlten. Der Metallrahmen war verrostet und die Schnalle auf einer Seite völlig abgerissen. Der Verschluss in der Mitte war immer noch in Ordnung und ein altmodisches, rundes Schloss hing daran, das wirklich sehr solide aussah.
»Natürlich ist ein Schloss dran«, stöhnte Jake.
Addie grinste. Sie griff in ihre Tasche und zog den Reißverschluss zur Innentasche auf, in der der Brief und der Schlüssel steckten. Sie zog beides heraus und wickelte den Schlüssel aus. Jake starrte sie verblüfft an.
»Hast du das immer in der Tasche, egal, wo du hingehst?«, fragte er.
»Natürlich nicht«, lachte Addie. »Aber ich dachte, dass wir vielleicht noch einmal bei Irlene vorbeischauen würden und ich wollte ihr den Schlüssel zeigen. Ich dachte, das könnte möglicherweise ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen.«
Jake schüttelte immer noch ungläubig den Kopf, als
Addie den großen Schlüssel ins Schloss steckte. Er ließ sich leicht drehen und mit einem leisen Klick sprang das Schloss auf.
Jake stieß den Deckel auf und rostige Angeln protestierten mit einem schauerlichen Gequietsche, das durchaus im Stande war, mit dem Ton quietschender Kreide auf einer Schiefertafel zu konkurrieren. Die Truhe war bis oben vollgestopft mit Papieren, Fotoalben und Kästchen aller Formen und Größen. Addie war überwältigt.
Jake dachte kurz nach und traf dann eine Entscheidung. »Wir sehen uns die feinen Kistchen an«, bestimmte er. »Irlene sagte, dass Nolda stolz auf ihren Schatz war. Sie hätte die Sachen sicher nicht in so einer Kiste aufbewahrt.« Er griff nach einer Zigarrenkiste aus Pappe und öffnete sie. Sie war voller Taschentücher. »Siehst du?«
»Okay«, stimmte Addie zu. Sie nahmen vorsichtig die Kistchen heraus und stapelten sie neben der Truhe. Es waren mehrere »feine« darunter und sie schauten sich jede einzelne genau an. Sie waren schon fast auf dem Boden der Truhe angelangt, als sie endlich das fanden, was sie suchten.
Eine kleine viereckige Holzkiste lag auf einem Fotoalbum. Die Initialen NKE waren auf dem Deckel eingraviert und Addie nahm das Kästchen vorsichtig heraus.
»Das ist es, Jake«, flüsterte sie. »Nolda Kelley Elder.«
»Mach es auf!«, zischte er.
Sie kicherte nervös und nahm den Deckel ab. Darunter lag ein kleines Samtbeutelchen. Jake hob es auf und pfiff leise durch die Zähne.
»Halt das mal!«, befahl er und gab den Beutel an Addie weiter.
Er war überraschend schwer. Sie schob ihre Finger zwischen die Falten oben an der Öffnung und machte ihn auf. Darin waren fünf kleine, schmuddelige gelbe Steine, die sie auf Jakes Handfläche schüttete. Sie starrten beide auf die Steine.
Jake lachte. »Es ist auch noch nicht rein. Fühl mal, wie weich es ist.« Er presste einen Stein zwischen Daumen und Zeigefinger. Addie machte es ihm nach und ihre Augen leuchteten auf.
»Das hier ist total cool«, hauchte sie.
»Was ist sonst noch da?«, wollte Jake wissen. Er schob die Goldnuggets wieder zurück in den Beutel.
Addie hob eine lange silberne Kette mit einem Silbermedaillon aus dem Kistchen. Das Dampfschiff Kronjuwel war auf einer Seite eingraviert. Auf der anderen stand eine Botschaft – Für W. in Liebe H.
»Wie schön«, flüsterte Addie.
Jake nickte. »Sonst noch was?«
Der letzte Gegenstand in der kleinen Kiste war ein Tafelfoto. Jake nahm es heraus und runzelte die Stirn. »Es ist dasselbe Foto, das Großmutter im Flur hängen hat«, sagte er enttäuscht.
»Nein, ist es nicht«, erwiderte Addie. »Schau dir das Baby an. Man kann es kaum sehen. Es ist ein Schatten auf seinem Gesicht.«
»Ein Schatten?« Jake hob den Brief auf, den Addie hingelegt hatte, und überflog den Text. »… sie wird nicht im Schatten großer Männer aufwachsen, sondern in deren Fußstapfen treten«, las er aus dem Brief vor. »Wessen Schatten ist das?«
Addie hielt so plötzlich den Atem an, dass man ein scharfes Geräusch hörte.
