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SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

© SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

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Internet: www.scm-brockhaus.de · E-Mail: info@scm-brockhaus.de

Hauptübersetzung:

Zürcher Bibel, © 2007 Verlag der Zürcher Bibel beim Theologischen Verlag Zürich.

Weiter wurden verwendet:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LUT).

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen (ELB).

Die Heilige Schrift, übersetzt von Hermann Menge. Neuausgabe. © 1949, 2003 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (Menge).

Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung, Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft, wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten (NGÜ).

Lektorat: Silke Gabrisch, Stuttgart

Umschlaggestaltung: Stephan Schulze, Stuttgart

Autorenfoto: © Tom Pingel

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Gedruckt in Deutschland

ISBN 978-3-417-00071-9

Bestell-Nr. 227.000.071

Teil 1

DIE SEELE DES LEITENS BESTEHT IM LEITEN VON

SEELEN

Vielleicht klingt es in den Ohren mancher Leserinnen und Leser fremd, wenn ich vom »Leiten von Seelen« spreche. Weshalb nicht einfach von Menschen reden? Der Grund dafür liegt im Menschenbild der Bibel. Die Seele des Menschen bezeichnet einen bestimmten Aspekt unseres Menschseins.1 Genauso wie der Körper, das Herz, der Verstand usw. Manchmal ist es gut, einen dieser Aspekte näher unter die Lupe zu nehmen. Das gilt besonders für die Seele. Neben der im Allgemeinen weiter verbreiteten Beschäftigung mit dem Körper oder auch mit dem Gehirn geht sie leicht vergessen. Dabei hat sie nach der Überzeugung der Bibel einen großen Einfluss auf das, wer wir sind und was wir tun. Wenn wir verstehen, was die Seele ist und was in ihr vorgeht, dann hilft uns das im Umgang mit unseren Mitmenschen – und mit uns selbst. Unsere Seele steht für eine große Bandbreite von

Regungen, Gefühlen, Motiven, Gedanken und Befürchtungen, die tief in unserem Inneren verborgen sind. Das Verhalten eines Menschen ist immer ein verlängerter Arm dessen, was in seiner Seele vor sich geht. Wer um die Kräfte der Seele weiß, kann Menschen besser führen. Väter und Mütter können angemessener auf das Verhalten ihrer Kinder reagieren. Paare werden besser im Umgang miteinander. Aber auch mit sich selbst kommt besser klar, wer um seine Seele weiß.

Wer um die Kräfte der Seele weiß, kann Menschen besser führen.

Im ersten Teil dieses Buches möchte ich Sie an das biblische Verständnis der Seele heranführen. Manche Gruppierungen im Judentum haben sich besonders intensiv mit der menschlichen Seele auseinandergesetzt. Einige ihrer Entdeckungen fließen hier mit ein. Im Anschluss daran werfen wir einen tieferen Blick in eine der wichtigsten Regungen der Seele: die Angst. Wir schauen, wie Gott mit unserer Seele umgeht und wie er sie versorgt. Abschließend fragen wir uns, was dies für Menschen bedeutet, die für andere Verantwortung tragen. Gute Führungspersonen verstehen es, den Menschen als Seelenwesen zu achten. Das hat einige handfeste und praktische Konsequenzen.

1 DER MENSCH IST EINE

SEELE

Ich bin irritiert. Vor zwei Wochen habe ich zusammen mit Laura einen Workshop für Leiterinnen und Leiter vorbereitet. Zu meiner Freude ist Laura bereit, einige der geplanten Inhalte zu vermitteln. Sie ist knapp dreißig und eine fähige Nachwuchsleiterin. Sie geht überzeugend voran. Gleichzeitig gelingt es ihr, Leute zu begeistern und mitzunehmen. Sie gestaltet. Sie hat diese besondere Mischung aus Initiative und Geduld. Sie reflektiert ihr Handeln und sich selbst. Sie ist selbstkritisch, ohne zögerlich zu sein. Ich kenne nicht viele in ihrem Alter, die die Sache mit dem Leiten so gut hinbekommen.

