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ZWISCHEN

MENSCHLICHKEIT UND HERRLICHKEIT

In Krisenzeiten geistlich leiten

Aus dem Schwedischen von Constanze Budde

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

©2023 R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Str. 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: info@scm-brockhaus.de

Originally published in Swedish under the title

Fri att tjäna. Del 2 – Församlingsarbete i Jesu efterföljd.

© Magnus Malm 2020

Published by Artos & Norma bokförlag.

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen: Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.

Weiter wurden verwendet:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel (lut)

Übersetzung: Constanze Budde

Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de

Coverillustrion: venimo/ shutterstock.com

Autorenfoto: © 2020 Artos & Norma bokförlag

Fotos im Innenteil:

S. 78 (Polyklet, Skulptur, Ganzkörperansicht, Bildnr.: AKG361477)

© akg-images / Nimatallah

S. 79 (Porträt des Lucius Caecilius Felix, Bildnr: AKG950641) © akg-images

S. 334 (Portät Jean de Brebeuf) in: Reuben Gold Thwaites: The Jesuit Relations and Allied Documents,1897.

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Gedruckt in Deutschland

ISBN 978-3-417-00004-7

Bestell-Nr. 227.000.004

INHALT

Vorwort: Wie eine

1. Wer ist Herr, wer Diener? – Geistlich erfolgreich leiten, ohne nach Erfolg zu streben .......................... 14

2. Vom Umgang mit Krisen –

Der Reichtum geistlicher Armut ...................... 45

3. Gott und Mensch wohnen im gleichen Haus –

Die eigentliche Menschlichkeit wiederentdecken .......

4. Der kürzeste Weg zum Herzen des anderen –

Unsere Sendung im Pulsschlag von Jesus .............

5. Auf der Welle Gottes surfen –

Zwischen Menschsein und geistlichem Leben ..........

6. Der Schlüssel liegt auf der Schwelle –

Kirche bauen, die der Sehnsucht des Herzens folgt .....

7. Die magnetische Anziehungskraft des Mammons –Ein

8. Das Geheimnis des Sauerteigs –

Die unsichtbare Schlagkraft des Glaubens ............. 235

9. Als wir glaubten, alles wäre zu Ende –

Das geistliche Prinzip von Tod und Auferstehung .......

10. Die ruhige Stimme –Für Krisen aus der Offenbarung lernen ................

WER IST HERR, WER DIENER? –

Geistlich erfolgreich leiten, ohne nach Erfolg zu streben

Am 3. Oktober 1960 hielt der schwedische Politiker Dag Hammarskjöld, der zu dieser Zeit zweiter Generalsekretär der Vereinten Nationen war, eine Rede vor deren Generalversammlung. Hammarskjölds energisches Handeln im Kongo hatte die Sowjetunion verärgert, die am gleichen Morgen seinen Rücktritt gefordert hatte. Unter anderem warf die Sowjetunion Hammarskjöld vor, dem »Kongo ein weiteres Joch aufzuerlegen«, »die elementare Gerechtigkeit verhöhnt zu haben« und versucht zu haben, »die blutigen Verbrechen, die gegen das kongolesische Volk begangen wurden, zu rechtfertigen«. Darauf antwortete Hammarskjöld unter anderem:

In den letzten Wochen wurden wir in dieser Versammlung Zeugen, wie eine historische Wahrheit geschaffen wurde; wenn eine Behauptung einige Male wiederholt wird, ist sie keine Behauptung mehr, sondern eine etablierte Tatsache, auch wenn keine Beweise dafür gegeben sind. Aber Fakten bleiben Fakten und die wahren Fakten sind hier allen zugänglich, die sich für die Wahrheit interessieren.

Wer sich auf die Geschichte beruft, wird gewiss von der Geschichte gehört werden. Und er wird sich dem Urteil der Geschichte stellen müssen, wenn es auf der Grundlage von Fakten von Menschen verkündet wird, die freien Sinnes und fest davon überzeugt sind, dass nur durch die Prüfung der Wahrheit eine friedliche Zukunft erbaut werden kann.

