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Kirche hier und jetzt

Wie wir Gottes Mission treu sind und unserem Kontext gerecht werden

Theorie und Praxis für Gemeinden und Gründer

KIRCHE HIER UND JETZT

Wie Christen Gottes Mission treu sind und ihrem Kontext gerecht werden

Theorie und Praxis für Gemeinden und Gründer

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

© 2023 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: info@scm-brockhaus.de

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen: BasisBibel, © 2021 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Weiter wurde verwendet:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen

Mit besonderem Dank an die Stiftung Wertestarter, die mit einem großzügigen

Druckkostenzuschuss die Entstehung dieses Buches ermöglicht hat.

Lektorat: Christiane Kathmann

Umschlaggestaltung: Stephan Schulze, Stuttgart

Titelbild: Collage: Joppe Spaa/unsplash und Nainizul/freepik

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Gedruckt in Deutschland

ISBN 978-3-417-00010-8

Bestell-Nr. 227.000.010

INHALT

Einleitung | Drei kleine, doch entscheidende Fragen 7

Teil I | Warum und wozu es Kirche gibt 13

1 Am Anfang – Gott macht sich klein und mischt sich ein 14

2 Auf Sendung – Kirche passiert, wenn Menschen Jesus begegnen und sich von ihm senden lassen 41

Teil II | Wie Kirche ihrer Mission treu ist und ihrem Kontext gerecht wird 85

3 Im Gespräch – Kirche, die zuhört und lernt 86

4 Im Kontext – Kirche, die sich verwickeln lässt 118

Teil III | Wo sich Kirche befindet – drei Kontexte 149

5 In der Stadt – Chancen und Herausforderungen für urbane Kirche 150

6 Auf dem Land – Chancen und Herausforderungen für ländliche Kirche 186

7 Kirche digital – Chancen und Herausforderungen für Kirche im digitalen Kontext 225

8 In aller Kürze – Weitere relevante Kontexte win unserer Zeit 258

EINLEITUNG

Drei kleine, doch entscheidende

Fragen

Als Martin Luther King am 28. August 1963 in Washington seine berühmteste Rede hielt, berührte er die Menschen nicht deshalb so sehr, weil er ihnen eine Strategie vorstellte oder weil er eine Problemanalyse skizzierte. Nein, er berührte die Menschen, weil er ihnen einen Traum vorstellte. Einen Traum, der eine wunderschöne und verheißungsvolle Version der Wirklichkeit zeichnete. Ein Traum, größer als die versammelten Menschen selbst. Ein Traum, der Menschen Hoffnung gab und sie motivierte. Martin Luther King hatte ein klares Warum. Dieses Warum war ansteckend und löste eine Bewegung aus.

Ein motivierendes Warum ist der Schlüssel zum Erfolg, auch in anderen Bereichen. Der Kulturanthropologe Simon Sinek hat eine spannende Beobachtung gemacht: Die erfolgreichsten Unternehmungen haben eine zentrale Frage geklärt und können diese sehr präzise beantworten: »Warum gibt es uns?« Oder auch: »Wozu gibt es uns?« Sinek leitet daraus die Forderung ab: »Start with Why!«1 Wer nicht benennen kann, warum es die eigene Organisation oder das eigene Unternehmen gibt, der wird sich schwer damit tun, zu beschreiben, wie die Organisation handelt und was sie herstellen oder erreichen möchte. Sinek verwendet dafür das Bild von drei konzentrischen Kreisen, die er »golden circle« (goldener Kreis) nennt. Im inneren Kreis steht Warum, im mittleren Kreis steht Wie und im äußeren Was. Das ist die ganze Logik: Wer das Warum benennen kann, der hat auch eine ziemlich klare Vorstellung

vom Wie und vom Was. Oder anders formuliert: Je eindeutiger das Warum, desto klarer ergeben sich Wie und Was.

Auf die Kirche übertragen bedeutet das die Klärung der folgenden Fragen:

• Warum und wozu gibt es die Kirche? Oder: Was ist unser Auftrag, unsere Sendung, unsere Mission?

• Was ist unser Kontext? Oder: Wo leben wir und wem wollen wir auf welche Art und Weise dienen?

• Was würde fehlen, wenn es keine Kirche gäbe? Oder: Würde jemand das Fehlen der Kirche merken?