»Was ist?«, fragte Jake. Sein Blick folgte ihrem, und seine Kinnlade klappte nach unten.
In der Menschenmenge neben Winnie mit dem Baby sah man eine schmale, hoch gewachsene Männergestalt. Seine Züge waren hager, sein Bart wirkte irgendwie zerzaust. Der hohe schwarze Zylinder, der sein Markenzeichen war, warf einen Schatten über das Bild und über das kleine Gesicht von Addie Haile.
»Da war kein Lion auf dem Bild«, flüsterte Addie. Es war Lincoln!«
Epilog: »Meine wahre Erbschaft«
Das Gold lag vergessen auf dem Fußboden. Addie konnte die Augen nicht von Abraham Lincoln abwenden.
»Was für eine tolle Erbschaft«, hauchte Jake schließlich.
Addie konnte nur nicken.
»Was wirst du damit machen?«, wollte er wissen.
Addie hatte sich darüber noch gar keine Gedanken gemacht, aber ihr fiel sofort eine Antwort ein. »Einrahmen und hier bei Großmutter an die Wand hängen.«
Jake lächelte. »Großmutter wird ausflippen«, meinte er leise.
Addie kicherte und mit einem Mal saßen die beiden auf dem Fußboden und lachten, bis ihnen der Bauch wehtat. So fanden Joanna, Addies Vater und Onkel Lee sie.
»Jawohl. Ich wusste es. Sie sind starr vor Angst.« Onkel Lees donnernde Stimme kam so unerwartet, dass Addies Gelächter in hohem Quieksen endete. Dann waren beide Kinder auf den Füßen und überschlugen sich in Erklärungen.
»Entschuldigung, Joanna …«
»Wir mussten hierherkommen! Wir haben …«
»Der Schatz war die ganze Zeit hier …«
»Wow! Jetzt mal langsam mit den jungen Pferden«, lachte Addies Vater. »Einer nach dem anderen. Fangt am besten am Anfang an.« Er streckte einen Arm aus, zog seine Tochter dicht an sich heran und drückte sie ganz fest.
Addie holte tief Luft. »Tut mir leid, Dad. Ich hoffe, ihr habt euch nicht zu viele Sorgen gemacht. Wir haben angerufen, aber wir wussten nicht, ob ihr uns gehört habt oder nicht.«
Ihr Vater nickte. »Wir haben euch gehört. Es klang, als würdet ihr aus Sibirien anrufen, aber wir haben euch gehört.«
»Jake dachte, dass ihr uns hören würdet«, erklärte Addie.
Onkel Lee drückte seinem Sohn die Schulter. »Ich wusste, dass Jake die Nerven behalten würde«, erklärte er. Jake sah ihn überrascht an und sein Dad lächelte entschuldigend. »Du bist ganz schön schlau, Sohn. Ich lobe dich viel zu wenig dafür.«
Jake starrte angestrengt auf seine Schuhspitzen, aber auf seinen Lippen lag ein Lächeln, und Addie konnte sehen, dass er sich freute.
»Was ist jetzt mit eurem Schatz?«, durchbrach Joanna das verlegene Schweigen.
»Wir haben in Ihrem Schreibtisch nach einem Schlüssel für die Tür gesucht. Wir fanden keinen, aber stattdessen eine Liste, die Sie getippt hatten.«
Joanna sah sie verständnislos an.
»Die Liste mit den Sachen, die in den Lagerräumen stehen«, ergänzte Jake, und die junge Frau nickte.
»Auf der Rückseite steht der Name Mary Brockworth. Das ist der Name der Frau, die den Familienschatz zuletzt hatte. Meine Ur-Ur-Urgroßmutter gab ihr den Schatz zur sicheren Aufbewahrung«, erklärte Addie weiter.
»Als wir sahen, dass es eine Truhe gibt, die ihr gehörte, mussten wir in den Lagerraum. Also haben wir den Schlüssel – und den Schatz gefunden!«
»Euer Schatz war hier?« Joanna konnte es nicht glauben.
