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JOHANNES BRAUN ANKOMMEN,

OBWOHL DU UNTERWEGS BIST

Berufen sein und tiefer wachsen

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

© 2022 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

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Internet: www.scm-brockhaus.de · E-Mail: info@scm-brockhaus.de

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Bibeltext der Schlachter Bibelübersetzung, Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung.

Alle Rechte vorbehalten.

Weiter wurden verwendet:

Zürcher Bibel © 2007 Verlag der Zürcher Bibel beim Theologischen Verlag Zürich. (ZÜR)

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen. (NLB)

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen. (ELB)

Genfer Studienbibel (GFS)

Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de Umschlaggestaltung und Titelbild: Stephan Schulze, Holzgerlingen

Autorenfoto: © Johannes Braun

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Druck und Bindung: Finidr s. r. o.

Gedruckt in Tschechien

ISBN 978-3-417-00016-0

Bestell-Nr. 227.000.016

Vorwort von Rainer Harter

KAPITEL 1 | Der Zwang, sich verwirklichen zu müssen

KAPITEL 2 | Der Beginn einer Reise 31

KAPITEL 3 | Suchst du noch oder wohnst du schon? 47

KAPITEL 4 | Mach es wie Jesus, werde ganz Mensch

KAPITEL 5 | Lehn dich zurück und genieß die Reise

KAPITEL 6 | Ankommen auf deinem Berufungsweg

KAPITEL 7 | Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

KAPITEL 8 | Umarme deine Schattenseite 159

KAPITEL 9 | Ein Geschenk für die Menschheit sein

EPILOG | Gott nahe zu sein ist mein Glück

Der Zwang, sich verwirklichen zu müssen

»Wie werde ich bloß diesen Berufungsstress los?« Sicherlich eine ungewöhnliche Frage. Und es wäre erheblich leichter gewesen, wenn ich sie früher schon so prägnant hätte formulieren können. Auch ohne es präzisieren zu können, hat mich dieser Gedanke zunehmend beschäftigt, als ich Anfang dreißig war.

Unsere Familie wuchs und nach den ereignisreichen Jahren als junger Erwachsener im vollzeitlichen Dienst machte sich der Eindruck breit, dass das Leben irgendwie komplizierter geworden war und meine Berufung ins Stocken geriet. Viele meiner Träume und kühnen Vorstellungen darüber, wie Gott mich in dieser Welt gebrauchen würde, hatten sich erst einmal nicht erfüllt. Zumindest nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Arbeitslast und Verantwortung häuften sich und formten feste Routinen – alles wirkte plötzlich einförmig und unbedeutend. So wollte ich doch gar nicht leben! Ich war angetreten, die Welt zu verändern – hatte ich denn meine Berufung verfehlt? Besonders in ruhigen Augenblicken hol-

ten mich diese Befürchtungen ein und ich entdeckte zunehmend eine griesgrämige Seite an mir, die ich bis dahin noch nicht gekannt hatte. Ich würde nicht sagen, dass ich enttäuscht war – vielmehr war ich durch und durch ernüchtert.

Als junger Mensch hätte ich nie geglaubt, dass ich jemals in eine solche Lebensphase eintreten würde. Ich hatte schon damals mit großem Interesse den berühmten Religionsphilosophen Romano Guardini gelesen, der die Lebensalter eines Menschen und die dazugehörigen Krisen auffächert, als würden wir alle einem unsichtbaren Fahrplan folgen.1 Als würden wir Menschen nach einem inneren Uhrwerk ticken und jede Phase würde unweigerlich ihre Thematik hervorbringen, ohne dass wir uns dagegen wehren könnten.

Guardini erwähnt auch den nüchternen Menschen. Ernüchtert ist er deshalb, weil er erlebt, dass er mit seinen eigenen Grenzen konfrontiert wird. In den Zwanzigern strotzt man nur so vor Elan, möchte Dinge bewegen und hat ideale Vorstellungen. Später erfährt man, dass es auch ein Zuviel gibt und dass sich viele Zukunftsbilder als Luftschlösser entpuppen – zumindest vorerst.

