SCM ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
Umschlaggestaltung: Patrick Horlacher, Stuttgart Titelbild und Illustrationen: Clara Vath, vath-art.de Satz: Burkhard Lieverkus, Wuppertal Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Gedruckt in Deutschland
ISBN 978-3-417-28968-8 Bestell-Nr. 228.968
Kapitel 9: Der Streit ........................................................170
Kapitel 10: Das Versteck..................................................182
Kapitel X: Ein freudiges Wiedersehen .....................231
Kapitel XI: Die Gänsemagd ......................................240
Kapitel 14: Der Dieb wird enttarnt ..................................254
Kapitel 15: Gift ...............................................................268
Kapitel 16: Gerechtigkeit für Emma ................................276
Kapitel XII: Wir schaffen das! ..................................281
Die 4 vom See – das sind …
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Antonia wohnt schon, seit sie denken kann, in der großen Burg direkt am Ufer des Starnberger Sees, mitten zwischen den Villen der Reichen und Schönen –ein Zuhause, um das sie viele beneiden. Ihre Eltern Andreas und Gitti Reihmann sind die Herbergseltern der Jugendherberge, die in dem Gebäude untergebracht ist, deshalb wohnt die Familie in dem historischen Gemäuer. Wenn Antonia morgens aufwacht, kann sie ans Fenster treten und auf den See hinausblicken – wenn sie dabei nicht über ihr Kletterzeug stolpert, das meistens irgendwo im Zimmer auf dem Boden liegt. Klettern ist Antonias größtes Hobby, sehr ordentlich ist sie aber nicht. Wenn sie nicht in einer Felswand hängt, liest sie gerne Informationen über Geschichte und Archäologie. Ihr Wissen hat den vier Freunden bei ihren Entdeckungen schon oft geholfen.
Antonia hat zwei jüngere Geschwister, die siebenjährigen Zwillinge Sina und Lukas. Zu ihrer Familie gehört außerdem Opa Hans, ein alter Fischer, der nicht weit entfernt von der Seeburg in einer Fischerhütte direkt am See lebt und über die Jahre zu ihrem Ersatzopa geworden ist. Von seinen Ratschlägen und vor allem seinem festen Glauben hat Antonia schon viel gelernt.
Die Familie Reihmann besucht eine evangelische Freikirche in Starnberg. Für Antonia gehört der Glaube ganz selbstverständlich zum Alltag dazu, und dass sie sich
auf Jesus verlassen kann, hat sie schon oft erfahren. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch einige Dinge in ihrem Leben gibt, die sie richtig ärgern oder nerven. Beispielsweise leidet Antonia seit dem Kindergartenalter an Diabetes. Sie muss ständig eine Insulinpumpe tragen, die das lebensnotwendige Insulin in ihren Körper abgibt. Meistens hat Antonia ihre Krankheit gut im Griff, doch manchmal sackt ihr Blutzucker plötzlich ab, und dann wird es gefährlich für sie, wenn sie nicht sofort etwas Zuckerhaltiges isst oder trinkt. Zum Glück wissen ihre Freunde Bescheid, besonders ihre beste Freundin Emma, und können ihr im Notfall helfen.
Antonia hasst es, schwach zu sein. Sie regt sich schnell auf, wenn ihr jemand unterstellt, dass sie etwas nicht kann, und wird richtig wütend. Ihre Kraft und Entschlossenheit machen sie zu derjenigen, die bei den vier vom See oft die Initiative ergreift.
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Emma ist da etwas zurückhaltender. Sie denkt eher zweimal nach, bevor sie etwas unternimmt, ist dafür aber gründlich und plant voraus. Ihre Stärke liegt vor allem in der Planung – und in der Recherche. Emma ist eine talentierte Forscherin, Naturwissenschaften sind ihre Leidenschaft. Außerdem reitet sie, ihr Pferd Firestorm ist ihr ein und alles.
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Emmas Eltern sind geschieden und so lebt sie einen Teil der Woche im Zuhause ihrer Mutter und ihres Stiefvaters
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Peter und den anderen Teil bei ihrem Vater Jörg und seiner Frau Manuela. Jörg ist Chemiker und betreibt ein Analyse- und Forschungslabor in der Villa am See. Manuela ist Innenarchitektin und engagiert sich stark in sozialen Projekten. Zusammen haben sie noch eine Tochter, Emmas jüngere Halbschwester Mia. Peter ist Kommissar bei der Kripo in Starnberg, Emmas Mutter Katrin ist Arzthelferin.