Vor einer Stunde nun ruft sie mich an und macht einen Rückzieher. Sie spricht von zu vielen Aufgaben, die sich gerade bei ihr türmen. Von familiären Umständen, die sie fordern. Ich frage nach. Schließlich kommt der eigentliche Grund zum Vorschein: »Um ehrlich zu sein: Ich habe Angst!« Es ist die Angst zu versagen. Sich als junge Leiterin vor erfahrenen Führungspersonen zu blamieren. Beschämt zu werden.

Ich kann es gut verstehen – und bin dennoch irritiert. Vor zwei Wochen klang es noch ganz anders. Dort hatte ich eine Laura vor

mir, die voller Mut und Zuversicht war. Von beidem ist nicht viel übrig. Ihr Mut hat sie verlassen wie bei einem Ballon, dem die Luft entwichen ist. Wie soll ich das einordnen?

Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was sich im Inneren von Laura abspielt. Eine solche Reflexion gelingt mir mittlerweile besser und rascher als früher. Damals habe ich mich deutlich mehr daran gerieben, wenn Menschen in meinem Umfeld einen solchen Kurswechsel vollzogen haben. Gestern noch voller Tatendrang – heute verunsichert und gelähmt. Erst noch von Glauben beflügelt – jetzt von Zweifeln geplagt. Gestern noch fröhlich – heute erfüllt von dunklen Szenarien.

Weshalb können Menschen so ambivalent und unstet sein? Seltsamerweise fällt mir das bei anderen viel schneller auf als bei mir selbst. Oder muss ich sagen: typischerweise? Ich bin ja selbst nicht davor gefeit. Es kann sein, dass ich gestern noch beschwingt durchs Leben schritt. Schon heute aber mag ich grübelnd und grummelnd an mein Tagwerk gehen. Zugegeben, ich bin ein Morgenmuffel. Ich brauche Zeit (und einen Kaffee), um in die Gänge zu kommen. Doch daran liegt es meistens nicht. Die Sache sitzt tiefer.

Von unkomplizierten Kühen und Hunden

Weshalb sind wir Menschen so? Weshalb sind wir unberechenbar und unstet in manchem, was wir tun? Weshalb fühlen wir uns heute so – und morgen anders? Weshalb lässt sich nicht voraussehen, in welcher Verfassung wir uns in einer Woche befinden? Ob dann in uns die Sonne scheint oder sich Gewitterwolken auftürmen? Ob Fröhlichkeit durch unsere Poren dringt oder ein Berg von Sorgen und Versagensängsten uns die Sicht versperrt?

Tiere sind anders. Im Vergleich zu uns Menschen sind sie konstanter und vorhersehbarer. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Bei keiner von unseren Kühen, bei keiner Ziege, keinem Hund und keiner Katze habe ich solche Schwankungen wahrgenommen, wie sie für uns Menschen typisch sind. Unser Hund Leo wedelte immer fröhlich mit dem Schwanz, wenn ich nach Hause kam. Seine Freude, mich zu sehen, war stets dieselbe. Das war bei den Mitgliedern meiner Familie nicht immer so. Manchmal erklärte es sich aufgrund dessen, was ich als über mütiger Junge wieder einmal angestellt hatte. Manchmal aber nicht. Wir Menschen sind anderen Stimmungen unterworfen als Tiere. Dabei haben auch sie Gefühle. Wer mit ihnen aufgewachsen ist, nimmt sie wahr. Aber insgesamt stehen wir emotional auf wackeligeren Beinen als sie.

Heute weiß ich: Es hat mit der menschlichen Seele zu tun. Wir Menschen sind Seelenwesen. Das gilt zu einem gewissen Grad auch für Tiere. Aber es gibt einen Unterschied. Das zu verstehen und angemessen damit umzugehen, ist wichtig, wenn wir einander verstehen wollen. Es ist wichtig für Eltern im Blick auf ihren Umgang mit ihren Kindern. Es ist wichtig für Paare, die gemeinsam durchs Leben gehen. Es ist wichtig für Freundschaften. Für Lehrpersonen und ihr Verhältnis zu Schülern. Für unsere Beziehung zu Nachbarn. Und es ist wichtig für Leiterinnen und Leiter, die andere Menschen führen. Zu verstehen, dass ich es im Umgang mit den mir anvertrauten Menschen mit Seelenwesen zu tun habe, ist ein Schlüssel. Wem dieses Verständnis fehlt, der wird viele falsche Schlussfolgerungen ziehen, wenn es darum geht, das Gegenüber einzuschätzen. Er wird auf manches Verhalten falsch