Je besser wir diese Frage beantworten können, desto leichter fällt es uns, zu entscheiden, was wir tun wollen. Darum ist das die erste Frage, der dieses Buch in Teil I nachgeht: Warum gibt es die Kirche und was ist die Kirche?

Die zweite Fragerichtung des Buches möchte ich mit zwei persönlichen Beispielen skizzieren: Im Rahmen meines Theologiestudiums habe ich ein Semester in Seoul in Südkorea studiert. Dort ist die U-Bahn meistens sehr voll, sodass viele Leute stehen müssen.

Für alle die, die keinen Sitzplatz bekommen haben, gibt es allerdings einen kleinen »Service«: Die Sitzenden nehmen den Stehenden die Tasche oder den Rucksack ab und »parken« sie auf dem Schoß. Die Koreaner sind der Ansicht: Wenn man schon stehen muss, dann sollte man nicht auch noch sein Gepäck halten müssen. Und wenn der Platz frei wird, bleibt die eigene Tasche dort, und man kann den auf diese Weise reservierten Sitz einfach übernehmen. Wenn man nun aber nichts von den örtlichen Gepflogenheiten weiß, dann kann das Tasche-Abnehmen zu Missverständnissen und schlimmstenfalls zu körperlichen Auseinandersetzungen führen. Es ist auch

keinem zu empfehlen, diese kulturelle Gepflogenheit in anderen U-Bahn-Kulturen der Welt wie etwa Berlin anzuwenden.

In Berlin habe ich auch während des Studiums in der Notübernachtung der Stadtmission gearbeitet und dort eine witzige Situation erlebt, die einen anderen Aspekt verdeutlicht: Als ich eines Abends am Eingang Gäste begrüßte, bot mir einer von ihnen Schokolade an: »Koste mal, schmeckt voll eklig!« Es war Lavendelschokolade. Da Geschmäcker bekanntlich verschieden sind, kostete ich trotz der seltsamen Einführung ein Stück. Und ja, ich musste dem Mann zustimmen, die Schokolade schmeckte tatsächlich eigenartig. Im nächsten Moment kam meine Kollegin um die Ecke. Auch ihr wurde ein Stück angeboten, diesmal mit den Worten: »Koste mal, hab ich im Müll gefunden!« Diese kleine Information hätte ich gern dreißig Sekunden früher gehabt!

KONTEXT IST WICHTIG, UM EINE SITUATION ANGEMESSEN EINZUSCHÄTZEN.

Die zwei Beispiele haben eine einfache Botschaft: Kontext ist wichtig! Um eine Situation angemessen einzuschätzen, benötige ich so viele Informationen wie möglich. Je mehr Details ich kenne, desto klarer und schärfer wird das Bild. Um zu verstehen, warum Menschen sich so oder anders verhalten, muss ich sie und ihre Gepflogenheiten kennen. Das gilt auf individueller wie auf institutioneller Ebene – also sowohl für mich persönlich als auch für die Kirche als gesellschaftliche Größe.

In Teil II dieses Buches werden wir dazu tiefer in das Wie eintauchen: also in die Frage, wie die Kirche und einzelne Glaubende Gottes Sendung treu sein und sich zugleich mit ihrem Kontext verbinden und diesem gerecht werden können.

In Teil III werden wir dann drei konkrete Kontexte genauer ansehen: Stadt, Land und den digitalen Raum.2

Kirche im Hier und Jetzt

Eine Kirche, die ihr Warum klärt, muss im Hier und Jetzt leben, denn man kann Gott nicht im Vorgestern, Übermorgen oder vor fünfzehn Jahren begegnen. Ebenso kann man das eigene Umfeld nicht wahrnehmen, wenn man nicht mit allen Sinnen anwesend ist. Wir sind an Raum und Zeit gebunden und nur unter diesen Bedingungen können wir leben, hören und lernen.

Das heißt, dass eine Kirche, die Jesus Christus treu sein und den Menschen gerecht werden möchte, eine Kirche sein muss, die im Hier und Jetzt gegenwärtig ist. Noch konkreter: Die Christen, die zu dieser Kirche gehören, müssen im Hier und Jetzt präsent sein und wach wahrnehmen, was es hier und jetzt wahrzunehmen gibt. Wir leben in Europa in nachchristlichen Zeiten und der Glaube an das Evangelium von Jesus Christus ist alles andere als selbstverständlich. Damit wir den Menschen um uns herum das Evangelium kommunizieren können, müssen wir bei Gott und bei den Menschen zu Hause sein. Wir müssen mündig sein und über unseren Glauben Auskunft geben können.3 Dazu müssen wir wissen, was wir glauben und warum wir dem Evangelium von Jesus Christus vertrauen können, und vor allem, warum andere ihm auch vertrauen sollten. Zugleich müssen wir sprachfähig sein, um verstanden zu werden. Wenn wir nicht die Sprache der Menschen sprechen, nicht verstehen, was sie am Glauben stört oder irritiert, nicht wissen, was sie hoffen und sich wünschen, dann werden wir es schwer haben, unseren Glauben so zu bezeugen, dass er einladend ist.

