Angst, Glaube, Zivilcourage
Folgerungen
aus der Corona-Krise
Herausgegeben von Thomas A. Seidel und Sebastian Kleinschmidt im Auftrag der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden (StGO)
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
1. Auflage 2025 Grundlegend überarbeitete und erweiterte Auflage des Buches „Angst, Politik, Zivilcourage. Rückschau auf die Corona-Krise“, hrsg. von Thomas A. Seidel und Sebastian Kleinschmidt, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig, Juli 2023.
© der deutschen Ausgabe 2025 R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH · Max-Eyth-Str. 41 · 71088 Holzgerlingen
S. 267: Camus, Albert: Die Pest. © 2021/2024, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg.
Copyright der Neuübersetzung © 1997 by Rowohlt Verlag GmbH.
Zitat S. 33: Bertold Brecht: An die Nachgeborenen, In: Svendborger Gedichte © 1939, Malik Verlag London, Suhrkamp Verlag.
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen: Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart Weiter wurden verwendet: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Umschlaggestaltung: Stephan Schulze, Stuttgart
Titelbild: Markus Winkler – unsplash
Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Gedruckt in Deutschland
ISBN 978-3-417-02069-4
Bestell-Nr. 227.002.069
Vorwort
Christine Lieberknecht
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Für eine selbstkritische und bekenntnisfrohe Kirche
Alexander Kissler
„Der Sinn von Politik ist Freiheit.“
Sebastian Kleinschmidt
Angst
André Kruschke
Herrschaftsinstrument?
Christiane Cichy
Wer den Schaden hat …
Journalistische Recherchen zu den Corona-Impfschäden . . 82
Teil 2
WEGE AUS DER GEFAHR
Kristina Schröder
Hört auf die Wissenschaft!
Selbstaufgabe und Anmaßung der Politik in Zeiten der Pandemie
Thomas Voshaar, Kathrin Stepanow, Patrick Stais
Das Moerser Modell
Ein holistischer Ansatz der Patientenbetreuung im Krankenhaus während einer Pandemie durch Atemwegserreger
Erich Freisleben
Hauptsache gesund?!
Medizin als Religionsersatz
Kathrin Schmidt
Die Politik der Angst und die Poesie der Furchtlosigkeit .
Thomas A. Seidel
Todesangst und Auferweckungshoffnung
Ein lutherisches Votum
Teil 3
Frauke Rostalski
Aufarbeitung der Corona-Pandemie
Was kann sie leisten und wie soll sie aussehen?
Detlev H. Krüger und Klaus Stöhr
Das Virus, die Seuchenbekämpfung und die Angst Für eine interdisziplinäre Aufarbeitung
Andreas Radbruch
Immunologie in der Pandemie
Infektion, Impfung und Vulnerabilität
Hans-Jürgen Papier
Die Corona-Krise in Deutschland Aufarbeitung unter verfassungsrechtlichen Aspekten .
Dorothea Wendebourg
Aufarbeitung bei den Kirchen – was ist „relevant“?
Eine dringliche Anfrage
Wichard von Heyden
Angst, Glaube, Zivilcourage
Was kennzeichnet die messianische Berufung der Kirchen in Panik und Pandemie?
Die Autoren
Prüft aber alles und das Gute behaltet.
1. Thessalonicher 5,21
Vorwort
Wo Gefahr droht, ist Angst eine natürliche Reaktion. Sie kann lebensrettend sein. Menschliche Existenz ist geprägt von der Abwehr des Bedrohlichen, sei es Krankheit, Krieg, Hunger, Dürre, Kälte oder Hitze. Verantwortliches staatliches Handeln war und ist daran zu erkennen, ob es gelingt, Gefahren rechtzeitig zu identifizieren, sachgerecht zu analysieren und angemessene Gegenmaßnahmen zu ergreifen, die verständlich kommuniziert und fortlaufend geprüft werden. Kurz: Kluge Politik tut alles, was hilft, Schaden vom einzelnen Bürger und vom Gemeinwesen abzuwenden.
Doch was passiert, wenn die Analyse gravierende Fehler aufweist? Wenn Gegenmaßnahmen überzogen, gar gefährlich, da zu risikobehaftet sind? Wenn mediale Kommunikation die Angst befeuert, statt sie zu bändigen? Wenn die wissenschaftliche und politische Evaluation mangelhaft ist oder folgenlos bleibt? Der Blick zurück auf die stürmischen Jahre der Corona-Krise zeigt die Aktualität und Brisanz dieser Fragen. Die Depublikation unseres Bandes „Angst, Politik, Zivilcourage“ am 10. November 2023 und die Heftigkeit der damit verbundenen Kontroverse veranschaulichen diese Brisanz.1
1 Siehe: www.georgsbruderschaft.de, dort unter „Publikationen“. Es ist geplant, diese Rückschau auf die Corona-Krise, (hg. v. Thomas A. Seidel und Sebastian Kleinschmidt) und die Auseinandersetzungen um seine Depublikation (am 10.11.2023) noch 2025 als „Book on Demand“ zu veröffentlichen.