Zu verstehen, dass ich es im Umgang mit den mir anvertrauten Menschen mit Seelenwesen zu tun habe, ist ein Schlüssel.

reagieren. Er wird es nicht einordnen können und in der Folge manches tun oder sagen, was wiederum sein Gegenüber irritiert. Es kann ein Teufelskreis von gegenseitigen Missverständnissen mit einigem Schadenspotenzial in Gang kommen.

Im Vorwort heißt es: »Die Seele des Leitens besteht im Leiten von Seelen.« Das erklärt alles. Oder zumindest vieles. Es erklärt, weshalb das Unterwegssein mit anderen Menschen manchmal anspruchsvoll ist. Aber auch, was es so bereichernd und wertvoll macht.

Dass Menschen Seelenwesen sind, hat nichts mit Esoterik zu tun. Es erschließt sich aus der sorgfältigen Lektüre der Bibel. Es erklärt sich aus Gott selbst. Daraus, wie er uns Menschen geschaffen hat. Doch was heißt das? Was hilft mir, Lauras Wechsel der Befindlichkeit im Blick auf den geplanten Workshop besser zu verstehen und angemessener darauf zu reagieren?

Staub und Gotteshauch

Beginnen wir mit der Bibel, mit 1. Mose 2, Vers 7 (ELB):

Da bildete Gott, der Herr, den Menschen aus Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens; so wurde der Mensch eine lebendige Seele.

Dieser Satz rundet die biblische Schöpfungsgeschichte ab. Sie begann in 1. Mose 1. Mit dem Bericht von der Erschaffung von Himmel und Erde, von Sonne, Mond und Sternen, von Pflanzen und Tieren. Sie fand ihren Höhepunkt in der Erschaffung des Menschen. Vom diesem wird gesagt, dass er ein Abdruck, ein Ebenbild, Gottes sei (1. Mose 1,27). Im oben zitierten Vers sehen wir ein weiteres Merkmal des Menschen: Er ist ein Seelenwesen. Was für

ein faszinierendes Statement! Eines mit immenser Tragweite. Hier erschließt sich, wer wir in der Tiefe unseres Wesens sind.

Schauen wir genauer hin: Gott nimmt Staub vom Erdboden, um den ersten Menschen zu formen. Staub steht für die niedrigste Komponente auf dieser Erde. Alles von Gott Erschaffene, selbst das unscheinbarste Wesen, hat irgendeine wichtige Form oder Funktion: Der kürzeste Wurm, das kleinste Blatt, Wind, Regen, Licht und Schatten – alles dient dem Leben und seinem Fortbestand. Aber Staub? Er besteht aus den kleinsten Molekülen von normalerweise fruchtbarer Erde. Doch sie haben sich von ihr gelöst und so ihre Funktion verloren. Staub ist ein zerfallener, vertrockneter Erdbestandteil. Ziemlich unbrauchbar. Ausgerechnet aus diesem niedrigsten Bestandteil der geschaffenen Welt formt Gott den Menschen. Das erinnert uns an unsre Niedrigkeit und macht uns demütig. Gott erschuf uns nicht aus dem Holz einer prächtigen Eiche, aus starkem, gut verdichtetem und langlebigem Material. Er legte auch keine Goldader frei, um uns daraus zu formen. Er pulte keine strahlende Perle aus einer Muschel. Er nahm Staub. Sind wir ihm nicht mehr wert?

Der zweite Teil des zitierten Verses gibt uns die Antwort: »Und (Gott) blies Lebensatem (hebräisch: nischmat chajim) in seine Nase.« Nischmat chajim kann mit »Hauch des Lebens« übersetzt werden. Es ist ein zum Leben erweckender Atemstoß Gottes. Er löst etwas Unglaubliches aus: Unfruchtbarer Staub, niedrigste Erdsubstanz, kommt in Berührung mit einer Kraft, die alles übersteigt, was innerhalb der Schöpfung zu finden ist: mit Leben, das von Gott selbst kommt. Aus dem Niedrigsten innerhalb der Schöpfung und dem Höchsten über der Schöpfung entsteht der Mensch. Und er wird zu einem »lebendigen Wesen« (hebräisch: nefesch chaja).