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Emma leidet unter der Zerrissenheit, darunter, sich immer zwischen ihren Eltern entscheiden zu müssen. Meistens versucht sie, nicht weiter darüber nachzudenken, aber manchmal gelingt ihr das nicht.
Emma hat sich im Versteck der vier vom See, einem alten Zirkuswagen auf dem Gelände der Seeburg, ein kleines Labor eingerichtet. Hier verbringt sie viele Stunden mit Experimenten. Außerdem ist sie häufig auf der Seeburg bei ihrer besten Freundin Antonia. So häufig, dass sie dort eine Zahnbürste im Bad stehen hat und einen festen Sitzplatz in der Küche. Sie fühlt sich bei
Antonias Familie sehr wohl und genießt die gemeinsamen Abendessen am großen Familientisch.
Während der Trennungsphase ihrer Eltern musste Emma lernen, die Stimmungen anderer Menschen schnell zu erfassen. Sie ist deshalb sehr sensibel und hoch empathisch, außerdem scheut sie Konflikte. Bei den teilweise abenteuerlichen Unternehmungen der vier Freunde ist sie oft diejenige, die die anderen bremsen möchte.
Frankys Zuhause liegt direkt am Sportplatz von Allmannshausen – nicht das Reihenhaus seiner Familie, das befindet sich ein paar Straßenzüge weiter, sondern das Restaurant seiner Eltern, in dem die Familie die meiste Zeit verbringt. Frankys Vater Germano und seine Mutter Elvira sind aus Italien nach Deutschland gezogen und betreiben die Pizzeria schon seit vielen Jahren. Sie backen die beste Pizza in der gesamten Umgebung und so treffen sich bei »La Ruota« Nachbarn, Freunde und Sportvereine. Franky liebt auf der einen Seite Pizza über alles (wie fast jedes italienische Gericht), auf der anderen Seite hasst er es, im Restaurant mit anpacken zu müssen.
Franky ist der Computerexperte der vier Freunde. Er ist in der Lage, sich schnell mit jedem fremden System vertraut zu machen, und hat seine Hackerkünste schon von henhau
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Neben der Zubereitung italienischer Gerichte kennt sich Frankys Vater vor allem mit einem aus: Fußball. Er trainiert die Jugendmannschaft des TV Berg und war selbst in seiner Jugend ein richtig guter Spieler.
Sehr zum Leidwesen von Franky hat er seinen Ehrgeiz nie ganz abgelegt und ihn auf seinen Sohn übertragen, bei dem er sofort ein großes Talent für Fußball erkannt hat. Franky spielt gerne und gut Fußball, doch es ist nicht seine erste Leidenschaft und die Pläne, die sein Vater für ihn hat, sind ihm zu viel. Deshalb hat er vor einiger Zeit mit dem Training aufgehört und widmet sich nun dem Hobby, das ihn wirklich begeistert: Programmieren.
manchmal eingesetzt, um Dinge herauszufinden, die sonst nicht zugänglich gewesen wären. Aber er achtet streng darauf, keinen Schaden anzurichten.
Emma, Antonia und Franky kennen sich schon seit der Grundschule. Gemeinsam haben sie vor ein paar Jahren einen alten Zirkuswagen auf dem Gelände der Seeburg zu einem gemütlichen Versteck gemacht, in dem sie sich treffen, reden und Pläne schmieden. Franky ist gerne dort. Mit dem Glauben hat er nicht so viel am Hut. Seine Familie ist zwar in einer katholischen Kirchengemeinde und Franky hat an der Kommunion teilgenommen, aber sie gehen eigentlich nur an den hohen Feiertagen in den Gottesdienst und der Glaube spielt in ihrem Alltag kaum eine Rolle.
Jaron ist erst vor Kurzem zu den anderen drei gestoßen. Er ist zusammen mit seiner Mutter von Köln an den Starnberger See gezogen, als diese eine Arbeit als Sekretärin auf der Seeburg angenommen hat. Angelika Rahn und Gitti Reihmann sind alte Schulfreundinnen und haben immer Kontakt gehalten. Jarons Vater lebt nicht mehr, er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Jaron vier Jahre alt war. Der Unfall hat Jarons Leben überschattet, lange hat er geglaubt, er wäre schuld am Tod seines Vaters. Erst vor wenigen Monaten hat er erkannt, dass das falsch war und er sich lange grundlos gequält hat. Seitdem weiß er, wie viel Kraft man aus Vergebung ziehen kann.