»Hier in der Bücherei? In meinem Lagerraum?« Sie musste lachen. »Das ist ja wunderbar!«
»Addie?« Ihr Vater wurde wieder ernst. »Habt ihr das Gold gefunden?«
Addie bückte sich und hob das Holzkästchen mitsamt seinem Inhalt auf. Sie zeigte ihrem Vater das kleine Samtbeutelchen, und er untersuchte zusammen mit Onkel Lee sorgfältig die Goldnuggets.
»Hier ist die Kette.« Addie zeigte ihnen das Medaillon. »Und hier ist der wirkliche Schatz«, triumphierte sie.
Ihr Vater nahm das Tafelbild und runzelte die Stirn. »Das ist doch das gleiche Bild wie das, das ihr auf dem Speicher gefunden habt.«
Addie deutete auf den Schatten, der das Gesicht des Babys verdunkelte. »Siehst du den Schatten?«
Ihr Vater nickte. »Ja …«, er hielt inne und musste lachen. »Meine Güte!«
»Wie bitte?« Onkel Lee nahm das Bild. Er schüttelte den Kopf und musste auch lachen. »Wir haben heute
Nachmittag mit Großmutters Vergrößerungsglas die Worte auf dem anderen Bild untersucht und sind zu dem Schluss gekommen, dass dort steht: Lion ruinierte das erste Bild.«
»Lincoln ruinierte das erste Bild«, riefen Addie und Jake wie aus einem Mund und Joanna war sprachlos. Onkel Lee gab ihr das Bild und sie nahm es fast andächtig in die Hand.
»Was für ein Schatz«, meinte sie schließlich.
»Lasst uns nach Hause gehen und der Familie zeigen, was ihr gefunden habt«, schlug Onkel Lee vor. »Deine Mutter war außer sich vor Sorge, weil sie dachte, ihr hättet die Bücherei verlassen«, sagte er zu Jake. »Wir werden als Erstes anrufen und Bescheid sagen.«
Die Fahrt nach Hause ging nur langsam voran. Der Wind hatte zwar nachgelassen, aber es schneite immer noch heftig. Zuerst brachten sie Joanna nach Hause, deren Wohnung nur ein paar Blocks entfernt lag.
»Vielen Dank für alles«, lächelte Addie. »Sie waren wirklich eine große Hilfe.«
»Ja, danke«, schloss sich Jake an.
»Wenn Sie Zeit haben – und natürlich das Wetter es zulässt – würden wir Sie gerne für morgen zur Geburtstagsfeier meiner Mutter einladen«, sagte John McCormick. »Ich bin sicher, alle sind sehr interessiert an Ihrer Rolle in dieser Geschichte.«
»Vielen Dank«, sagte Joanna. »Ich versuche es einzurichten. Tschüss, Kinder.«
Als sie endlich zu Hause angekommen waren, setzten sich alle in der Küche um den großen Küchentisch und tranken heiße Schokolade. Die beiden Kinder erzählten
noch einmal die ganze Geschichte bis zu dem Höhepunkt, als sie das Bild von Abraham Lincoln entdeckten.
Großmutter war sprachlos, als Addie ihr das Tafelbild überreichte. Sie hatte Tränen in den Augen und konnte einige Augenblicke lang nicht sprechen. Schließlich versicherte sie: »Addie und Jake, ich kann euch gar nicht sagen, wie dankbar ich bin, dass ihr bei dieser Sache nicht aufgegeben habt. Ihr habt ein ganz neues Kapitel in unserer Familiengeschichte geschrieben.«
Sie wollte Addie das Bild wieder zurückgeben, aber Addie wollte es nicht annehmen. »Ich möchte, dass du es behältst, Großmutter. Lass es einrahmen und hänge es hier an die Wand!«
»Schätzchen, es ist dein Erbe …«
Aber Addie schüttelte den Kopf. »Ich habe eine Menge über mein wahres Erbe gelernt«, erklärte sie. »Du hast es mir schon vor langer Zeit gegeben, als du meinen Dad im christlichen Glauben erzogen hast. Alle meine Urgroßmütter haben ihren Glauben weitergegeben. Dies hier ist ein wunderschönes Foto, aber es gehört der ganzen Familie«, bestimmte sie, »und es gehört hierhin.«
Man hörte zustimmendes Gemurmel und Großmutter lächelte.
»Ich freue mich und werde es hier aufhängen, so lange du magst«, versprach sie.
Dann nahm sie das Medaillon auf. »Aber das hier soll dir gehören. Als Erinnerung an dein wahres Erbe.« Sie lächelte Addie an und mit einer feierlichen Geste hängte sie ihrer Enkelin die Kette um den Hals.