Als junger Christ, der stets für seinen leidenschaftlichen Glaubensstil bekannt war, wollte ich nicht wahrhaben, dass mich so etwas jemals ereilen könnte. »Bei mir wird das anders sein«, dachte ich, »dafür brenne ich zu sehr für Gott, predige eifrig das Evangelium und habe zudem ein tiefes Gebetsleben.« Gerade dann, wenn man auf den Bühnen der Gemeindewelt aktiv ist, Seminare hält und dafür bewundert und beklatscht wird – ja, gerade dann ist man anfällig für die Illusion, dass man irgendwie besonders ist und Ernüchterung niemals eintreten wird. Doch genau das war der Fall. Mitte dreißig war ich einfach nur noch müde – erschöpft von dem jahrelangen Dienst, der Mitverantwortung im Aufbau einer Organisation und den zwischenmenschlichen Irritationen, die sich dabei unweigerlich ergaben. Völlig unvorbereitet war ich reinge-

schlittert in die Lebensphase der Rushhour. Nichts geht mehr richtig voran, totaler Stress, stockender Verkehr, nervenaufreibende Stimmung.

Rushhour, so nennen Soziologen inzwischen jene ernüchternde Lebensphase, in der man als Mensch das junge Erwachsenendasein hinter sich lässt. Viele Optionen und Freiräume sind erst mal dahin, man hat sich festgelegt, hat im Beruf Verantwortung übernommen, vielleicht Familie gegründet und sich niedergelassen. Dazu kommt das Haustier, das sich die Kinder schon so lange gewünscht haben, und die Zeit, die man plötzlich nicht mehr hat.

Für mich hat sich das so angefühlt, als müsste ich permanent mit vier Bällen jonglieren. Drei davon konnte ich früher ohne Weiteres durch die Luft wirbeln – sogar Kunststücke waren da möglich. Aber nun entglitt mir immer wieder ein Lebensbereich, der buchstäblich zu Boden fiel, einfach weil ich nicht mehr alles im Blick hatte – oder weil ich es noch nicht konnte. Einfach deshalb, weil ich als Mensch Grenzen habe.

Wenn dies passiert, dann vernachlässigen wir plötzlich unsere Beziehung zu Gott, die Weiterentwicklung der Talente, die körperliche Fitness, die Ehebeziehung oder die Kinder. Auch wenn es nicht so ist, anfühlen tut es sich so – die Berufung befindet sich im Stillstand oder gar im Rückwärtsgang. Es äußert sich ein ganz anderer Stress, ja fast ein Zwang. Wir versuchen, unser Lebensprojekt vor dem Scheitern zu bewahren, suchen an vielen Stellen nach Hilfe, nach Bestätigung.

Irgendwie ist es ein Haschen nach Wind, wenn wir danach lechzen, endlich groß rauszukommen und dafür anerkannt zu werden, was wir der Welt zu bieten haben. Und dann werden unsere Hoffnungen doch wieder enttäuscht. Dabei lässt uns die ständige Frage nicht los: Wann kommt der große Durchbruch? Wann komme ich in meine Berufung? Vielleicht ist es gar nicht unbedingt der Erfolg,

den wir suchen, möglicherweise ist es auch der Sinn. Wozu bin ich da? Was kann ich tun, um meinem Leben Bedeutung zu verleihen? All jene Fragen haben mich damals wirklich sehr beschäftigt und haben mir oft keine Ruhe gelassen.

In alle den Jahren, die ich schon als Referent herumreise, habe ich immer mehr Christen getroffen, die in demselben Gedankengang feststecken. Der Berufungsstress steht ihnen förmlich ins Gesicht geschrieben. Mir kommt da eine junge Mutter in den Sinn, die mir wehmütig von ihren Zeiten als gefragte Lobpreisleiterin erzählte. Damals habe sie noch völlig in ihrer Berufung gelebt, als das erste Kind kam, ging es noch, aber spätestens beim zweiten war Schluss. Jetzt sei sie nur noch Mutter und frage sich, was Gott eigentlich mit ihr vorhat.

Die Aussage dieser Frau bringt vielleicht manche zum Schmunzeln, weil wir ja wissen, dass im Elternsein eine große Bestimmung steckt. Aber wenn wir ehrlich sind, sitzen wir alle im selben Boot. Denn als Kinder unserer Zeit tragen wir die große Sorge mit uns herum, dass das mit der Verwirklichung unserer Träume vielleicht nichts mehr wird, und wir fragen uns, ob wir es wirklich schaffen, unser volles Potenzial auszuschöpfen.