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Jaron interessiert sich für Flugzeuge, trainiert leidenschaftlich Kung-Fu und liebt Sport aller Art – am Starnberger See hat er zum Beispiel das Surfen für sich entdeckt. Jaron liebt den See. Wann immer er Zeit hat, geht er schwimmen oder sitzt am Seeufer und flitscht
Steine über die Oberfläche. Der historische Löwensteg der Seeburg ist dafür der perfekte Ort. Die wechselnden Wetterlagen über dem See faszinieren ihn und er bekommt nicht genug davon.
Jaron und seine Mutter Angelika gehen in die gleiche Gemeinde wie Antonia und ihre Eltern. Sie waren in Köln schon in einer freien Gemeinde und haben sich in Starnberg gleich zu Hause gefüllt. Dazu trägt auch bei, dass Jaron nach dem Umzug endlich einen besten
Freund gefunden hat – Franky. Nicht nur sind die beiden unzertrennlich, Jaron liebt außerdem die Pizza, die Frankys Vater backt.
Kapitel I
Schatzsuche
Starnberger See, März 1945
»Jetzt werden wir sehen, ob uns der was nützt«, sagte Karl und zog einen Dietrich aus der Tasche. Der kleine Metallhaken, den er aus einem Stück Draht gebogen hatte, sollte sie endlich an ihr Ziel im Keller führen.
Hinter ihm rückten seine drei Geschwister näher und schauten ihm über die Schulter. Karl steckte den Haken in das Schlüsselloch der Kellertür. Wie es ihm sein Bettnachbar gezeigt hatte, drehte er den Dietrich hin und her. Er spürte die Bewegung der Bolzen. Tatsächlich! Beim dritten Versuch klickte es. Das Schloss war offen.
»Sie ist auf«, sagte er staunend und drückte die Klinke herunter.
»Hurra!«, jubelte Elfie, doch Katrin hielt ihr sofort mit der Hand den Mund zu.
»Leise!«, zischte der Vierzehnjährige, »sonst wird es nichts mit der Rückkehr nach Mannheim, auch wenn da drin was Wertvolles sein sollte.«
Elfie verstummte und schaute betreten zu Boden.
Aber nicht lange, dazu war sie viel zu neugierig. Karl zog die Tür auf und alle vier Kinder traten einen Schritt zurück. Vor ihnen lag Dunkelheit.
Hinter dem Türrahmen erstreckte sich ein schmaler Gang in Richtung der Seeburg, in der das Kinderheim untergebracht war. Sein Ende war nicht zu erkennen, er verlor sich in Finsternis. Muffig roch es aus dem Loch, alt und feucht. Aber da war noch ein anderer Geruch, ein Hauch von etwas Scharfem, das in der Kehle brannte. Etwas Fremdes, von dem man sofort wusste, dass man nicht viel davon ertragen würde.
Karl atmete einmal durch, dann sah er Katrin, Elfie und den kleinen Wilhelm an. »Nun?«, fragte er. »Wollen wir?«
Katrin nickte. Wilhelm griff nach ihrer Hand und drückte sich an sie. Elfie trat einen Schritt vor und wollte als Erste durch die Türöffnung gehen, doch Karl hielt sie zurück.
»Ich gehe vor«, sagte er bestimmt. »Wer weiß, was da drin auf uns wartet.« Das war nicht der einzige Grund, warum er vorangehen wollte. Er hatte Angst und es wurmte ihn, dass seine kleine Schwester unerschrockener war als er selbst. Also trat er trotz seiner Zweifel in den dunklen Gang. Es war einfach zu wichtig, dass sie Geld für ihre Flucht fanden. Er tastete die Wand ab und seine Hände fühlten einen
Lichtschalter. Ein Glück, dachte er erleichtert, als er den Knopf herumdrehte. Eine Glühbirne an der Decke flammte auf und nun konnten die vier sehen, wo der Gang endete: an einer weiteren Tür aus rauem, massivem Holz.
Hintereinander gingen sie auf diese zu. Karl wollte schon seinen Dietrich hervorholen, drückte aber zuerst auf die Klinke. Die Tür war offen.