Dass dies gelingt, liegt nicht zuletzt in unser aller Hände, denn die Kirche sind wir – jeder einzelne Christ und jede einzelne Christin. Egal, ob Ehren- oder Hauptamtliche, Pionier oder Gründerin, Pastor oder Vikarin, Diakonin oder Kirchenmusiker, engagierte Rentnerin oder neugieriger Teenager – wir alle sind Kirche.

Teil I

WARUM UND WOZU ES KIRCHE GIBT

AM ANFANG –

Gott macht sich klein und mischt sich ein

Wie alles begann

Der Frage, warum und wozu es die Kirche gibt, könnte man sich auf unterschiedlichsten Wegen nähern: Man könnte bei der ersten Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten (Apostelgeschichte 2) beginnen – was ja bekanntlich als Geburtstag der Kirche gilt. Oder bei der Beschreibung der ersten christlichen Gemeinde in Jerusalem (Apostelgeschichte 2–6), bei der Bekehrung des Hauptmanns Kornelius (Apostelgeschichte 10) oder bei einer Analyse der altkirchlichen Bekenntnisse. Man könnte auch noch viel später beginnen, nämlich bei einer Vorstellung der Augsburger Konfession (Confessio Augustana) als dem Grundbekenntnis der lutherischen Kirche. Eine weitere Möglichkeit wäre die Auseinandersetzung mit den Licht- und vor allem den Schattenseiten der kirchlichen Missionsgeschichte … oder, oder, oder. Ich wähle einen anderen Einstieg. Einen, der deutlich früher anfängt, vor der Confessio Augustana, vor dem Beginn der Urkirche und sogar noch vor dem ersten Pfingstfest. Nämlich mit der Taufe von Jesus:

Zu dieser Zeit kam Jesus aus Nazaret in Galiläa zu Johannes.

Er ließ sich von ihm im Jordan taufen. Dann stieg Jesus aus dem Wasser. In diesem Moment sah er, wie der Himmel aufriss. Der Geist Gottes kam auf ihn herab wie eine Taube.

Dazu erklang eine Stimme aus dem Himmel: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Freude.«

Markus 1,9-11

In dieser Szene erhalten wir einen Einblick in das Geheimnis Gottes: Seit dem Auftreten von Jesus und seinem Anspruch, Gottes Sohn zu sein, ist die Christenheit, und besonders die Theologie, mit einer gedanklichen Schwerstaufgabe konfrontiert: der Erkenntnis, dass es nur einen Gott gibt, der aber mehrere Personen umfasst. In der Taufe von Jesus begegnen sie uns: Jesus, der getauft wird, der Heilige Geist, der als Taube auf Jesus herabsinkt, und der Vater, der das Wort ergreift und begeistert von seinem Sohn spricht.

DIE DREI PERSONEN DER TRINITÄT UMTANZEN EINANDER IN LIEBE, HINGABE UND BEGEISTERUNG.

Mit Blick auf diese Situation wird klar, dass Gott nicht allein ist. Er ist Beziehung. Theologisch wird diese Beziehung Trinität oder Dreieinigkeit genannt. In der alten Kirche hat man sie mit dem Begriff Perichoresis beschrieben. Das bedeutet wörtlich »herumtanzen« und drückt folgende Vorstellung aus: Die drei Personen der Trinität umtanzen einander in Liebe, Hingabe und Begeisterung. Das innere Wesen Gottes ist Beziehung – und somit Liebe. So steht es kurz und knapp in 1. Johannes 4,16: »Gott ist Liebe.«

Entscheidend ist das Wort »ist«. Gott »hat« nicht Liebe, sondern er »ist« Liebe. Das Wort »Liebe« beschreibt Gottes Wesen. Liebe setzt Beziehung voraus und so schließt sich der Kreis: Weil