»Danke, Großmutter«, flüsterte Addie gerührt.
Versonnen betrachtete die ältere Frau das Schmuckstück. »Die Kronjuwel«, sagte sie leise. »Jetzt erinnere ich mich wieder an den Namen. Und ich erinnere mich natürlich an Mary Chalmers. Ich habe nie gewusst, dass sie mit Mädchennamen Brockworth hieß.« Sie seufzte. »Ich bin ganz sicher, dass ich all das schon aufgeschrieben habe. Ich kann mich sogar noch an das Briefpapier erinnern, das ich benutzt habe. Es war Oma Noldas Briefpapier. Sehr hübsch, hellblau mit goldenen Kanten.«
Klein-Abraham begann in seinen Hosentaschen zu graben und bald förderten seine Händchen einige zerknitterte Blätter zutage – hellblau mit Goldrand.
»So wie die?«, wollte er wissen. »Die habe ich hinter der Treppe gefunden.«
»Ich wette, die sind da hingefallen, als Addie am ersten Abend gestürzt ist«, vermutete Onkel Denny.
Addie hob eines der Blätter auf. »M. Chalmers hat all meine Sachen vor dem Feuer verwahrt. NKE«
Jake las noch eines: »Winifreds Ehemann ertrank auf der Kronjuwel. NKE«
Sie wandten sich beide gleichzeitig um und starrten ihren kleinen Cousin an.
Abe lachte sie strahlend an. »Ich liebe hübsches Papier«, nickte er.
Weitere Bücher von Leanne Lucas
So geht es weiter mit Addie & Nick in Band 6, »Diebstahl im Tornado«:
Der Sturm
Was möchtest du denn jetzt machen, Addie? Du entscheidest.«
Addie biss sich auf die Lippe. »Was passiert, wenn ich einfach die Flucht ergreife?«
Conor zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich kriegen sie dich. Mir passiert das jedenfalls immer.«
»Also, ich gehe jedenfalls nicht zurück«, verkündete Addie. »Ich könnte kämpfen, aber vielleicht wird dabei jemand verletzt.«
»Vermutlich du«, murmelte Conor.
»Na super!« Addie seufzte. Von draußen hörte man gewaltiges Donnergrollen, dann traf Addie ihre Entscheidung. »Ich denke, ich werde mich wieder … verstecken.« Sie hielt den Atem an und wartete auf die Reaktion von Nick. Die kam prompt.
»Feigling!«, zischte er ihr ins Ohr, und sie gab ihm einen Rippenstoß.
»Ich bin kein Feigling«, verteidigte sie sich, »ich glaube nur, dass es manchmal besser ist, nichts zu unternehmen.«
Sie drückte auf die Taste für VERSTECKEN auf der Computertastatur und wartete, wie ihr Schicksal auf dem Bildschirm nun aussehen würde.
Ihr Verfolger ist an Ihnen vorbeigelaufen. Sie sind in Sicherheit.
»Ich glaub es nicht!« Nick Brady stieß abrupt seinen Stuhl zurück und fuhr sich mit der Hand durch das blonde Haar. »Warum hast du immer Glück, Addie?«
Einige andere Kinder sammelten sich neugierig um den Tisch.
»Ist sie entkommen?«
»Addie hat es geschafft? He, Mrs Glasgow …«
»Nein, nein, nein«, mischte sich Addie hastig ein, »ich bin nicht entkommen.«
»Sie hat sich bloß schon zum dritten Mal versteckt und sie ist immer noch nicht gefangen worden«, informierte Nick die anderen.
»Was hat sie?«, quietschte Hillary Jackson. Hillary war eine von Addies besten Freundinnen. »Wenn ich mich verstecke, endet das immer damit, dass ich verwundet oder gefangen werde.«
»Alle mal herhören«, unterbrach Mrs Glasgow den Wortwechsel. Sie unterrichtete EDV-Anwendung in Addies Klasse. »Vergesst nicht, eure Ergebnisse zu speichern, wenn ihr am Computer arbeitet oder spielt. Wir müssen noch einige Dinge besprechen, ehe wir für heute Schluss machen können.«
Addie sah sich die Situation auf dem Bildschirm und ihre Spielfigur Jolene, eine Sklavin, die von einer Plantage in Georgia geflohen war, noch einmal genau an: Jolenes Essensvorräte waren okay (sie hatte gerade ein paar Beeren gefunden), ihre Ausdauer war ungebrochen, aber sie brauchte dringend eine Ruhepause. Vielleicht beim nächsten Mal. Addie gab den Befehl SPEICHERN ein, beendete das Spiel und klickte auf das Symbol zum Herunterfahren des Rechners. SIE KÖNNEN DEN COMPUTER JETZT AUSSCHALTEN erschien in großen Lettern auf dem Bildschirm, und Addie drückte auf den Aus-Knopf.