Ich sehe diese Sorge nicht nur bei jungen Christen – ohnehin nicht nur in der frommen Welt. Als Trainer und systemischer Berater besuche ich Unternehmen und Organisationen, coache Führungskräfte und komme dadurch mit vielen Menschen in Berührung. Berufsbedingt sprechen sie dabei offen mit mir über ihre Ängste. Und eine Sache fällt mir besonders auf: Enorm viele Menschen haben die Befürchtung, die eigene Berufung zu verpassen. Egal wo man hinschaut, diese Angst taucht immer wieder aus dem kollektiven Unterbewusstsein unserer Generation auf.

Die Sehnsucht danach, dem eigenen Leben Bedeutsamkeit zu verleihen, löst den Druck aus, sich verwirklichen zu müssen. In

Zeiten von Hyper-Individualisierung hat dieses Bestreben für den Einzelnen ein sehr starkes Gewicht. Wir scheinen uns auf einer ewigen Suche nach der Erfüllung unserer Träume zu befinden. Zudem macht uns der Wunsch rastlos, den Ansprüchen unserer Gesellschaft gerecht zu werden – wir stecken in einem Hamsterrad, auch wenn viele das nicht merken.

Mich erinnert das an das Gleichnis, das Jesus vom vierfachen Ackerboden erzählt. Dabei empfinde ich, dass wir als Kinder unserer Zeit besonders von der Beschreibung des dritten Bodens angesprochen werden: Unter die Dornen gesät aber ist es bei dem, der das Wort hört, aber die Sorge dieser Weltzeit und der Betrug des Reichtums ersticken das Wort, und es wird unfruchtbar (Matthäus 13,22).

Dornen machen ein Feld zum Gestrüpp, machen es undurchdringlich, hart und schwer zugänglich. Letztlich ersticken sie die gewünschte Frucht. Jesus bezieht das Gestrüpp auf die Sorgen, die ein Zeitgeist mit sich bringen kann.

Das vorherrschende Denken einer Zeit, einer Zivilisation, war schon immer eine unterschätzte Macht. Der Zeitgeist an sich ist erst einmal neutral, er kann Positives wie Negatives bedeuten. Das erkennt man, wenn man die Geschichte betrachtet. Vor etwa einhundert Jahren bildete sich als Folge der Industrialisierung eine bürgerliche Mitte, die in den verschiedenen Ländern Europas nach nationaler Identität strebte, daran ist zunächst nichts Schlimmes. Doch es entstanden nicht nur Nationalstaaten, der Zeitgeist war insgesamt stark vom nationalen Bewusstsein und Nationalstolz geprägt. Junge Menschen marschierten in Scharen in die großen Kriege, um ihre nationale Identität zu verteidigen.

Es hat zu jeder Zeit einen Zeitgeist mit vielen Facetten gegeben –vorherrschende Denkmuster, die eine Generation prägen und unser Handeln stärker beeinflussen, als wir zugeben wollen. Man könnte

sich fragen, warum so wenige Menschen zur Jahrhundertwende in der Lage waren, diesen überzogenen Nationalismus zu hinterfragen – selbst unter Christen gab es da nur wenige Ausnahmen.

Aber das scheint eben genau die große Kunst zu sein, und deshalb können wir die Worte Jesu auch für uns heute als wichtigen Hinweis verstehen. Können wir die Geister unterscheiden? Sind wir bereit, zu reflektieren, was im Denken unserer Tage das Distelgewächs darstellt? Konkret:

Was sind die großen Sorgen unserer Zeit? Welche Auswirkungen haben diese auf unser Verständnis von der Berufung Gottes in unserem Leben?

Im Hamsterrad der Selbstoptimierung

Wer das Denken seiner Zeit reflektieren kann, ist klar im Vorteil. Aber das ist gar nicht so einfach, denn es fällt immer leichter, einen Zeitgeist im Nachhinein zu beurteilen. Denkmuster bilden sich langfristig aus und man merkt die progressiven Veränderungen kaum. Sicherlich kennst du die Geschichte von dem Frosch, der in einen Topf mit kochendem Wasser geworfen wird. Der Frosch springt sofort aus dem Wasser, weil er spürt, dass es zu heiß ist.