Gott Liebe ist, ist er Beziehung, und weil er Beziehung ist, liebt er. Gott ist »Ich und Wir zugleich«4. Oder mit den Worten von Jürgen Moltmann:

Die Lehre von der Perichoresis verbindet auf geniale Weise die Dreiheit und die Einheit, ohne die Dreiheit auf die Einheit zu reduzieren oder die Einheit in die Dreiheit aufzulösen. In der ewigen Perichoresis der trinitarischen Personen liegt die Einigkeit der Dreieinigkeit. Perichoretisch verstanden, bilden die trinitarischen Personen durch sich selbst ihre Einheit im Kreislauf des göttlichen Lebens.5 Jede Person findet ihre Existenz und ihre Freude in den anderen Personen. Jede Person empfängt die Fülle des ewigen Lebens von den anderen Personen.6

Dieser »Tanz der Trinität«7 ist die Mitte aller Wirklichkeit und der Ursprung allen Seins. Bei der Taufe von Jesus werfen wir einen Blick in dieses Geheimnis von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Wenn man diesen Gedanken ernst nimmt, dann wird auch klar, dass die Trinitätslehre keine Erfindung der Kirche ist, sondern das denkerische Resultat der Offenbarung Gottes. Menschen denken der Wirklichkeit Gottes, wie sie sich in Jesus Christus erschlossen hat, hinterher, das heißt, sie denken über das Wesen Gottes anhand seiner Taten nach. Und so gehen christliche Laien und Theologie davon aus, dass »Gott in sich so (ist), wie er für uns ist«8. Oder noch konkreter: »Wo wir es mit Christus und dem Heiligen Geist zu tun haben, haben wir es mit Gott selbst zu tun.«9

Aber was hat das nun mit der Kirche zu tun?

In Gottes Wesen liegt die kirchliche Mission begründet. Die Tatsache, dass Jesus getauft wird, zeigt, dass Gott nicht bei sich bleibt. Das sehen wir schon viel früher – nämlich bei der Schöpfung. Der

New Yorker Pastor und Theologe Timothy Keller schreibt: »Gott hat uns nicht geschaffen, um die kosmische und ewige Freude wechselseitiger Liebe und Verehrung zu empfangen, sondern um diese zu teilen.«10 Indem Gott sich Menschen erschafft, lässt er sich auf eine Wirklichkeit ein, die neben ihm existiert. Er schafft sich ein Gegenüber – Personen, mit denen er in Beziehung tritt. Doch dabei bleibt es nicht. Gott geht noch einen Schritt weiter und lässt sich auf die Welt ein. Die bahnbrechende Weltmissionskonferenz in Willingen (1952) hat es so formuliert:

Die Missionsbewegung, von der wir ein Teil sind, hat ihren Ursprung in dem dreieinigen Gott. Aus den Tiefen seiner Liebe zu uns hat der Vater seinen eigenen geliebten Sohn gesandt, alle Dinge mit sich zu versöhnen, auf dass wir und alle Menschen – durch den Heiligen Geist – eins werden möchten in ihm mit dem Vater in jener vollkommenen Liebe, die Gottes eigenes Wesen ist.11

Alle Jahre wieder

Da liegt er – klein, blutverschmiert und weinend. Er schmatzt – er hat Hunger. Noch ein paar Stunden zuvor war er in der Geborgenheit der warmen Gebärmutter und nun ist er dem Licht, der Kälte und der Luft ausgesetzt. Er muss jetzt atmen. Und trinken. Das ist alles neu für ihn. Hinter ihm liegt eine Geburt und vor ihm eine Menge Herausforderungen und Abenteuer, Freundschaft und Hass, Freude und Trauer. Der Schweizer Pfarrer Kurt Marti hat dieses Ereignis sehr anschaulich mit folgenden Worten ausgedrückt: »Damals – als Gott im Schrei der Geburt die Gottesbilder zerschlug und zwischen Marias Schenkeln runzelig rot das Kind lag.«12 Gott

wird Mensch. Das feiern wir jedes Jahr aufs Neue. Das Wunder von Weihnachten, die stille Nacht von Bethlehem.

Auch im Johannesevangelium wird dieses Geschehen beschrieben:

Von Anfang an gab es den, der das Wort ist. Er, das Wort, gehörte zu Gott. Und er, das Wort, war Gott in allem gleich.