Sie gesellte sich zu ihren Klassenkameraden, und alle setzten sich um den langen Tisch, der in der Mitte des Computerraumes stand. Nick hatte ihr gegenüber Platz genommen und Hillary ließ sich rechts von ihr auf den Stuhl plumpsen.
Wieder hörte man durch das offene Fenster lautes, drohendes Donnergrollen und Nick schaute besorgt nach draußen. »Da braut sich ja ganz schön was zusammen«, murmelte er leise.
Addie sah jetzt auch zum Südfenster hinüber und ihr Herz begann schneller zu klopfen. Dicke schwarze Gewitterwolken wuchsen dort am Horizont. Den ganzen Morgen über war es unangenehm schwül und heiß gewesen und in der Luft hatte ein komisches gelbliches Flimmern gelegen. Jetzt hatte der Wind erheblich zugelegt und der Himmel überzog sich mit schwarzen Wolkenbergen. Addie schauderte.
Auch Mrs Glasgow warf einen prüfenden Blick zum Fenster.
»Denken Sie, das wird ein schlimmer Sturm, Mrs Glasgow?«
Andy Meeker knabberte an seinem rechten Daumennagel, während er mit der anderen Hand nervös auf den Tisch trommelte.
Mrs Glasgow lächelte ihn beruhigend an. »Wahrscheinlich«, sagte sie nur. »Aber wir sind in Illinois und es ist April. Da ist so etwas nicht ungewöhnlich.«
Draußen heulte der Wind seine Zustimmung und die Lehrerin klatschte laut in die Hände. »Wir fahren fort. Ich habe gute Neuigkeiten für euch, Kinder. Zunächst einmal werdet ihr Conor in den nächsten Wochen noch öfter hier sehen.«
Einige Kinder applaudierten und Conor Davis, ein großer, dünner Rotschopf schaute mit breitem Grinsen vom Türrahmen her in die Klasse. Conor ging schon auf die weiterführende Schule. Er half Mrs Glasgow beim EDV-Unterricht und zeigte den Kindern aller Klassen jeweils einmal in der Woche neue Spiele oder Programme.
Mrs Glasgow sprach weiter: »Mr Mueller, der EDVLehrer an der weiterführenden Schule, braucht Versuchskaninchen, um einige brandneue Computerspiele für Kinder zu testen. Er hat Conor gebeten, die Klasse auszuwählen, die er für am geeignetsten hält, und Conor hat euch ausgewählt.«
Lautes Gejohle und Klatschen brandete auf und Nick
stand auf und verbeugte sich nach allen Seiten. Mrs Glasgow räusperte sich und schaute Nick mit gerunzelter Stirn an, bis er sich wieder hinsetzte.
»Mr Mueller wird jeden Augenblick hier sein und euch genau erklären, was ihr tun und beachten musst.«
Die Tür schwang auf und herein trat Mr Stayton, der Schulleiter, begleitet von Mrs Himmel, der Klassen lehrerin der sechsten Klasse. Mr Stayton winkte Mrs Glasgow nach vorne und wandte den Kindern nun den Rücken zu. Die drei Erwachsenen unterhielten sich kurze Zeit gedämpft, dann eilte Mr Stayton aus dem Zimmer.
Danach wandte sich Mrs Himmel den Kindern zu. Ihr Lächeln wirkte gezwungen und sie holte tief Luft. »Wir haben eine Tornado-Warnung«, sagte sie kurz. »Es liegen noch keine absolut gesicherten Erkenntnisse vor, aber was sich draußen zusammenbraut, ist ein schwerer Sturm mit sehr starken Windböen. Möglicherweise müssen wir in den Gang gehen.«
Ein Blitzschlag unterstrich die Dringlichkeit des Gesagten. Noch nicht einmal zwei Sekunden später folgte ein gewaltiger Donnerschlag, und Addie spürte, wie sich ihr die Haare sträubten. Sie warf einen raschen Blick aus dem Fenster.