Vorwort 11
Mit der Offenlegung der „RKI -Protokolle“2 im Jahr 2024 gerät ein fragwürdiges Wechselspiel von Wissenschaft und Politik ans Licht der erstaunten, noch immer schmerzhaft polarisierten Öffentlichkeit.
Doch auch das Paul-Ehrlich-Institut (PEI ) sollte sich in die anstehende Corona-Aufarbeitung konsequent einbringen. Das PEI hat den gesetzlichen Auftrag, zur Aufdeckung von Impfnebenwirkungen die Daten der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV ) auszuwerten. Dies steht noch immer aus.3 Das PEI ist für die Überwachung und Sicherheit der Impfstoffe zuständig, prüft diese jedoch nicht selbst auf mutmaßliche DNA -Verunreinigungen, sondern verlässt sich auf die Prüfprotokolle der Hersteller. Hier scheinen Korrekturen unerlässlich zu sein.4
Jetzt, da sich der Sturm ein wenig gelegt hat, die tatsächliche Gefährlichkeit des SARS -CoV-2-Virus eingeordnet werden kann, individuell, national und international, ist es hohe Zeit, die Folgerungen aus dem Geschehen in den Blick zu nehmen. „Wir werden einander viel verzeihen müssen“, sagte der vormalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im April 2020. Inzwischen hat er
2 Protokolle des Robert Koch-Instituts (RKI ), ungeschwärzt veröffentlicht (geleakt) am 23.07.2024.
3 Siehe: Plusminus: Corona-Impfung – Warum versagt die Regierung bei Impfgeschädigten? ARD , 20.11.2024. https://www.ardmediathek.de/video/plusminus/corona-impfungwarum-versagt-die-regierung-bei-impfgeschaedigten/das-erste/Y3JpZD ovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3BsdXN taW51cy9lMTB mZjg0Ni02Y2I4LTR jODA tYWJ jOS 1hYzRkMWZ kOWJ mYmM (letzter Abruf 28.02.2025).
4 Ein diesbezüglicher mdr-Umschau-Beitrag über mutmaßliche DNA -Verunreinigungen der Corona-Impfstoffe vom 12.12.2023 wurde am 17.12.2023 vorübergehend und am 20.12.2023 dauerhaft depubliziert; siehe: Dieter Korbely & Beate Strehlitz: Zensur beim MDR ? Beitrag über verunreinigte Corona-Impfstoffe bleibt ohne Begründung gelöscht. Berliner Zeitung 14.09.2024. https://www.berliner-zeitung.de/open-source/zensur-beim-mdr-beitrag-ueber-verunreinigte-corona-impfstoffe-bleibt-ohne-begruendunggeloescht-li.2253452 (letzter Abruf 28.02.2025).
12 Vorwort
seine Sicht der Dinge in einem Buch dargestellt.5 Doch damit ist längst nicht alles gesagt. Viele Fragen bleiben offen. Neue Fragen tauchen auf. Sie werden mit weiteren Erkenntnissen zu Herkunft und Wirkung von COVID -19 sowie zu den Gründen und Hintergründen der entsprechenden staatlichen Maßnahmen größer und drängender.
Die Hälfte aller deutschen Bundesländer hat bereits Formate zur Corona-Aufarbeitung installiert, von Bürgerräten über EnqueteKommissionen bis zu parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die enorme administrative Dynamik des Corona processing in den USA , die mit dem Abschlussbericht des Select Subcommittee on the Coronavirus Pandemic, eines Ausschusses des Repräsentantenhauses, im Dezember 2024 dokumentiert wurde, und auch die Maßnahmen der neuen US -amerikanischen Regierung direkte und indirekte Auswirkungen auf Europa und Deutschland haben werden.6 Die neue Bundesregierung wird an diesem Thema nicht vorbeikommen. Doch neben den dringlichen medizinischen und gesundheitspolitischen Fragen verdient auch die Rolle der Judikative, der Medien und – für uns besonders wichtig – der beiden großen Kirchen in Deutschland eine vorurteilsfreie, sachgemäße und gründliche Aufarbeitung.
„Angst, Glaube, Zivilcourage“ lauten die Leitwörter, die die Recherche begleitet und zu dieser multiperspektivischen Betrachtung geführt haben. Wir möchten, dass sie als Anstoß und
5 Vgl. Jens Spahn: Wir werden einander viel verzeihen müssen: Wie die Pandemie uns verändert hat – und was sie uns für die Zukunft lehrt. Innenansichten einer Krise. Heyne, München 2022.
6 Vgl. dazu den folgenden Beitrag: Alexander Kekulé: USA haben Corona „aufgearbeitet“ – was wir daraus lernen können. FOCUS online 15.12.2024. https://www.focus. de/gesundheit/news/usa-haben-corona-aufgearbeitet-was-wir-daraus-lernen-koennen_ id_260552503.html (letzter Abruf 28.02.2025).
Ermutigung zu weiterer Aufklärung verstanden wird. Dabei sollte der Rat des Apostels Paulus befolgt werden: „Prüft aber alles und das Gute behaltet“ (1. Thessalonicher 5,21; LUT ).