Wieder lag Dunkelheit vor ihnen, doch dieses Mal fand Karl den Schalter sofort und sie sahen, dass es hier nicht mehr weiterging. Der Raum vor ihnen musste unter der Burg liegen, schätzte Karl, aber es gab keinen anderen Zugang als den, den sie vom Schuppen aus genommen hatten. Er sah sich um. Vor roh gemauerten Wänden standen auf der einen Seite mehrere flache Kisten an die Wand gelehnt. Auf der rechten Seite stapelten sich Metalldosen auf einem Regal. Der chemische Geruch war hier viel stärker, sodass ihm fast die Augen tränten. Er trat zu den silbernen Behältern und betrachtete sie. Auf alle waren Etiketten aus Papier geklebt. Karl beugte sich vor und las laut: »Selenophenol.« Auf einer anderen Dose stand »Zyklon B«. Elfie drehte eine der Dosen herum, um die Beschriftung besser lesen zu können. »Chemiefabrik Adolf von Brüning Mannheim«, las sie vor. Sie sah ihren großen Bruder an und fragte: »Das ist doch die Firma, in der Papa gearbeitet hat, oder?«
»Ja, stimmt«, antwortete Karl.
»Was haben denn Chemikalien aus Mannheim hier am Starnberger See zu suchen?«
Karl zuckte mit den Schultern. »Das kann ich dir nicht sagen.«
»Sind die Dosen wertvoll? Können wir sie eintauschen gegen ein Zugticket?«, fragte Elfie.
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Karl. »Aber ich denke, eher nicht. Ich glaube, das steht nur hier unten, weil es so stinkt.«
Sie blickte ihn enttäuscht an. »Und wie kriegen wir jetzt Geld, um nach Mannheim zu kommen? Ich will zu Mama.«
Karl seufzte genervt. »Jetzt sei doch nicht so ungeduldig, wir werden schon was finden!«
Er drehte sich von den Regalen weg. Katrin, die mit Wilhelm bei der Tür stehen geblieben war, sah ihn fragend an, aber er zuckte nur mit den Achseln. Die Kisten an der anderen Wand zogen seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie bestanden aus dünnen, genagelten Brettchen, gingen ihm etwa bis zur Hüfte und waren nur eine Handbreit dick. Ein ganzer Stapel lehnte an der Wand. Karl zog die vorderste zu sich und besah die Rückseite. Nichts ließ darauf schließen, was sich darin befand, keine Beschriftung, kein Etikett. Er fasste die Kiste links und rechts und versuchte, sie anzuheben. Sie schabte am Boden entlang, doch es gelang ihm kaum, sie ein wenig in der Luft zu halten.
Katrin stand neben ihm und beobachtete ihn. »Und? Was meinst du?«, fragte sie. »Sind die Kisten das, was wir brauchen?«
Karl richtete sich auf und rieb sich den Staub von den Händen. Ein Spreißel hatte sich aus dem
ungehobelten Holz in seine Handfläche gebohrt und schmerzte. Er packte ihn mit den Fingerspitzen und zog ihn heraus. Dann seufzte er. »Selbst wenn der Inhalt der Kisten viel wert sein sollte, nützt er uns nichts. Die Dinger sind viel zu schwer. Die könnten wir nicht mal bis runter zum See tragen und schon gar nicht bis zum Bahnhof in Starnberg.«
Die enttäuschten Gesichter seiner Geschwister waren für ihn kaum zu ertragen. Er lächelte. »Jetzt nicht den Mut verlieren! Wisst ihr noch? So schnell geben wir nicht auf, das haben wir uns versprochen. Lasst uns erst einmal zurück in unser Versteck gehen, damit uns hier unten niemand erwischt. Ich habe da noch eine Idee …«
Er trat zu Katrin und Wilhelm, legte seinem kleinen Bruder die Hand auf die Schulter und nickte seiner Schwester zu. »Kommt«, sagte er, »hier ist es wirklich nicht angenehm, lasst uns verschwinden.«
Die zehnjährige Elfie stand immer noch vor dem Regal mit den Dosen. Als sich Karl umdrehte, steckte sie gerade etwas in die Tasche ihrer Schürze.
»Kommst du, Elfie?«, fragte er.
Sie nickte, ging zu ihm und griff nach seiner Hand. »Hast du wirklich noch eine andere Idee?«, fragte sie ein wenig misstrauisch.
Karl schmunzelte, sie kannte ihn einfach zu gut. Aber in diesem Fall lag sie falsch. Er hatte nicht geschwindelt, nur um sie beruhigen. Er hatte tatsächlich noch eine Idee, wie er ihnen die Flucht aus dem verhassten Kinderheim ermöglichen könnte, in das sie vor ein
paar Monaten gegen ihren Willen gebracht worden waren.