Die großen Ahornbäume, die um die Schule herumstanden, peitschten mit den Ästen im Wind. Conor rannte mit zwei anderen Jungen umher und sie schlossen in Windeseile alle Fenster. Das verringerte den Geräuschpegel ein wenig, aber das Heulen des Windes war auch durch die geschlossenen Fenster zu hören.
Noch einmal schwang die Tür auf und nun trat Mr Mueller ein. Er war ein großer schmaler Mann mit einer ziemlich großen Nase. Sein kohlrabenschwarzes Haar hatte an einer Seite eine weiße Strähne, wodurch er ein bisschen an ein Stinktier erinnerte. Er lächelte nicht besonders oft und war auch sehr streng, aber sein Kurs war sehr beliebt und deshalb immer überlaufen. Keiner wagte es, ihm auch nur die geringsten Schwierigkeiten zu machen.
»Tut mir leid, dass ich zu spät komme, Mrs Glasgow«, entschuldigte er sich.
Mrs Glasgow winkte freundlich ab und sagte: »Die Kinder wissen schon Bescheid.«
Mr Mueller wandte sich jetzt den Kindern zu, die um den langen Tisch herumsaßen. »Großartig. Conor und ich freuen uns darüber, dass ihr uns helfen wollt, unsere neuen Computerspiele auszuprobieren.«
Hinter ihnen hörte man krachendes Blitzen und Donnergrollen. Eine Windbö erschütterte ein Fenster so sehr, dass es bedrohlich knarrte, und ein anderes am hinteren Ende des Zimmers sprang auf und knallte gegen die Wand. Ein Windstoß fegte einige Papiere vom Schreibtisch auf den Boden. Conor sprang auf, um das Fenster wieder zu schließen, und Mrs Glasgow hob die Blätter auf und legte sie zurück auf den Schreibtisch.
Mr Mueller wartete, bis die Unruhe sich wieder gelegt hatte. Dann zog er zwei Disketten aus seiner Tasche und hielt sie hoch. »Hier sind einige Mathematikspiele und ein ziemlich umfangreiches Geschichtsspiel. »Ich werde die
Spiele heute auf eurem Computer installieren.« Er legte die Disketten auf Mrs Glasgows Schreibtisch neben ihren Computer.
»Die Mathe-Spiele sind Standard«, fuhr er fort. »Ihr werdet keine Schwierigkeiten haben, sie zu lernen, auch wenn sie natürlich ihre besonderen Tricks und Kniffe haben. Das Geschichtsspiel könnte schon eine etwas härtere Nuss für euch sein. Außerdem haben wir noch eine kleine Überraschung für euch. Stimmt’s, Conor?«
Er lächelte kurz und drehte sich nach dem Jungen um. Conor war gerade damit beschäftigt, ausgiebig seine Fußspitzen zu betrachten. Trotzdem wurde er rot und lachte. Ohne aufzusehen, nickte er.
Was ist denn hier los?, fragte sich Addie. Sie wussten alle, dass Conor ziemlich computerverrückt war, aber der Ausdruck, den er jetzt auf dem Gesicht hatte, ging über seine normale Begeisterung hinaus.
»Nun, wir sprechen später noch darüber«, sagte Mr Mueller gerade. »Ich hatte gehofft, ich könnte euch die Spiele heute schon zeigen, aber ich glaube, wir müssen doch bis nächste Woche warten, weil die Stunde schon fast vorbei ist.«
Die Klingel läutete laut los. »Genauer gesagt: Die Stunde ist schon vorbei«, rief er mit lauter Stimme, um den Lärm der Stühle zu übertönen, die jetzt alle auf die Tische gestellt wurden.
Doch plötzlich brach das Läuten ab, und in der Klasse wurde es auf einmal still. Dann läutete es wieder, brach ab und läutete wieder.
»Das ist die Alarmglocke!«, rief Mrs Glasgow laut. Ihre Stimme klang ein bisschen schriller als gewöhnlich. »Wir haben Tornado-Alarm. Alle hinaus auf den Flur – sofort!«
Hillary schob sich schnell neben Addie und nahm ihre Hand. Addie erwiderte den Druck und so gingen sie zusammen mit den anderen in geordneter Zweierreihe rasch nach draußen. Niemand sagte etwas. Nick blieb zurück und sah ängstlich aus dem Fenster.