Für diesen Band konnten ausgewiesene Fachleute und namhafte Publizisten gewonnen werden. Was sie bei aller Verschiedenheit der Standpunkte und Temperamente eint, ist der reformatorische Mut zur Wahrheit. Wahrheit verstanden, wie Lessing sie verstand: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen.“7
Lassen Sie sich mitnehmen auf eine hoffentlich ertragreiche, die Urteilskraft und Resilienz stärkende Erkundungsfahrt. Am Ende führt diese uns alle zu den zwingend notwendigen, lebenswichtigen Folgerungen aus der Corona-Krise.
Thomas A. Seidel / Sebastian Kleinschmidt Weimar und Mittenwalde, Himmelfahrt 2025
7 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Über die Wahrheit. Eine Duplik (1778). Hard Press 2019, 4.
Vorwort
Sebastian Kleinschmidt
Angst in Sicht!
Kleine Theologie der Nautik
An Bord von Schiffen, ob unter Segeln oder Dampf, war es von alters her üblich, dass die diensthabende Wache neben dem Rudergänger auch den Mann für den Ausguck stellte. Ausguck gehen war für die Sicherheit auf See von größter Bedeutung, da es half, Gefahren zu erkennen und Kollisionen zu vermeiden. Besonders schwierig war die Aufgabe bei schlechter Sicht. Über die Unachtsamkeit der Lugausleute ist schon immer geklagt worden. Nicht nur kam es vor, dass die Leichtmatrosen im Krähennest Entscheidendes übersahen, manchmal geschah es auch, dass sie Sinnestäuschungen zu falschen Meldungen verleiteten.
Was aber würde wohl einem wachhabenden Offizier auf der Kommandobrücke durch den Kopf gehen, wenn der Ausguck eines Tages plötzlich „Angst in Sicht!“ riefe? Er würde denken, der Mann sei verrückt geworden. Denn wer ein äußeres Objekt der Bedrohung – ein anderes Schiff, ein Eisberg, eine Klippe – mit der eigenen inneren Reaktion darauf verwechselt, muss verrückt sein.
Kann man mit der Angst kollidieren? Kann man ihr in letzter Minute ausweichen? Kann man sie umschiffen? Das könnte man, wenn sie ein Objekt wäre, das sich orten ließe. Aber die Angst ist kein Objekt. Auch nicht für das Schiff des Lebens. Sie ist etwas Subjektives in uns, die wir an Deck sind. Den einen ereilt sie, den anderen nicht.
Angst ist eine hochdynamische Reaktion des Organismus auf einen Reiz, ein alarmierendes Gefühl, ein Gemütszustand
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äußerster Unruhe und nicht gerade schön anzuschauen. Sie verrät sich im unsteten Blick, an den vor Schreck aufgerissenen Augen. Sie ist ein starker Affekt der Schwäche und hat nicht nur wegen ihrer emotionalen Ansteckungskraft, sondern auch durch ihr paradoxes Wesen – sie steigt an, sobald man sie zu beschwichtigen sucht – eine Ausnahmestellung in der seelischen Ökonomie.
Angst kann Tiere und Menschen überfallen. Sie ist genetisch bedingt und wird durch bedrohlich wirkende Signale der Umwelt geweckt. Sie begleitet das Empfinden von Gefährdung, Hilflosigkeit und Ohnmacht, das Weder-ein-noch-aus-Wissen, alles Dunkle und Unheimliche.
Angst ist zukunftsgerichtet und antizipiert Kommendes im Hier und Jetzt. Sie ist eine Brandbotschaft des Gehirns an unser Bewusstsein und unser Unterbewusstsein, an die Dringlichkeit unseres Tuns und Lassens. Sie fordert uns auf, auf der Stelle zu reagieren: entweder durch Flucht oder durch Kampf oder durch Kapitulation. Flüchten sowie Kämpfen vitalisiert und führt aus der Angst heraus, Kapitulieren lähmt und führt tiefer in sie hinein. Man stellt sich tot, als suche man Schutz in der Schutzlosigkeit.
Die schluchtenreiche Landschaft der Ängste hat von jeher die Einbildungskraft der Menschen beschäftigt, und das nicht nur in den Künsten, sondern auch in der Religion. Die wirkmächtigste Metapher im Register der Furchtsamkeit ist die Apokalypse, die in unseren Zeiten eine beispiellose Konjunktur erlebt.
Mit apokalyptisch bezeichnet man katastrophische, schreckensreiche, angsteinflößende Ereignisse. Religiös verstanden sind sie Strafgerichte Gottes, so auch auf Dürers Holzschnitt „Die vier apokalyptischen Reiter“ von 1498. Das berühmte Werk versinnbildlicht die Boten des Jüngsten Gerichts gemäß der Offenbarung des Johannes, nämlich Krieg, Pest, Hunger und Tod, und wie sie erbarmungslos über die zu Boden stürzenden Menschen hinwegstürmen.