Nach 1. Mose 1,20 haben auch Tiere eine Seele, eine nefesch chaja. Was den Menschen von ihnen unterscheidet, ist die Durch-

dringung seines Lebens mit dem Atemhauch Gottes.2 Nur die menschliche Seele ist eine von Gott durchhauchte Seele. Nur er ist Ebenbild Gottes. Das ist sein entscheidendes Merkmal.

Ein jüdischer Blick auf die Seele

Die von Gottes Atemhauch erfüllte Seele macht den Menschen aus. Doch er ist noch mehr. Die Bibel verwendet eine ganze Reihe anderer Bezeichnungen, wenn sie die Merkmale und Eigenschaften des Menschen beschreibt. So wird nur vom ihm gesagt, dass er ein Herz (leb) hat. Er ist auch Fleisch (basar). Das bezieht sich auf seine Vergänglichkeit. Er trägt ruach in sich – eine andere Bezeichnung für Gottes Lebensatem und für seinen Geist. Diese und andere Aspekte des Menschen weisen auf Wichtiges hin. Hier aber geht es mir um seine Seele.

Die Seele ist nicht etwas, das wir haben. Seele ist, wer wir sind. Sie ist das, was uns lebendig macht. Sie ist unser vitales Leben. Aus diesem Grund ordnen die Juden die Seele dem Blut zu, das den ganzen Menschen und all seine Organe bis ins kleinste Gewebe durchdringt: »Denn die Seele des Fleisches ist im Blut …« (3. Mose 17,11; ELB).

Doch die Seele ist mehr: Seele, das sind auch unsere Empfindungen, unsere Affekte und Gefühle. Die guten wie die schlechten.

Seele heißt nicht, dass alles in uns gut und schön ist. Sie steht auch für selbstbezogene Kräfte und Ziele in uns. Für das, was uns zeitweise an uns selbst oder an anderen zu schaffen macht.

Wie kann es sein, dass sich in unserer Seele beides findet: lebensfördernde, gute Empfindungen und Kräfte, aber auch selbstbezogene und zerstörerische Impulse wie Egoismus oder Hass? Mit dieser Frage hat sich der Chassidismus3, eine wichtige Strömung innerhalb des Judentums, beschäftigt. Dort wird die Seele mit einem Zwil-

lingspaar verglichen. Sie besteht aus einem sogenannten »animalischen Selbst« und einem »göttlichen (das meint: einem von Gott geprägten) Selbst«. Das animalische Selbst steht nicht nur für die grundlegende Lebendigkeit, die wir mit allen anderen Lebewesen teilen. Bei uns Menschen trägt es in seinem Rucksack auch all das mit sich, was sich negativ auf unser Leben und unsere Beziehungen auswirkt: Selbstbezogenheit, Neid, Gewaltbereitschaft, Oberflächlichkeit, Bosheit, zerstörerische Gedanken, Gefühle und Handlungen. Das von Gott geprägte Selbst hingegen trägt in seinem Rucksack all das mit sich, was Gott an guten Kräften und Möglichkeiten in uns hineinlegt: die Liebe zu Gott. Den Wunsch, ihn zu ehren und für ihn zu leben. Die Hingabe an ihn und an unsere Mitmenschen. Das Streben nach dem Guten. Die Achtung vor dem Leben. Sympathie, Mitmenschlichkeit, Erbarmen, Vergebungsbereitschaft usw.

Was chassidische Juden als »animalisches Selbst« bezeichnen, nennt der Apostel Paulus in einem Brief an die Galater »Werke des Fleisches«:

Es ist ja offensichtlich, was die Werke des Fleisches sind: Unzucht, Unreinheit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Streit, Eifersucht, Zorn, Eigennutz, Zwietracht, Parteiungen, Missgunst, Trunkenheit, Übermut und dergleichen mehr.

Galater 5,19-21a

Das von Gott geprägte Selbst ist bei ihm die »Frucht des Geistes«:

Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Güte, Rechtschaffenheit, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung.