»Nick, komm vom Fenster weg in den Flur!«, rief Mrs Glasgow von der Tür her.
»Jetzt sofort!«, bellte Mr Mueller und Nick raste zur Tür.
Auf dem Flur war es ungewöhnlich dunkel und still, als die Kinder aus allen Klassen sich hier einfanden und sich alle der Reihe nach mit dem Rücken zur Wand auf den Fußboden setzten. Sogar hier konnten sie hören, wie das Heulen des Windes immer lauter wurde.
Hillary hielt Addies Hand fest umklammert, aber das machte ihr nichts aus. Sie schaute hinüber zu Nick und sah, dass er ihr mit dem Mund eine Nachricht ohne Worte zukommen ließ: Scheint mir die richtige Zeit zum Beten!
Addie nickte zustimmend und senkte den Kopf. Ach, Herr!, fing sie an, aber alle Gedanken wurden von dem schrecklichen Wüten des Sturms draußen übertönt. Ich kann nicht beten!, dachte sie und Panik begann in ihr aufzusteigen. Ich kann nicht beten!
Plötzlich hörte sie die Stimme ihres Vaters: Als viele unruhige Gedanken in mir waren, erfreuten deine Tröstungen meine Seele.
Wieso fällt mir das denn jetzt ein?, wunderte sie sich. Das war heute Morgen in der Familienandacht, aber … na egal. Danke, Herr. Sie zitterte immer noch ein bisschen. Du wirst dich um alles kümmern. Ich weiß, dass du das immer tust. Danke.
Der Wind schien etwas nachzulassen. Jetzt hörte man im Flur wieder leises Tuscheln und gelegentlich ein Kichern anstelle der gebannten Stille.
»Ist also doch kein so großes Ding«, sagte Andy, aber er wurde von einem seltsamen Geräusch unterbrochen. »Was ist das denn?«
Alle spitzten die Ohren. Das Geräusch kam aus der Jungentoilette. Die Abflüsse gaben schlürfende, schmatzende Geräusche von sich!
Addie rubbelte sich die Ohren. Sie fühlten sich komisch an, als ob zu viel Druck da wäre.
Lautes Stapfen vom abzweigenden Flur ließ alle aufschrecken. Mr Stayton – sonst stets ruhig und würdevoll – kam schwankend um die Ecke und in seinem Gesicht war ein solches Maß an Besorgnis zu lesen, dass es Addie den Atem verschlug.
»Runter!«, schrie er. »Köpfe zwischen die Beine! Legt die Hände über eure Köpfe! Es ist fast über uns!«
Schockierte Gesichter starrten ihn an und dann kauerten sich alle auf den Boden und bedeckten ihre Köpfe.
Das Schweigen, das nun folgte, war die tödlichste Stille, die Addie jemals erlebt hatte. Die Luft schien immer heißer zu werden, mit jedem Augenblick. Und dann begann der Lärm.
Zunächst rutschte ein Stuhl über den Boden, als ob noch immer jemand darauf sitzen würde. Dann gab es einen scharfen Knall, und Glassplitter fielen auf den Boden. Dann noch ein Knall und noch einer, bis das Geräusch von explodierendem Glas auch den letzten Winkel füllte.
Die Abflüsse in der Toilette blubberten wie verrückt und der Wind änderte sich. Diesen Ton würde Addie ihr ganzes Leben lang nicht mehr vergessen.
Wie ein überdimensionaler Güterzug, der mit Höchstgeschwindigkeit über die Gleise rast, so schraubte sich der Tornado mit ohrenbetäubendem Heulen und Kreischen auf sie herunter. Noch nie hatte Addie etwas ähnlich Lautes oder Furchterregendes gehört und es schien immer schlimmer zu werden. Die Wand hinter ihr bebte und sie unterdrückte einen Schrei.
Bitte, Herr – bitte, Herr – bitte, Herr –!
Addies Herz schrie zu Gott und sie langte mit einer Hand verzweifelt nach Hillary. Ein Arm umklammerte die Freundin, den anderen behielt sie über ihrem Kopf. Hillary machte es genauso. Die beiden Mädchen klammerten sich aneinander, während der Tornado sie durch die dünnen Wände des zerbrechlichen Gebäudes zu saugen schien.
Als meine Angst übermächtig wurde … Der Klang der vertrauten Stimme ihres Vaters drang leise durch den brüllenden Wind.