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Dürfen wir die Corona-Pandemie der Jahre 2020 bis 2022 bei aller Gefährlichkeit, die sie hatte, bei allen Leiden, die sie verursachte, als apokalyptisches Geschehen bezeichnen? Das wäre wohl übertrieben. Dazu sind wir zu glimpflich davongekommen.
Außerdem haben wir uns zu helfen gewusst und werden es weiterhin wissen.
Und wie ist es mit dem ruchlosen russischen Überfall auf die Ukraine, dem versuchten Landraub, dem nicht für möglich gehaltenen Eroberungskrieg, der seit dem 24. Februar 2022 im Osten Europas tobt? Das könnte der Sache schon näherkommen, auch deshalb, weil niemand weiß, wohin er noch führen wird.
Und wie steht es mit dem Energienotstand? Und wie mit der Inflation? In allen Kesseln steigt der Druck. Woche für Woche zirkulieren neue Alarmbotschaften: Wohlstandsschwund, Deindustrialisierung, Blackout, Finanzcrash, erneute Flüchtlingswelle. All das ist bedrohlich, all das macht Angst. All das sorgt für Stress in Staat und Gesellschaft.
Und dann ist da noch etwas, das die Welt schon länger und von Jahr zu Jahr mehr in alptraumhafte Befürchtungen versetzt: die heraufziehende Klimakrise. Gewarnt wird vor dem drohenden Versiegen des Golfstroms, vor starken Stürmen, langen Dürren, großen Überflutungen, vor dem Auftauen der Permafrostböden, dem Schmelzen des polaren Eises und dem gigantischen Ansteigen des Meeresspiegels. Hier gewinnen die Voraussagen – nicht von Sehern, sondern aus der Forschung (der Philosoph Ulrich Horstmann nennt sie „das verhängnisorientierte wissenschaftliche Hochrechnungswesen“) – inzwischen tatsächlich den Charakter apokalyptischer Prophezeiungen, und an manchen Orten sind sie auch schon Wirklichkeit und Wahrheit.
Ende Juni 2021 wurden in der Ortschaft Lytton in der westkanadischen Provinz British Columbia 49,6 Grad Celsius im Schatten gemessen. Drei Tage später wurde das Dorf von einer
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Feuerwalze überrollt. Die Einwohner mussten fliehen, Hals über Kopf. So gut wie alles, was sie besaßen, wurde ein Raub der Flammen. Übrig blieben komplett verkohlte Häuserreihen und Straßenzüge, der Ort war zu neunzig Prozent zerstört.
Drei Wochen darauf das Gegenstück in Deutschland. Zwei Tage Starkregen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Die Wassermassen ließen zwei kleine Flüsse, die Ahr und die Erft, in rasender Geschwindigkeit auf Rekordpegel ansteigen, brachten sie zum Überlaufen und führten zu gewaltigen Überschwemmungen und Erdrutschen, die besonders die Orte Ahrweiler und Erftstadt schwer in Mitleidenschaft zogen. Mehr als hundertachtzig Tote, verseuchter Schlamm und Zerstörungen von Häusern, Straßen, Bahngleisen, Brücken, Strom- und Gasleitungen, Fabriken, Schulen und Krankenhäusern waren die Folge.
Nicht wenige, die in Kanada das Feuerinferno durchmachten, werden gedacht haben, dass das die Anfänge hyperletaler Hitzewellen sind. Und nicht wenige, die in Deutschland das Wasserinferno erlitten, werden gedacht haben, dass so moderne Sintfluten aussehen. Und dass das eine wie das andere ein Zeichen dafür ist, dass unser Aufenthalt auf Erden ein tragisches Ende nehmen könnte.
Apokalypse heißt Enthüllung, Offenbarung. Was offenbart sich hier? Der Dichter und Theologe Johann Gottfried Herder hat einmal in einem hochfliegenden Wort vom Menschen als dem ersten Freigelassenen der Schöpfung gesprochen. Heute erst zeigt der Satz seinen diabolischen Doppelsinn. Der Freigelassene der Schöpfung, der aus ihr Herausgetretene, der nicht mehr an sie Gebundene. Der Mensch, die Krone der Schöpfung, entpuppt sich als Parasit der Erde, als Irrläufer der Evolution. Und die Erde schickt sich an, ihn abzuwerfen.
Wir kennen alle die berühmten Verse aus Bertolt Brechts Exilgedicht „An die Nachgeborenen“, geschrieben zwischen 1934 und 1938 im dänischen Svendborg:
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt
Natur als Gegenstand der Poesie, so die politische Botschaft, ist nur zulässig, wenn das gesellschaftliche Unheil aufgezeigt wird. Und nun scheint es so zu kommen, dass gesellschaftliches Unheil künftig direkt durch Naturunheil hervorgerufen wird, ein Unheil, das nicht durch die Natur selbst, sondern durch menschliche Einwirkung auf sie mitverursacht ist. Gespräche über Bäume werden immer öfter zu Gesprächen über brennende Bäume. Auf griechischen Inseln wurden im Jahr 2021 Kirchenglocken geläutet, um Menschen zu evakuieren. Im Nu wurde dort ein Sommerwald zu Winterwald – nur ohne Schnee und Kälte. Stattdessen Asche und verbrannte Erde.