Wenn man den Frosch aber in den Topf setzt und das Wasser langsam erhitzt, bis es schließlich kocht, dann stirbt er – so erzählt die Geschichte, die durch den Speaker Charles Handy bekannt wurde. Wahr ist dies nicht, dafür sind die Sinne von Fröschen zu gut ausgebildet. Aber die Moral von der Geschichte ist: Eine langsame Veränderung nimmt man nicht so gut wahr wie eine plötzliche.

Jesus nutzt ein weniger drastisches Bild, um uns denselben Effekt zu verdeutlichen. Die Sorgen unseres Zeitgeistes ersticken

langsam und unbemerkt die Frucht und am Ende bringen wir nichts zur Reife.

Ich bin sehr froh darüber, dass es in unserer Gesellschaft kluge Menschen gibt, die mir durch ihre Arbeit helfen, verschiedene Denkmuster unserer Zeit zu reflektieren. Manches würde ich selbst nicht so leicht bemerken. Deshalb ist mir der deutsche Soziologe Hartmut Rosa mit seinen Publikationen sehr ans Herz gewachsen. Ich bin nicht der Einzige, dem das so geht. Hartmut Rosa hat es nicht nur auf die Bestsellerlisten geschafft, er ist auch ein begehrter Gast in Talkshows und Fernsehinterviews. In seinen Vorträgen analysiert er die Moderne mit ihren Licht- und Schattenseiten. Das Bild, das er zeichnet, ist das vom Hamsterrad. Das Rad muss sich immer schneller drehen, damit es sich stabilisiert – genauso kann man in unserer modernen westlichen Gesellschaft von einer Beschleunigungs-Logik sprechen.

Wie der Hamster sind wir gefangen in der Steigerungsdynamik von »höher, schneller, weiter«. Aus ökonomischer Sicht brauchen wir ständig Wachstum, weshalb das Rad immer schneller werden muss – technischer Fortschritt, größere Reichweite, steigende Zahlen. Die Summe des Kapitals, der Güter und der Informationen, die der Mensch bewegt, nimmt immer weiter zu. Das erzeugt Hektik, lässt Zeit knapper werden – ja, wir leben in exponentiellen Zeiten. Wer kommt da noch mit? Und – du meine Güte – was passiert, wenn die Wirtschaft in diesem Jahr nicht wächst?

Während ich dieses Buch schreibe, befinden wir uns mitten in der Corona-Krise. Das öffentliche Leben ist in vielen Teilen völlig zum Erliegen gekommen. Die erzwungene Pause ist eine große Chance, unseren hektischen Lebensstil zu hinterfragen. Wohin steuert unsere Gesellschaft eigentlich? Sollen wir nach der Pandemie genauso weitermachen wie bisher?

Schauen wir das Ganze aus der Vogelperspektive der letzten Jahrzehnte an, wird deutlich: Wir befinden uns in einem regelrechten Steigerungsspiel. Ohne den Kapitalismus als Gesamtes zu verdammen, hat das Auswirkungen auf den Einzelnen – auf uns! Als Individuum haben wir heutzutage zwar deutlich mehr Mittel zur Verfügung, aber die Anforderungen – beruflich wie privat –sind ebenfalls gestiegen, parallel zu unseren Ansprüchen an die Lebensqualität. Ist dir schon einmal aufgefallen, dass Burn-out zu einer kulturellen Grundangst geworden ist? Woran kann das liegen? Woher kommt dieser Druck?

Hartmut Rosa stellt die These auf, dass der Einzelne in einem Hamsterrad der Selbstoptimierung gefangen ist und letztlich Angst hat, abgehängt zu werden. Wir wollen uns ständig verbessern und an uns arbeiten, damit wir gesünder, kommunikativer, kompetenter und wirkungsvoller werden. Wir wollen unser Potenzial entfalten und alle Möglichkeiten ausschöpfen. Dabei helfen uns eine Vielzahl von Ratgebern, Tutorials und Selbsthilfebüchern und natürlich das Internet. Die Tatsache, dass wir uns in Zeiten von Google, YouTube und Co. schnell und umfangreich über alles informieren können, befeuert den Versuch, das Beste aus uns herauszuholen.