Galater 5,22-23a

Für Paulus ist es Jesus Christus, der es uns ermöglicht, im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Zugkräften des Lebens den richtigen Weg zu wählen, sodass sich gute Eigenschaften in uns entwickeln. Wir werden in einem späteren Kapitel darauf zurückkommen. An dieser Stelle verweilen wir noch einen Moment bei dem, wie das chassidische Judentum die Aussagen der Bibel zur Seele versteht. Es macht uns auf das Ambivalente, Unstete aufmerksam, das uns als Menschen in vielen Alltagssituationen prägt.

Sieben Früchte der Seele

Einer der bekanntesten Lehrer des chassidischen Judentums war Rabbi Menachem Mendel Schneerson, auch »Lubavitcher Rebbe« genannt.4 Schneerson hat das Verständnis von der animalischen und zugleich von Gott geprägten Seele auf hilfreiche Weise erweitert. Er spricht von sieben Früchten, die aus ihr hervorgehen. Als Grundlage dafür dient ihm ein Bibelwort in Deuteronomium 8,8. Hier ist von sieben Früchten die Rede, die im verheißenen Land Kanaan auf das Volk Israel warten, das aus der Sklaverei in Ägypten befreit wurde. Der Rebbe sieht darin eine Entsprechung zu sieben guten Früchten der menschlichen Seele. Sie stehen für sieben Kräfte, die in ihr wirken. Sie manifestieren sich in bestimmten Verhaltensweisen, die sich in unserem Alltag zeigen. Zugleich aber tragen sie in sich die Möglichkeit, sich in schlechte Früchte zu verkehren. Dann führen sie zu problematischen Verhaltensweisen. Die damit verbundenen Ausführungen des Rebbe sind deshalb hilfreich, weil sie uns zeigen, wie nah beieinander Gutes und Gefährdung in der menschlichen Seele liegen. Schauen wir uns die sieben Früchte an.

1. Das Streben nach dem Höheren

Der Mensch ist ein Wesen, das sich nicht vorschnell mit etwas Gegebenem zufriedengibt. Das zeigt sich in allen Bereichen: Medizin, Technik, Wirtschaft, Verkehr, Industrie – ständig erfinden wir Neues und entwickeln Verfahren weiter. Wir fragen aber auch nach dem Sinn des Lebens. Danach, woher wir kommen und wohin wir gehen. Der Mensch sucht nach Transzendenz. Er fragt nach Gott. Das tut kein Tier. Dahinter steht eine ausschließlich gute Seelenkraft, denn Gott selbst hat dieses Streben nach Ewigem in uns hineingelegt. Der Apostel Paulus beschrieb das Streben nach Höherem in einer Predigt vor antiken Philosophen. Dort sagt er, Gott habe die Menschen so geschaffen, »dass sie Gott suchen, indem sie sich fragen, ob er denn nicht zu spüren und zu finden sei; denn er ist ja jedem einzelnen unter uns nicht fern« (Apostelgeschichte 17,27).

2. Die Selbstüberhöhung

Die zweite Frucht steht im Kontrast zur ersten und bildet ihre Kehrseite. Gemäß den Ausführungen von Rabbi Schneerson hat sie ihre Wurzeln in der animalischen Seele. Ihr Ausgangspunkt ist der Selbsterhaltungstrieb. Wir haben ihn mit vielen Kräften der Natur gemeinsam, zum Beispiel mit Tieren. Ist unser Leben bedroht, versuchen wir es zu schützen und zu erhalten. Das ist gut.

Der menschliche Selbsthaltungstrieb hat aber eine Schattenseite. Legitime Selbsterhaltung kann in Selbstüberhöhung umschlagen. Dann geht es um ein Streben nach Höherem, das sich nicht mehr auf Gott oder den Sinn des Lebens bezieht, sondern auf den Menschen selbst. Es mündet im Kreisen um die eigene Größe. Es ist ein Kreisen um die eigene Größe. Dabei geht es uns nur noch um uns selbst. Ob es anderen gut geht, ist uns egal. In Legitime Selbsterhaltung kann in Selbstüberhöhung umschlagen.

der Selbstüberhöhung handeln wir rücksichtslos und gleichgültig.