Augenscheinlich befindet sich der Metabolismus zwischen Mensch und Natur an einem schicksalhaften Wendepunkt. Wir leben mehr und mehr in der gleichsam mythischen Befürchtung, dass es mit der Duldsamkeit der Natur zu Ende geht, dass uns Wetter und Himmel dafür strafen werden, dass wir im Aussaugen, Verschmutzen und Vermüllen, im Versiegeln und Vergiften, im Bebauen und Besiedeln der Erde, kurz im frevlerischen Industrialismus der Massenzivilisation zu weit gegangen sind.
In der heutigen Art, zu produzieren, so Klaus Michael MeyerAbich, tun die Menschen so, als seien sie irgendwann als interplanetarische Eroberer auf die Erde hinabgeschwebt, um es sich dort eine Zeit lang möglichst gutgehen zu lassen, und als könnten sie, wenn nichts mehr zu holen ist, auf demselben Wege wieder verschwinden.
Damit sind wir mitten drin im Sorgenzentrum der Jetztzeit. Hat das 20. Jahrhundert – in Gestalt von Hitlerismus und Stalinismus – das Grundvertrauen in die menschliche Zivilisation
Angst in Sicht! 33
erschüttert, droht das 21. Jahrhundert das Grundvertrauen in die Natur zu zerstören.
Inzwischen macht sich die Erkenntnis breit, dass ein neues Erdzeitalter begonnen hat, das Anthropozän, und dass bestimmte Reaktionen der Natur erstmals eine Folge menschlicher Rückwirkungen auf sie sind. All diese Dinge und besonders die Erderwärmung, und was aus ihr folgt, machen mehr und mehr Angst. Ist sie berechtigt? Man wird sehen.
Über Angst wird ungern gesprochen, denn sie scheint, da mit Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit verbunden, den Menschen zu lähmen und zu erniedrigen. Angst kann schmachvoll sein und unehrenhaft. Die Leute denken, sie sei etwas für Feiglinge. Doch dem ist nicht so. Es gibt auch einen Mut zur Angst. Und oft haben die, die bestreiten, Angst zu haben, nur Angst vor der Angst. Die Medizin nennt das Phobophobie.
Angst an sich ist keine Störung. Sie wird durch bedrohlich wirkende Signale der Umgebung geweckt und ist eine instinktive Form der Wahrnehmung von akuter und künftiger Gefahr. Und so stellt sich – zumindest für Christen – die Frage: Sollte man sie, die Angst, nicht zum Angelpunkt einer dem Ernst der Lage angemessenen Spiritualität machen? In Gottesdiensten, die das Bewusstsein der Bedrohung schärfen? Denn ohne Angst, ohne das Vor- und Mitwissen der Angst, ohne ihre Nähe zur Wahrheit, ohne ihre Sehkraft sind wir, um an ein Wort des Philosophen Günther Anders zu erinnern, apokalypse-blind. Doch höre ich schon den Einspruch der Theologen, Angst dürfe niemals die Grundlage des Glaubens sein. Angst sei Unheilserwartung, ein denkbar schlechter Kurs fürs Kirchenschiff, eine grobe Missweisung der evangelischen Kompassnadel. Schließlich bauen Christen auf Hoffnung, auf Vertrauen in Gottes Beistand als Fundament des Heils. Die Losung lautet: Fürchtet euch nicht! Doch vergessen wir nicht, dass die alte, die vertraute christliche
Sebastian Kleinschmidt
Hoffnung nicht mit der diesseitigen Apokalyptik verbunden war, sondern mit der biblischen. In der Heiligen Schrift gibt es Horror visionen die Fülle, im Alten Testament nicht nur das Buch Daniel und im Neuen Testament nicht nur die Offenbarung des Johannes. In beiden artikulieren sich sowohl bildmächtige Gesichte göttlich beorderter Schrecken zum einbrechenden Ende der bisherigen Welt, des alten Äon, als auch Gesichte einer messianischen Rettung, einer neuen Welt, des neuen Äon. Die Johannesoffenbarung, geschrieben in der Zeit römischer Christenverfolgung, endet mit der Erscheinung des himmlischen Jerusalem. Das Buch Daniel, dessen Geschehnisse sich während der babylonischen Gefangenschaft der Juden ereignen, endet mit der Erscheinung des aus den Wolken herniederschwebenden Menschensohns und der Vorhersage, dass die Gerechten des Volkes Israel aus den Gräbern auferstehen werden zu ewigem Leben.
„Der Zweck dieser Literatur“, so der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide, „ist zweifach: Trost zu spenden über das Elend heute – mittels der Belehrung über das Unheil von morgen, dem das Heil von übermorgen unverzüglich folgen muss.“
Was aber wenn – wie in der säkularen Apokalyptik – keine Rettung, kein Heil von übermorgen verheißen wird? Wenn die Erwartung dunkler Fatalität jeden Versuch, auf religiöse Weise an neue Anfänge zu glauben, unausführbar macht? Gleichsam das Kreuz ohne Auferstehung, Karfreitag ohne Ostersonntag. Dann stünden wir an einem Punkt, wo nirgendwo mehr transzendenzverbürgte Hoffnung ist. Und wo allein die Angst der irdischen Wesen bleibt.