»Elfie, Elfie, Elfie«, sagte er, immer noch lächelnd, »du gibst dich mit einfachen Antworten nicht zufrieden, oder? Ja, ich weiß noch eine andere Möglichkeit, uns Geld für die Bahnfahrt zu besorgen. Aber die erzähle ich euch erst, wenn wir sicher in unserem Versteck sitzen. Und jetzt raus hier!«
Adolf von Brüning schreckte hoch. Für einen Moment schwebte er zwischen Traum und Wirklichkeit. Doch dann wurde ihm klar: Etwas hatte ihn geweckt. Etwas Fremdes. Doch was?
Der Heimleiter sog die Luft scharf ein und sah sich um. Sein Blick glitt über den großen Kleiderschrank, den Lehnsessel aus Leder am Fenster, die Anrichte mit Kristallkaraffen und Gläsern und die Ölgemälde an der Wand. In seinem Schlafzimmer im obersten Stock der Seeburg schien alles wie immer. Und doch, da war etwas gewesen. Der Wecker auf seinem Nachttisch zeigte 3 Uhr.
Mit einem Arm stützte er sich auf. Er schwang seine Beine über die Bettkante und stöhnte leise, wie jedes Mal. Seine kaputte Hüfte brauchte immer lange, bis der Schmerz sie nicht mehr lähmte. Sitzend rieb er sich die Seite und streckte sich kurz, bevor er mühsam aufstand und ans Fenster humpelte.
Draußen lag der See vollkommen ruhig im Licht des Halbmonds. Sein Licht spiegelte sich auf der
Wasserfläche. Kein Blatt regte sich an den Bäumen. Alles war still. Hatte er sich geirrt? Er legte die Hände vors Gesicht und rieb seine müden Augen, blinzelte mehrmals und lauschte erneut.
Da! War da nicht eine Bewegung unter den Bäumen gewesen? Von Brüning öffnete das Fenster und lehnte sich weit in die kühle Nachtluft hinaus. Es raschelte im Laub auf dem Abhang zwischen Burg und Seeufer. Der Zweig eines Gebüschs schwang hin und her und er meinte, einen Schatten zu erkennen, der sich zwischen die Stämme duckte. Von Brüning kniff die Augen zusammen. Er sah genau hin und hielt den Atem an. Doch der Schatten war weg und alles war wieder vollkommen still.
Eine ganze Weile stand der hagere Mann am Fenster, spähte und lauschte in die Dunkelheit. Irgendwann riss ihn der Ruf eines Käuzchens aus seiner Starre und er bemerkte, wie kalt seine nackten Beine unter dem Nachthemd geworden waren. Vielleicht hat mich doch nur ein böser Traum geweckt, dachte er, zuckte mit den Schultern und schloss das Fenster. Und das da draußen war bestimmt ein Reh, du Dummkopf!, rügte er sich selbst.
Sein Bett war noch nicht vollkommen ausgekühlt. Mit einem zufriedenen Seufzer streckte von Brüning sich darin aus und zog das dicke Federbett über sich.
Kapitel 1
Unter
Wasser
Starnberger See, Gegenwart, Sommer
Die Sonne ließ die kleinen Wellen auf der Oberfläche des Starnberger Sees glitzern, ein leichter Wind wehte von Südwesten, die Luft war weich und klar an diesem Frühsommertag. Der letzte Schnee auf den Gipfeln der Alpen leuchtete am Horizont. Ein kleineres Segelboot fuhr am Ostufer entlang, weit genug draußen, um die Schwimmer an der Badestelle in Berg nicht zu stören. Am Kiesstrand machte sich ein einsamer Taucher bereit, er schwitzte bereits nach wenigen Minuten in seinem schwarzen Neoprenanzug und hatte es eilig, ins Wasser zu kommen.
Als er ins Wasser stapfte, verscheuchte er ein Blesshuhn, das sich auf der Suche nach Nahrung zu nahe an den Strand gewagt hatte. Ein kleiner Junge auf einem Schwimmreifen trieb an ihm vorbei und beobachtete neugierig, wie der Taucher die Brille aufzog und das Mundstück anlegte. Dann ließ sich der Mann ins kühle Wasser sinken.
Direkt unter der Wasseroberfläche tanzten die Sonnenstrahlen im Rhythmus der Wellen, und als er die ersten Schläge mit den Flossen tat, stießen deren Spitzen an den Boden, der mit runden Kieseln bedeckt war. Langsam ließ er sich weiter hinaustreiben. Knapp schwebte er über den Boden hinweg. Kleinere Fische schwammen
hektisch aus seinem Weg. Tang bewegte sich in der Strömung.