Auch Gott gegenüber pochen wir dann auf mehr, als uns zusteht. Aus dem Streben nach Höherem wird Auflehnung gegen Gott. Ein klassisches Beispiel dafür ist der Turmbau zu Babel in 1. Mose 6. Der Mensch überschreitet seine Grenzen. Er handelt von blindem Größenwahn getrieben und denkt nur noch an sich selbst. Selbstüberhöhung führt uns in den Abgrund.

3. Die Freude

Die dritte Frucht der Seele besteht in unserer Fähigkeit, Lebensfreude und Glück zu empfinden. Der Mensch kann ein gutes Essen, ein Glas Wein genießen. Das Geschenk der Sexualität. Wir können lachen und andere zum Lachen bringen. Wir erkennen und genießen Schönheit, Kunst, Musik, die Farben und Formen der Natur. Wir sind begeisterungsfähig und können andere mit unserer Begeisterung anstecken.

Falsch verstandene Freude aber wird zur bitteren Frucht. Dort nämlich, wo aus Genuss ein verzehrendes Verlangen nach immer neuen Reizen wird. Wo er zur reinen Triebbefriedigung verkommt, zu haltlos gewordener Lust, Sucht und Dekadenz.

4. Der leidenschaftliche Einsatz

Der Rebbe nennt diese Frucht »Beteiligung«. Sie meint mehr, als dass sich der Mensch für Gutes einzusetzen vermag. Wir sind zu leidenschaftlichem Engagement fähig. Es gibt Anliegen, für die wir uns mit ganzem Herzen starkmachen. Wir identifizieren uns voll und ganz mit dem, was wir tun. Wir geben unser Bestes. Wir sind ganz bei der Sache und werfen dabei unsere volle Kraft in die Waagschale. Verliert unsere Seele dabei aber das gute Maß, dann verbeißen wir uns in unsere Aufgabe und werden zum Workaholic. Dann identifizieren wir uns so sehr mit unserem Tun, dass uns die kri-

Die Kräfte unserer Seele können sich in zwei Richtungen bewegen. Sie führen zum Guten oder davon weg.

tische Distanz verloren geht. Dann hängt unser ganzes Schicksal, ja, unsere ganze Identität in diesem einen Projekt. Es nimmt uns vollständig in Beschlag und frisst uns auf. Wir verlieren uns selbst. In der Folge vernachlässigen wir unsere Gesundheit, Beziehungen, unsere Familie. Ein Burn-out wird immer wahrscheinlicher.

Ich kenne Leiter (oft sind es Gründer beeindruckender Initiativen), bei denen sich bei der Weitergabe ihrer Aufgabe an die nächste Generation auf einmal problematische Verhaltensweisen zeigten. Mit einigem Getöse, fragwürdigen Scharmützeln, einem letzten Klammern an die Rolle und dem damit verbundenen Einfluss verlassen sie das Spielfeld. In vielen Fällen unfreiwillig. Hier ist aus leidenschaftlichem Einsatz eine bittere Frucht geworden.

5. Die Heldentat

Diese Frucht beschreibt ein Handeln, das sich vom leidenschaftlichen Einsatz dadurch unterscheidet, dass es aus purer Notwendigkeit geschieht. Hier frage ich nicht danach, ob ich einer Aufgabe gewachsen bin. Es geht hier nicht darum, ob ich die Fähigkeiten dazu habe und ob sie sich stimmig anfühlt. Bei dieser Sache ist nicht Leidenschaft gefragt, sondern die Bereitschaft, einfach nur das zu tun, was jetzt getan werden muss. So handelt mancher Bürger, der, ohne lange zu überlegen, in einen kalten Fluss springt, um einen Ertrinkenden zu retten.

Die Schattenseite dieser Frucht zeigt sich dort, wo ich mich überschätze. Wo ich Gefahren und eigene Fähigkeiten falsch einschätze. Damit bringe ich mich selbst und andere in Gefahr. Meine scheinbar geniale Absicht führt nicht zu einer Heldentat, sondern in die Katastrophe. Vor einigen Jahren las ich die Geschichte eines Mannes, der in einem Sturm zwei Menschen aus den Fluten im Mittelmeer retten wollte. Eine Person konnte er retten. Die andere und er selbst ertranken.

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