Im Umgang mit Angst sind uns drei Reaktionen vertraut: Verkleinern, Vergrößern oder Bannen. Angst verdrängen macht blind für Gefahr. Angst schüren macht zittern bei Gefahr. Angst bannen macht stark in Gefahr.
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Ins Politische gewendet: Angst ignorieren führt zu Illusionismus. Angst schüren zu Machiavellismus. Angst bannen zu Wachsein und Besonnenheit.
Das „führt zu“ gilt auch andersherum: Ignoranten – nach dem Motto „dieser Kelch wird schon an uns vorübergehen“ – drängen auf Angstvergessen; Machiavellisten – nach dem Motto des Namensgebers „Wer die Ängste der Menschen lenkt, wird Herr ihrer Seelen“ – drängen auf Angstschüren; Wache und Besonnene – ganz ohne Motto – drängen auf Angstbannen.
Als Gebot praktischer Vernunft empfiehlt sich das Dritte, das tertium datur, die Mitte zwischen den Extremen, nämlich das kluge, pragmatische Bannen der Angst. Sonst wird sie uns mit der Macht geballter ideologischer Gefühlsprimitivität in ihren Bann schlagen. Soll heißen, dass wir uns von ihr überwältigen lassen. Denn man kann Menschen mit der Angst auch erschrecken.
Wir müssen in unserer Lage Angst sowohl respektieren als auch bezwingen. Nicht nur, um der Schreckensspirale des PrognosenAlarmismus zu widerstehen, sondern auch dem Doom Scrolling. Doom steht für Untergang, Scrolling für das Verschieben von Bildausschnitten auf den Displays von Smartphones und Laptops. Doom Scrolling ist der obsessive Drang, unentwegt düstere, ja dystopische Nachrichten im Netz zu konsumieren. Es befeuert das, was man inzwischen weltweit Climate Anxiety, Klima-Angst, nennt.
Doch auch dem Gegenteil, der Indolenz, der Vogel-StraußMentalität gilt es zu trotzen. Hanns Cibulka, ein Dichter, der nicht aufs Warten setzen wollte, schrieb vor Jahrzehnten: „Obwohl die Temperaturen nur langsam steigen, fühlen wir bis in die Fingerspitzen die Bedrohung. In allen Dingen wächst verdeckt die Angst.“
Doch wie und mit welchen Mitteln will man sich dem unheilschwangeren Ganzen, von dem wir schon so lange wissen,
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überhaupt entgegenstellen? Ich spreche jetzt nicht von Aktivismus, nicht von Politik, nicht von Wissenschaft, nicht von Maßnahmen der sogenannten Klimarettung wie der Reduzierung des anthropogenen Anteils am CO 2-Gehalt der Atmosphäre und der daran geknüpften Hoffnung, den Treibhauseffekt und damit die Erderwärmung zu stoppen. Die Angst, die tückische, sagt uns ja gerade: Das Drama ist nicht aufzuhalten, was auch immer wir dagegen unternehmen. Die Gewichte, die zu stemmen wären, sind zu groß. Kaum dass es uns gelingen werde, den Lauf der Dinge zu verzögern, von Richtungsumkehr nicht zu reden. Der alles andere als apokalypse-blinde Rudolf Bahro meinte einmal: „Es ist, als wollten wir uns mit Tonnen Blei an den Füßen aus einem Schiffbruch retten.“
Hier nun, inmitten einer zutiefst modernen, durch wissenschaftliche Rationalität verbürgten Naturunruhe, stellt sich mit einem Mal erneut die religiöse Frage, eine Frage, von der so viele dachten, dass sie längst hinter uns liege. Sie geht übrigens auch Agnostiker und Atheisten etwas an. Selbst wenn wir nichts von der Angst wüssten, eines wissen wir: Angst lehrt beten. Auch diejenigen, die zuvor noch nie gebetet haben. Und nicht nur das. Beten ist auch ein wirksames Mittel gegen sie. Die Angst drückt von außen nach innen, das Gebet löst von innen nach außen. „Das Gebet“, sagt Alanus ab Insulis, der französische Scholastiker aus dem zwölften Jahrhundert, „stellt sich ein, wenn die Nacht das Denken überkommt.“ Und der Existentialist aus dem zwanzigsten Jahrhundert Albert Camus antwortet darauf: „Es ist aber notwendig, dass der Geist der Nacht begegne.“ Das würden auch Mystiker so sehen, aus welchem Jahrhundert auch immer. Ohne Beten kein Bannen, kein Besänftigen der Angst. Und ohne Angst kein inniges Gebet. In Psalm 107,6 (LUT 84) heißt es: „die dann zum HERRN riefen in ihrer Not / und er errettete sie aus ihren Ängsten“.