Dieses Wort gehörte von Anfang an zu Gott. Alles wurde durch dieses Wort geschaffen. Und nichts, das geschaffen ist, ist ohne dieses Wort entstanden. Er, das Wort, war zugleich das Leben in Person. Und das Leben war das Licht für die Menschen. Das Licht leuchtet in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht angenommen. …

Er, das Wort, wurde ein Mensch. Er lebte bei uns, und wir sahen seine Herrlichkeit. Es war die Herrlichkeit, die ihm der Vater gegeben hat – ihm, seinem einzigen Sohn. Er war ganz erfüllt von Gottes Gnade und Wahrheit.

Johannes 1,1-5.14

Wörtlich übersetzt lautet Vers 14: »Das Wort wurde Fleisch.« Dieser kurze Satz ist sehr verdichtet und eine Revolution. Mit dem Begriff »Wort« (gr. logos) wird in der griechischen Sprache, in der das Neue Testament und somit auch das Johannesevangelium verfasst ist, eine große Bedeutungsvielfalt ausgedrückt. »Logos« kann mit Wort, Rede, Sprache, Erzählung, Aussage, Ausspruch, Frage, Rechenschaft, Lehre, Ruf oder Sinn übersetzt werden. All diese Bedeutungen assoziierten die alten Griechen mit dem Begriff, wenn sie diesen Satz lasen. Da der Autor des Johannesevangeliums einen weiten Bogen bis hin zum Anbeginn der Schöpfung zieht, ist die nächstliegende Assoziation wohl die Bedeutung »Sinn«. Von Anfang an gab es einen Sinn – ein Woher allen Lebens und aller

Ordnung. Dieser Sinn ist eine Person und durch diese Person ist alles geworden, was ist.

Das zweite tragende Wort in dem Satz ist »Fleisch«. Es drückt die gedankliche Revolution des Verses und des Beginns des Johannesevangeliums aus: Dieser Sinn, der die Welt im Innersten zusammenhält, ist eine Person und diese Person wird Mensch, wird Fleisch. Der Fachbegriff lautet Inkarnation, das bedeutet so viel wie »eingefleischt«.

Man könnte also auch übersetzen: »Der Sinn der Welt wird zu fleischlicher Materie, zu Biomasse.« Das ist eine Revolution in vielerlei Hinsicht. Für die griechischsprachige Antike galt die Materie als niedrigere Form des Seins, und alles Geistige – und besonders das Göttliche – war streng von der Materie zu unterscheiden. Für die Menschen jüdischen Glaubens war die Materie zwar nicht prinzipiell minderwertig, doch war ihnen die Idee, dass Gott Mensch werden könnte, unvorstellbar. Diese »Revolution« setzt Johannes an den Beginn seines Evangeliums und beschreibt damit die göttliche Mission, also die Sendung des Sohnes Gottes in die Welt – in Raum und Zeit.

Die Neuentdeckung einer alten erkenntnis

Die göttliche Sendung (lat. missio) ist der Ursprung der kirchlichen Mission. Sie besteht darin, dass Gott seinen Sohn sendet und Vater und Sohn den Heiligen Geist senden. Die Trinität sendet dann einzelne Menschen und auch die Gemeinschaft der Glaubenden als Zeuginnen und Zeugen des Evangeliums in die Welt. Bis zum Beginn der Neuzeit war der Begriff »missio« eng mit dem Wesen und dem Handeln Gottes verbunden, aber dann änderte sich die Wahrnehmung. Seit dem 16. Jahrhundert wurde

er zunehmend zur Beschreibung kirchlicher Aktivitäten zur Ausbreitung des Glaubens gebraucht. Diese Vorstellung hat die Wahrnehmung des Themas Mission lange Zeit geprägt und prägt sie vielfach bis heute. Die »Kirche missioniert« oder die »Kirche (be-) treibt Mission« sind gängige Formulierungen, welche die Prägung des Themas Mission seit der frühen Neuzeit kennzeichnen.