Aber was passiert mit uns, wenn sich in uns das Gefühl breitmacht, dass wir nicht mehr mitkommen, nicht mehr auf dem Laufenden sind? Es ist, als würden wir versuchen, eine Rolltreppe zu erklimmen, die uns entgegenkommt. Hast du das schon einmal probiert? Es ist anstrengend, und wehe, du bleibst stehen – dann fährst du automatisch nach unten! Dieser Stress hat sich in unser Lebensgefühl eingeschlichen. Wir gehen täglich mit einer nicht enden wollenden To-do-Liste ins Bett, die uns ins Bewusstsein ruft, dass wir heute schon wieder zu wenig für die Gesundheit getan und die Umwelt vernachlässigt haben und dass die Umsetzung der Erkenntnisse der letzten Coaching-Session noch aussteht. Und

die Fenster sind immer noch nicht geputzt! Es bleibt das ständige

Gefühl: Ich sollte noch – aber ich schaffe nicht alles.

Was steckt dahinter? Es ist ein Denkmuster, dem unsere Generation anhaftet. Wie Jesus es sagt: eine große Sorge, die uns bedrückt. Wir leiden unter dem kollektiven Zwang, uns verwirklichen zu müssen, uns zu optimieren und zu verbessern. Wir wollen nichts verpassen und vor allem nicht abgehängt werden. Dazu kommt, dass wir sehr hohe Ansprüche haben, auch daran, wie unser Leben zu laufen hat und was wir letztlich erreichen möchten.

Der Zeitgeist ruft uns zu: »Hey, du hast doch alle Möglichkeiten. Lebe deinen Traum!« Das hört sich zunächst gut an. Doch was ist, wenn dieser Traum zum Albtraum wird, weil sich abzeichnet, dass es anders kommt, als wir gedacht haben? Was ist, wenn wir in Krisen geraten und selbst unsere fromme Karriere einen Knick bekommt? Was passiert mit uns, wenn wir unseren Ansprüchen, den großen Visionen und Ambitionen, nicht gerecht werden? Dann kann die Suche nach unserer Bestimmung, ja das ganze Thema Berufung zum Stress mutieren – eine Last, die man auch einem gestandenen Christen deutlich ansieht. Anstatt die Reise zu genießen, nimmt man dann seinen Berufungsweg als rastlose Suche wahr.

Was hat der Zeitgeist da bloß mit unserem Verständnis von Berufung gemacht?

Berufung bedeutet eben nicht, dass man verbissen eine Karriereleiter erklimmt. Stelle dir vor, du kommst am Ende deines Lebens oben an und stellst bestürzt fest, dass die Leiter an der falschen Wand steht?2

Ich glaube fest daran, dass Gott Menschen immer wieder eine Vision schenkt, wie dem kinderlosen alten Abraham, der zum Sternenhimmel blicken sollte und dabei die Verheißung bekam, dass eines

Tages seine Nachkommen genauso zahlreich sein würden wie die Sterne. Gerade junge Menschen werden oft ermutigt, große Visionen zu haben. Überhaupt wird in der christlichen Welt sehr viel über Visionen gesprochen. Was ist deine Vision? Was ist die Vision unseres Teams? Was ist das Leitbild der Gemeinde? Auch wenn uns das helfen kann, Ziele zu erreichen, kann ich mich in letzter Zeit des Eindrucks nicht erwehren, dass auch hier dieses Steigerungsspiel Einzug gehalten hat. Das Hamsterrad lässt grüßen und die Visionen werden immer größer und spektakulärer. Sind sie aber wirklich alle von Gott?

In meinen Dreißigern musste ich mir eingestehen, dass meine Träume und Visionen oft aus dem überhöhten Begehren resultierten, endlich etwas Großes zu reißen.

Mir war klar, dass es bei Gott keine Begrenzungen gibt, und er hat mir Dinge ins Herz gelegt, die mich intrinsisch motivieren, auch wenn sie meinen Horizont völlig übersteigen. Doch als Kind meiner Zeit habe ich es irgendwie übertrieben. Ich hatte meine Identität und meinen Selbstwert zu sehr an der Erfüllung dieser Visionen festgemacht, so fromm sie auch waren. Das hat viel Schmerz und innere Unruhe verursacht.

Später in diesem Buch werde ich über diese Wegstrecke ausführlicher berichten, doch so viel möchte ich hier bereits erwähnen: Gott führte mich dahin, die großen Visionen einfach mal an den Nagel zu hängen und komplett an ihn loszulassen. Ich hätte das niemals für möglich gehalten: Es hat unglaublich gutgetan, von meinem eigenen Traum befreit zu werden. Erst in der Folgezeit konnte ich langsam wahrnehmen, dass sich die heilige Berufung Gottes für mein Leben in ungesunder Weise mit meinen eigenen Ansprüchen vermischt hatte.