Diese Ansicht wird natürlich nicht von allen geteilt, zum
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Beispiel nicht von Bertrand Russell, dem britischen Mathematiker und Philosophen. Der Nobelpreisträger hat in seiner Schrift „Warum ich kein Christ bin“ von 1927 kurz und bündig erklärt: „Was die Religion betrifft, bin ich der gleichen Ansicht wie Lukrez. Ich halte sie für ein aus der Angst geborenes Übel und eine Quelle unsäglichen Leids für die Menschheit.“ In seinem Buch „Eroberung des Glücks“ von 1930 hat er jenseits des Glaubens ein eigenes Programm der Angstbekämpfung entworfen, das ganz auf Rationalisierung setzt.
Sein Grundgedanke lautet: Wenn Unheil drohe, sei es ratsam, sich ernsthaft und bedacht zu überlegen, was im schlimmsten Falle eintreten könnte. Hat man sich das möglicherweise bevorstehende Missgeschick genau ausgemalt, dann suche man nach triftigen Gründen, aus denen es alles in allem doch nicht gar so furchtbar sei. Solche Gründe gebe es immer, da selbst im allerschlimmsten Falle nichts, was uns persönlich geschehe, irgendeine kosmische Bedeutung habe. Sobald man eine Zeit lang den schlimmsten Ausgang in Ruhe überdacht habe und mit aufrichtiger Überzeugung zu dem Schluss gekommen sei, dass er schließlich doch nicht von so ungeheurer Bedeutung ist, werde man finden, dass die Selbstquälerei in ganz erstaunlichem Grade nachlasse.
„Wohl dem, bei dem das funktioniert!“, möchte man dem großen Gelehrten zurufen. Allerdings war das nicht einmal bei ihm selbst der Fall. Wie Russell in seiner Autobiografie erzählt, erlebte er verschiedentlich Angstzustände, die er durch kein intellektuelles Verfahren beheben konnte. Bei ihm war es nicht die Angst vorm Klimawandel, sondern vor erblichem Wahnsinn und Depressionen.
Bei Gebeten stellt sich die Frage, ob sie denn erhört werden. Interessant ist, dass beim Beten unter Angst der Fall eintritt, dass diese Frage an Gewicht verliert. Denn auch wenn das Gebet nicht erhört wird, wirkt es, als wäre es erhört worden. Wie das?
Wird hier das Beten zu Gott zu einer Fürbitte an uns selbst, einer Bitte im Sinne von „bleib ruhig, bleib ruhig“? Zu einer Bitte, die sich sodann kraft Autosuggestion erfüllt? Nein, so simpel ist es nicht. Und doch reicht dem Beter ein Als-ob. Er betet, als ob sein
Gebet erhört wird. Dazu passt ein Diktum Luthers. In Sachen Ora et labora gibt er den Rat: „Bete, als ob alles Arbeiten nichts nützt, und arbeite, als ob alles Beten nichts nützt.“
Seefahrt übrigens ist eine Arbeit eigener Art, und nicht umsonst heißt sie christliche Seefahrt. Auch Jesus war ein Seefahrer. Hätte er den Spruch des römischen Feldherrn Pompeius gekannt, mit dem der eine Sturmwarnung abtat, das berühmte „Navigare necesse est, vivere non necesse est“ („Zu segeln ist nötig, zu leben ist nicht nötig“), es hätte ihn vielleicht zu außergewöhnlichen nautischen Gleichnissen veranlasst, zu einer jesuanischen Lehre vom richtigen Segeln und richtigen Leben.
Nautik als Lehre vom Navigieren der Schiffe bei Gefahr, Theologie als Lehre vom Steuern des Glaubens im Meer des Unglaubens. Jesus hatte mit beidem zu tun, zum Beispiel auf dem See Genezareth:
Als aber Jesus die Menge um sich sah, befahl er, hinüber ans andre Ufer zu fahren. [...] Und er stieg in das Boot und seine Jünger folgten ihm. Und siehe, da erhob sich ein gewaltiger Sturm auf dem See, so dass auch das Boot von Wellen zugedeckt wurde. Er aber schlief. Und sie traten zu ihm, weckten ihn auf und sprachen: Herr, hilf, wir kommen um! Da sagt er zu ihnen: Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? Und stand auf und bedrohte den Wind und das Meer. Da wurde es ganz stille.
Matthäus 8,18.23-26; LUT 84
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Doch damit ist das nautische Können des Nazareners noch nicht zu Ende. Eine weitere Begebenheit am See Genezareth wird uns berichtet:
Und alsbald trieb Jesus seine Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm hinüberzufahren, bis er das Volk gehen ließe. Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er allein auf einen Berg, um zu beten. Und am Abend war er dort allein. Und das Boot war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.
Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem See. Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!
Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, hilf mir! Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und die traten in das Boot und der Wind legte sich.
Matthäus 14,22-32; LUT 84
Nachdem wir vernommen haben, was da geschah auf dem Wasser, müssen wir den Begriff des Nautischen erweitern. Zur Nautik, theologisch gesehen, gehört jetzt auch das Navigieren und Manövrieren des Bootes Mensch auf dem Wasser. Das ist das eine. Das
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andere ist, dass das Evangelium in beiden Szenen nicht von Angst spricht, sondern von Furcht.