Erst im 20. Jahrhundert haben Theologie und Kirche die oben skizzierte gedankliche Spur wiederentdeckt. Der Schweizer Theologe Karl Barth stellt dazu in einem Vortrag im Frühjahr 1932 folgende Fragen:

Muss es nicht auch dem treuesten Missionar, auch dem überzeugtesten Missionsfreund zu denken geben, dass »missio« in der alten Kirche ein Begriff aus der Trinitätslehre, nämlich die Bezeichnung für die göttlichen Selbstsendungen, die Sendung des Sohnes und des Heiligen Geistes etwa in die Welt, gewesen ist? Versteht es sich etwa von selbst, dass wir es anders halten dürfen?13

Um die Tragweite dieser Neuentdeckung zu verstehen, muss man ergänzen, dass die Lehre von der Trinität seit dem 19. Jahrhundert ebenfalls einen eher schweren Stand in der theologischen Diskussion hatte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewann dann jedoch sowohl in der protestantischen als auch in der katholischen Theologie die Vorstellung Gottes als Dreieinigkeit wieder an Bedeutung. Das lenkte den Blick der christlichen Theologie zurück zu ihren Wurzeln und half, die Trinitätslehre als eine »Schatzkammer« des theologischen Denkens – ja des ganzen Lebens auf dieser Welt – neu zu würdigen.14

Dass Mission sowohl sachlich als auch zeitlich zuerst Gottes Werk ist und sich Gottes Liebe und Initiative verdankt, war ein

Paradigmenwechsel: Gott wird als das Subjekt der Mission erkannt. Er ist Sendender und Gesandter zugleich. Der englische Theologe Michael Moynagh geht sogar so weit, zu sagen, dass Mission ein Teil von Gottes Wesen ist.15 Folglich sind die Formulierungen die »Kirche missioniert« oder die »Kirche (be)treibt Mission« unzulässig und sollten vermieden werden, denn sie sind mit dieser Vorstellung von Mission als Sendung nicht vereinbar.

MISSION IST EIN TEIL VON GOTTES WESEN.

Die Wiederentdeckung der Mission als Aktivität Gottes ist eng verbunden mit der Weltmissionskonferenz 1952 in Willingen, in deren Anschluss sich die lateinische Formulierung »Missio Dei« (Sendung Gottes) etabliert hat. Diese missionstheologische Figur hat sich durchgesetzt und wird konfessionsübergreifend rezipiert und angewendet. Einer der Väter der Idee der Missio Dei, Karl Hartenstein, schreibt:

Die Mission ist nicht Sache menschlicher Aktivität und Organisation, »ihre Quelle ist der dreieinige Gott selbst«. Die Sendung des Sohnes zur Versöhnung des Alls durch die Macht des Geistes ist Grund und Ziel der Mission. Aus der »Missio Dei« allein kommt die »Missio ecclesiae«. Damit ist die Mission in den denkbar weitesten Rahmen der Heilsgeschichte und des Heilsplanes Gottes hineingestellt.16

Auch der englische Theologe David Goodhew stellt fest, dass Mission nicht ein Gedanke der ersten Christen war: »Wie uns Lukas und die Apostelgeschichte zeigen, beginnt Mission nicht als eine gute Idee der Apostel, sondern als ihre Reaktion auf das Handeln Gottes, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Sie engagierten sich

nicht deshalb in der Mission, weil sie das selbst wollten, sondern weil sie nicht anders konnten.«17

Jürgen Moltmann erklärt: »Nicht sie (die Kirche) hat eine Mission des Heils an der Welt zu erfüllen, sondern die Mission des Sohnes und des Geistes durch den Vater hat sie und schafft sich auf ihrem Wege Kirche.«18 Die Kirche ist gewissermaßen das Nebenprodukt der göttlichen Sendung. Diese Erkenntnis sollte Christinnen und Christen bescheiden und mutig zugleich machen. Bescheiden, da die Kirche weder Subjekt, Inhalt noch Ziel der Mission ist. Mutig, weil es Gott ist, der die Kirche ins Leben gerufen, sie gesandt hat und immer noch sendet.

Der südafrikanische Missionstheologe David Bosch fasst es folgendermaßen zusammen:

Mission ist zunächst und letztendlich das Werk des dreieinigen Gottes, Schöpfers, Erlösers und Heiligenden, zum Wohl der Welt, ein Dienst, bei dem die Kirche das Privileg besitzt, daran teilzuhaben ... Die Mission hat ihren Ausgangspunkt im Herzen Gottes. Gott ist ein Brunnen sich verströmender Liebe. Das ist die tiefste Quelle der Mission. Es ist unmöglich, noch weiter vorzudringen; es gibt Mission, weil Gott die Menschen liebt ... Es ist undenkbar, dass wir zu einer enger gefassten, ekklesiozentrischen (d. h. kirchenzentrierten)