Rückblickend bin ich sehr dankbar für all die Lebensschulen der letzten Jahre, die ich durchlaufen durfte. Der tiefe Sinn dahinter

wird immer deutlicher: Gott geht es um mein Herz. Er möchte es formen und von unnötigem Ballast befreien. Sein Ziel ist es, dass ich von meinen Ambitionen erlöst werde und Gottes Traum für mein Leben folge, ohne innerlich getrieben zu sein.

Die Angst, etwas zu verpassen

Der New Yorker Unternehmer und Buchautor Patrick J. McGinnis hat als Student 2004 einen interessanten Trend erkannt und daraufhin den Begriff »FOMO« (»Fear of missing out«) geprägt. Gemeint ist mit FOMO die Angst, etwas zu verpassen, nicht dabei zu sein, während andere scheinbar etwas Bedeutsames erleben. Seinen Podcast, der in den letzten Jahren im öffentlichen Interesse stand, nannte er treffend »FOMO Sapiens«. Darin stellte er die These auf, dass FOMO ein gesellschaftliches Phänomen unserer Generation ist, eine Angst, die uns offensichtlich nicht kaltlässt.3 FOMO tritt vor allem bei Menschen unter vierzig auf und hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Viele Jüngere kennen vermutlich folgende oder ähnliche Situationen: Stell dir vor, du machst es dir freitagabends nach einer anstrengenden Woche auf der Arbeit oder an der Uni auf dem Sofa gemütlich. Als dir schon langsam die Augen zufallen, macht es »bing«. Dein Smartphone empfängt die Nachricht eines guten Freundes – ein verwackelter Videoclip, der wenig erkennen lässt außer einer Gruppe lachender Personen, die fröhlich in die Kamera grölen. »Du musst unbedingt kommen. Die Party ist der Hammer!«, schreibt er. Offensichtlich haben hier Leute aus deinem Freundeskreis die »beste Zeit ihres Lebens« und du fragst dich erschrocken: »Warum bin ich nicht dabei?« In diesem Moment spürst du es, dieses ungute Gefühl in der Magengegend. Etwas, das deine Emotionen in wenigen Augen-

blicken komplett in den Keller fahren kann. FOMO – fear of missing out – hat von einem Moment auf den anderen deinen Feierabend versaut.4

Seit es Menschen gibt, ist die Angst, ausgeschlossen zu werden und etwas zu verpassen, eine vertraute zwischenmenschliche Dynamik. Aber was ist heute anders? Warum ist FOMO zu einem Modewort geworden, das in aller Munde ist?

Die Digitalisierung hat uns viele Fortschritte gebracht. Wir sind sozial vernetzt wie nie zuvor und können uns Informationen verschaffen, wie das noch in keinem Zeitalter vor uns der Fall war. Doch immer deutlicher zeichnet sich ab, dass diese 24/7-Konnektivität auch ihre Schattenseiten hat. Informationen prasseln in einer Menge auf uns ein, die wir nur bruchstückhaft verarbeiten können. Und diese Informationen machen etwas mit uns.

Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber wenn ich mich in den sozialen Netzwerken aufhalte, beschleicht mich manchmal ein mulmiges Gefühl. Laut einer Umfrage geben über 50 Prozent der Social-Media-Nutzer an, von FOMO betroffen zu sein, und Forscher haben herausgefunden, dass Social Media sogar depressiv machen können.

Ich habe mich gefragt, warum das so ist, und mich selbst dabei beobachtet, wenn ich die Vielzahl von Posts durchscrolle. In kürzester Zeit bekomme ich mit, wie jemand anderes gerade meinen Traum lebt – oder zumindest einen Teil davon. Da postet ein ehemaliger Mitschüler aus dem Abiturjahrgang traumhafte Naturaufnahmen von seiner Neuseelandreise. »Mist«, denke ich, »das wollte ich auch schon immer mal machen.« Der nächste Post zeigt das Gipfelfoto eines Facebook-Kontaktes, den ich nicht persönlich kenne, und ich frage mich: »Woher nimmt er bloß die Zeit für solche Abenteuer?« Dann kommen diverse Bilder und Berichte von einer Konferenz, bei der ich nicht war und die grandios gewesen sein