Furcht, könnten wir jetzt sagen, ist Entsetzen vor der Sichtbarkeit des Schrecklichen. Der Sturm, die Wellen, die Gefahr des kenternden Bootes. Angst hingegen wäre ein Entsetzen vor der Unsichtbarkeit des Unheimlichen, das zum Beispiel ein Mensch allein bei Nacht im dunklen Wald fühlt. Jesus kannte beides, Furcht und Angst. Die Furcht nur bei anderen, denn er war furchtlos, doch die Angst auch bei sich selbst.
Die Furcht der anderen geht er an, mit Worten und mit Taten. Bei der Angst ist es anders. Denken wir an das Geschehen im Garten Gethsemane. Es war kurz vor seiner Verhaftung. Jesus wusste um sein Karfreitagsschicksal, es machte ihm Angst. Ein Zittern und Zagen hatte ihn ergriffen, das er nur durch Gebet und mithilfe eines Engels bändigen konnte. Dann sprach er zu seinen Jüngern:
Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir. Das habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.
Johannes 16,32-33; LUT 84
Uns aber, das müssen wir gestehen, hilft dieses schöne Wort von der Weltüberwindung nicht. Wir sind und wir bleiben in der Welt, und mit uns die Angst. Und deshalb will ich zum Schluss auf die besonders von Sigmund Freud mit Nachdruck getroffene Unterscheidung zwischen Realangst und neurotischer Angst zu sprechen kommen.
Angst ist eine psychosomatische Reaktion auf Gefahr. Realangst
korreliert mit Realgefahr. Realgefahr, so Freud, sei eine Gefahr, die wir kennen, Realangst die Angst vor einer solchen Gefahr. Die neurotische Angst sei Angst vor einer Gefahr, die wir nicht kennen. Die neurotische Gefahr müsse also erst gesucht werden. Der Hauptpunkt an der Gefahr, sei es reale oder neurotische, ist das Gefühl unserer Hilflosigkeit, einer sowohl motorischen als auch psychischen Hilflosigkeit.
In puncto Gefahr ist entscheidend, wie nah oder fern das indizierte Unheil ist, das droht. Das ist räumlich wie zeitlich zu verstehen. Was das Zeitliche angeht, so ist es ein großer Unterschied, ob eine Katastrophe unmittelbar bevorsteht oder erst in Jahren oder Jahrzehnten. In beiden Fällen aber handelt es sich, was unser Wissen betrifft, um Aussagen über die Zukunft. Und an dieser Stelle ergibt sich ein Erkenntnisproblem.
Von Aristoteles stammt das Axiom: „De futuris contingentibus non est determinata veritas.“ Zu Deutsch: „Von künftigen Dingen gibt es keine eindeutige Wahrheit.“ Mit anderen Worten: Von der Zukunft können wir nichts wissen. Wir können nur etwas über sie meinen und das Gemeinte kundtun. Worüber wir von der Zukunft am allerwenigsten wissen, das ist das künftige Wissen selbst. Darauf hat als Erster Karl Popper hingewiesen, nämlich dass man künftiges Wissen prinzipiell nicht prognostizieren kann. Wir wissen nicht, ob im Jahr 2100 die Erde eine Temperatur von so und so viel Grad Celsius über normal haben wird, aber wir wissen noch weniger, welches Wissen wir 2100 über diesen Gegenstand haben werden.
Dennoch blüht das Geschäft mit den Voraussagen, besonders den Voraussagen des Unheils. „Hört auf die Wissenschaft!“, rufen die Fridays-for-Future-Aktivisten. Und auch wenn das Prophezeite nicht eintrifft, würde die Glaubwürdigkeit der Prophezeienden davon nicht geschwächt. Für den Fall hat man vorgesorgt. Denn im Genre der Katastrophenprognose gilt neben der
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self-fulfilling prophecy auch ihr Gegenteil, die self-destroying prophecy. Das bedeutet: Die Katastrophe ist nicht eingetroffen, weil wir davor gewarnt haben.
Peter Sloterdijk hat einmal erläutert, dass für einen Großteil des menschlichen Lernens bisher das Gesetz galt, dass man allein aus Schaden klug wird. Demgegenüber müsse die prognostische Intelligenz klug werden wollen, bevor der Schaden eingetreten ist. Das sei ein Novum in der Geschichte der Didaktik. Und um in die Logik solcher Lernprozesse einzudringen, sei eine Kritik der prophetischen Vernunft vonnöten. Diese dürfe sich nicht abschrecken lassen vom Paradoxon des Unheilsprophetismus: dass er, wenn er erfolgreich war, im Nachhinein wie ein überflüssiger Alarm aussehen werde. Denn eben aufgrund seines Dazwischentretens wird nicht passiert sein, wovor er warnte.
Da hätten wir endlich einmal etwas, wovor wie keine Angst haben müssen. Etwas, das eine Hoffnung ist. Fast hätte ich gesagt, etwas Christliches.