Anschauung der Mission zurückkehren könnten.19

Alles auf Anfang

Das Nachdenken über Sendung und Auftrag der Kirche beziehungsweise ihre Mission muss also mit einem Nachdenken über Gott selbst – über sein Wesen und sein Handeln – beginnen. Der

Ort, an dem sich Gottes Wesen uns Menschen erschließt, ist Jesus Christus. Dieser »Ort« ist natürlich kein wirklicher Ort, sondern eine Person. Deshalb beginne ich dieses Buch mit der Taufe von Jesus und mit Weihnachten. Dieses Wunder, das wir jedes Jahr im Dezember feiern, ist der Schlüsselmoment für alles Nachdenken über eine kontextsensible Kirche. Gott macht sich klein, er lässt sich auf einen bestimmten Kontext ein, und das tut er sehr konsequent. In dem Christus-Hymnus, den Paulus im Brief an die Gemeinde in Philippi (2,6-7) zitiert, heißt es: »Er war von göttlicher Gestalt.

Aber er hielt nicht daran fest, Gott gleich zu sein – so wie ein Dieb an seiner Beute. Er legte die göttliche Gestalt ab und nahm die eines Knechtes an. Er wurde in allem den Menschen gleich. In jeder Hinsicht war er wie ein Mensch.«

Wörtlich steht dort, dass Jesus sich entleert, sich ausgegossen oder »sich selbst entäußert« hat, wie Luther übersetzt. Er hat sich in diese Welt gegossen und ist Teil von ihr geworden.

In der Apostelgeschichte lesen wir, dass der Heilige Geist ebenfalls ausgegossen wird. Gott gießt sich in seine Schöpfung oder, mit den Worten des Apostels Paulus: »Denn Gott hat seine Liebe in unsere Herzen hineingegossen. Das ist durch den Heiligen Geist geschehen, den Gott uns geschenkt hat« (Römer 5,5). Für dieses Vorgehen wird jedoch im Original ein anderes Wort verwendet als bei der Menschwerdung Gottes in Christus. Bei der Inkarnation von Jesus liegt die Betonung stärker auf seiner Bereitschaft, sich um unseretwillen zu benachteiligen. Die Beschreibung der Ausgießung des Geistes Gottes betont hingegen die Erfüllung eines Herzens, einer Seele oder eines Lebens mit der Gegenwart und Kraft Gottes.

Was geschildert wird, ist jedoch prinzipiell das gleiche Geschehen: Gott schenkt sich uns Menschen. Er tut dies, indem er sich auf einen bestimmten Kontext einlässt und ein Teil davon wird.

Dieser Kontext ist der Stall in Bethlehem, die Familie Josefs, das antike Nazareth und so weiter. Dieser Kontext ist aber auch unsere Gegenwart: zum einen unsere Welt, die der Geist Gottes am Leben erhält. Zum anderen das Leben eines jeden Menschen, der erfüllt ist vom Heiligen Geist. Und es sind all die übrigen Orte, an denen der Heilige Geist wirkt, ohne dass wir das genau wissen.

Wenn Mission dem Wesen Gottes entspricht – wenn also die Initiative aller Mission von Gott selbst ausgeht und wir beobachten können, dass sich Gott im Rahmen seiner Mission auf bestimmte Kontexte sehr konkret einlässt –, dann kommt eine Kirche, die von Gott gesandt ist und im Rahmen ihrer Sendung Gottes Handeln nachzueifern versucht, nicht umhin, sich ihrerseits konkret auf bestimmte Kontexte einzulassen. Sensibel für und kompetent in einem Kontext zu sein, ist folglich nicht nur soziologisch sinnvoll, sondern theologisch geboten.

Die Kirche kann sich also nicht selbst senden und die Sendung, in welche die Kirche gestellt ist, erfordert bestimmte Haltungen. Dass diese Haltungen mehr als nur ein gut gemeinter Vorschlag sind, erwähnt Paulus:

Nicht Eigennutz oder Eitelkeit soll euer Handeln bestimmen. Vielmehr achtet in Demut den anderen höher als euch selbst. Seid nicht auf euren eigenen Vorteil aus, sondern auf den der anderen – und zwar jeder und jede von euch! Denkt im Umgang miteinander immer daran, was in der Gemeinschaft mit Christus Jesus gilt.

Philipper 2,3-5

Hinter der Formulierung »in der Gemeinschaft mit Christus Jesus« steht die Vorstellung der Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Also: Für alle Menschen, die sich Christinnen und Christen nennen,

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