muss. Und so geht es Schlag auf Schlag. Der Knock-down kommt, wenn einer dieser athletischen Typen seinen durchtrainierten Körper in die Kamera hält und ich beschämt feststellen muss, dass ich keine 25 mehr bin und meinem Fitness-Abo schon wieder untreu wurde. Selbst wenn jemand auf Instagram sein mäßiges Gesangstalent unerschrocken auslebt und dafür noch Dutzende von Likes bekommt, kann mich das an einem schlechten Tag depressiv verstimmen. Warum? Weil ich mich in diesem Moment frage, ob ich etwas verpasst habe. Ob ich irgendwo falsch abgebogen bin. Und weil ich das Gefühl habe, zu versagen und bei dieser großen Vergleichs-Party den Kürzeren zu ziehen.

Ein großes Symptom von FOMO ist also der Selbstzweifel, der ununterbrochen an mir nagt. Dazu kommt der Stress, am Ball zu bleiben. Im Alltag kann das bedeuten, dass ich mich dabei beobachte, wie ich ständig aufs Smartphone schaue. Ich will eben nichts versäumen und dabei fällt mir gar nicht auf, dass ich vielleicht eine hohe Konnektivität zu vielen anderen Menschen in den sozialen Netzwerken habe, aber die Personen, die unmittelbar mit mir am Tisch oder im Wohnzimmer sitzen, nur noch mit geteilter Aufmerksamkeit wahrnehme. Irgendwie paradox. Der innere FOMOStress lässt mich den Moment, das Jetzt, nicht mehr genießen, die Beziehungen zu meinen Nächsten, das Wetter, die Natur. Irgendwie scheine ich mich zu verzetteln und unüberlegt irgendwelchen Hinweisen zu folgen. Dabei verliere ich meine eigenen Ziele aus den Augen.

Die Corona-Krise hat uns durch die plötzlichen Einschränkungen eindrücklich vor Augen gemalt, welche individuellen Freiheiten wir eigentlich besitzen, wenn wir uns nicht gerade in einer Pandemie befinden. Optionen zu haben, ist ein kostbares Gut –Nahrung, Kleidung, Berufe, Wohnorte, Hobbys, Reiseziele –, wenn ich als Mensch frei wählen kann und eine Vielzahl an Ressourcen

zur Verfügung habe, bin ich in einer äußerst privilegierten Lage.

Viele Menschen in anderen Teilen der Welt haben das nicht. Auch Generationen vor uns hatten nicht diese Multioptionalität, die nur durch Wohlstand möglich ist. Mark Sayers drückt es treffend aus: »Wir können kaufen, was wir wollen, reisen, wohin wir wollen, und sein, wer wir wollen – und das Ganze noch, wann wir wollen.«5

Diese individuelle Freiheit kann uns aber auch in permanenten Zugzwang bringen, ganz nach dem Motto: »Oh nein, ich nutze die Optionen nicht! Ich muss doch meine Potenziale entfalten! Hätte ich damals bloß …«

Je mehr Wahlmöglichkeiten ich habe, desto mehr Dinge gibt es, die ich nicht erleben kann.

Wir müssen uns entscheiden und das fällt uns zunehmend schwer. Denn je öfter wir die Wahl haben, umso häufiger müssen wir auch die Konsequenzen unserer Entscheidungen tragen. Deshalb klammern wir uns gerne an Trends, weil sie uns das Gefühl vermitteln, noch am Ball zu sein und genug Informationen zu haben. Und wir klammern uns an unsere Smartphones, damit uns möglichst wenig entgeht.

Wenn wir an dieser Stelle innehalten und ehrlich in uns hineinhören, kann uns diese FOMO jedoch auch weiterhelfen. Anstatt die Ängste ignorant beiseitezuschieben, können wir uns die Frage stellen: Was hat diese Furcht mir eigentlich zu sagen?

In Wirklichkeit geht es doch gar nicht um die offenkundigen Dinge, denen ich nachjage. Dahinter liegen weitaus wichtigere Fragen, echte Schwergewichte, die ich mir im gängigen Alltagstrott wenig stelle. Gerade dann, wenn mich dieses mulmige FOMOGefühl überkommt, kann ich die Situation nutzen, um wesentliche Fragen aufzuwerfen6:

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