Nach kurzer Zeit kam der Taucher an der Tauchstelle an, wegen der jedes Jahr etwa 4 000 Taucher hierherkamen. Der flache Boden verschwand plötzlich und unter ihm war nur noch dunkelgrünes Wasser. Er hatte die Allmannshauser Steilwand erreicht. Einen kurzen Moment zögerte er und streckte noch einmal den Kopf aus dem Wasser. Niemand achtete auf ihn. Niemand in der Nähe schien zu wissen, dass Alleingänge hier streng verboten waren. Er beugte sich vor und schwamm mit kräftigen Beinschlägen in die Tiefe, immer am Felsen entlang.
Die Wand fiel neben ihm in Stufen immer weiter ab. Ihre Oberfläche, die im Schein seiner Lampe aufleuchtete, sah aus wie der Boden einer Wüste aus hellem Sand und Stein. Je tiefer er sank, desto dunkler wurde es um ihn herum. Auf einmal schrak er zurück: Der Kopf eines riesigen Hechts tauchte im Lichtkegel auf. Seine Augen starrten den Eindringling böse an. Doch ein Flossenschlag, und der Fisch verschwand in der Dämmerung.
Seine Tauchuhr zeigte an, dass er inzwischen zwanzig Meter tief gekommen war. Vor ihm zogen sich Aale in ihre Höhlen in der Felswand zurück, als er vorbeischwamm. Er warf einen Blick nach oben, das Wasser über ihm leuchtete grün.
Es wurde immer dunkler, kleine Partikel schwebten an ihm vorbei, die Sicht betrug nur ein paar Meter. Irgendwann kam er an der Plakette vorbei, die vierzig Meter Tauchtiefe anzeigte. Hier mussten diejenigen, die mit Pressluft tauchten, umdrehen. Er jedoch sank immer tiefer, hinab in die Dunkelheit des Sees.
Schließlich endete die Steilwand und der Boden wurde flacher. Die Tauchuhr zeigte siebzig Meter. Gegenstände
tauchten im Lichtschein auf, eine alte Toilette, eine Gartenbank, die irgendjemand hier entsorgt hatte, aber auch Dinge, die andere Taucher hier aus Spaß zurückgelassen hatten: eine Minion-Figur, ein Weihnachtsmann aus Ton, eine Gruselmaske. All das interessierte ihn nicht. Systematisch suchte er den Boden ab, schwamm immer weiter, bis er die Bereiche des Seegrunds erreicht hatte, in die die Sporttaucher nur selten vordrangen. Die Wassertemperatur hier unten betrug nur noch wenige Grad über null und er konnte nur wenige Meter weit sehen.
In einem genau geplanten Muster suchte der Taucher den Boden ab. Immer weiter führte ihn sein Weg. Dann, urplötzlich, tauchte das vor ihm auf, was er gesucht hatte. Er hielt inne und richtete seine Lampe auf den Boden vor ihm. Für einen Moment schwebte er nur regungslos und atmete tief ein und aus. Die Luftblasen seines Atems stiegen sprudelnd nach oben, Richtung Oberfläche.
Der Taucher holte seine Kamera hervor. Plötzlich bemerkte er einen großen Schatten neben sich und riss überrascht den Kopf herum. Er spürte, dass etwas an seinem Atemschlauch riss, und wehrte sich verzweifelt, schlug mit Armen und Beinen um sich, seine Kamera fiel auf den Boden. Auf einmal ertönte ein lautes Zischen und Brodeln, Luft stieg in großen Blasen auf und dem Taucher blieb der Atem weg. Der Schatten verschwand. Panisch strampelte der Taucher, stieß sich immer weiter hinauf, alle Vorsicht beim Aufsteigen außer Acht lassend. Mit letzter Kraft aktivierte er den Luftsack. Der Beutel füllte sich zischend mit Pressluft und riss den Mann an seiner Leine hinauf, immer weiter, bis zur Oberfläche.
Unten am Boden des Sees blieb die Lampe des Tauchers zurück und sorgte für einen schwachen Lichtschein in dem dunkelgrünen Wasser. Nach einigen
Stunden wurde ihr Licht schwächer, flackerte, verlosch schließlich ganz.
Die Gegenstände, die der Taucher gesucht und gefunden hatte, waren wieder in Dunkelheit gehüllt. Doch in dem verzweifelten Kampf hatte der Mann um sich getreten und dabei die Hülle eines Behälters eingedrückt. Ganz langsam drangen erste Tropfen des Inhalts hinaus und vermischten sich mit dem Seewasser.