Schon hier wird deutlich, dass wir in einer neuen Zeit leben. Heutzutage tragen das Internet und aktive Kampagnen von Politikern dazu bei, die Wahrheit aufzubrechen, sie mit Lügen zu vermischen und eine weltumspannende postfaktische Ära zu schaffen. Ziel ist nicht länger, wie bei alter Propaganda, die Leute von Lügen zu überzeugen, sondern sie glauben zu machen, dass es gar keine Wahrheit mehr gibt. In einem solchen Klima können Führungspersonen eine beliebige Agenda so lange zum Thema machen, um ihre Macht zu stärken – egal, ob sie wahr ist oder nicht.

In dieser Zeit sollen Menschen glauben, dass es gar keine Wahrheit mehr gibt.

Wie reagierte Hammarskjöld auf die Vorwürfe? Er antwortete:

Ich habe keinen Grund, mich oder meine Kollegen gegen diese vorgebrachten Vorwürfe oder Beurteilungen zu verteidigen. Lassen Sie mich nur sagen, dass Sie, Sie alle, Richter sind. Keine einzelne Partei kann diese Befugnis für sich beanspruchen. Ich bin mir sicher, dass Sie sich von Wahrheit und Recht werden leiten lassen.

Dann beschreibt er sein Führungsverständnis. Es steht ebenfalls in scharfem Kontrast zu der narzisstischen Fixierung auf die eigene Person und der Überzeugung, die heute so weitverbreitet ist:

Es geht nicht um die Person, sondern um die Institution. Eine schwache oder nicht existente Vollstreckungsbehörde würde bedeuten, dass die Vereinten Nationen nicht länger in der Lage wären, aktiv jenen Schutz zu bieten, den die Mitglieder brauchen. Wer die Verantwortung als oberster Angestellter trägt, sollte zurücktreten, wenn er die Vollstreckungsbehörde schwächt. Doch er sollte bleiben, wenn es notwendig ist, um diese zu erhalten. Das, und nur das, erscheint mir das einzig anwendbare Sachargument.

Ohne Macht lässt sich nichts erreichen. Aber die Macht dient nicht den Zielen der Führungsperson, sondern denen der Organisation. Diese wiederum dient nicht der oder dem Vorsitzenden, sondern ihren Mitgliedern. Vor allem den schwächsten Mitgliedern, betont Hammarskjöld:

Durch meinen Rücktritt würde ich in der jetzigen schwierigen und gefährlichen Zeit die Organisation ausliefern. Dazu habe ich kein Recht, denn ich trage Verantwortung gegenüber allen Mitgliedsstaaten, für die diese Organisation von entscheidender Bedeutung ist. Eine Verantwortung, die vor allen anderen Belangen Vortritt hat.

Weiter sagt er:

Es ist nicht die Sowjetunion, und im Übrigen auch keine der anderen Großmächte, die des Schutzes der Vereinten Nationen bedarf. Es sind all die anderen Staaten. In diesem Sinn ist die Organisation vor allem ihre Organisation, und ich bin zutiefst überzeugt, dass sie diese klug nutzen und führen werden. Ich werde meinen Posten bis zum Ende meiner Amtszeit

als Diener dieser Organisation im Interesse all dieser anderen Nationen behalten, solange sie es wünschen.

In diesem Zusammenhang sprach der Repräsentant der Sowjetunion von Mut. Es ist sehr leicht zu gehen, hingegen nicht so leicht zu bleiben. Es ist sehr leicht, sich den Wünschen einer Großmacht zu beugen. Es ist etwas anderes, Widerstand zu leisten.

Wie alle Mitglieder dieser Versammlung wohl wissen, habe ich bereits zuvor bei vielen Gelegenheiten und in vielen Zusammenhängen so gehandelt. Wenn es von den Nationen gewünscht wird, die sich in dieser Organisation am besten geschützt sehen, werde ich dies auch weiterhin tun.2

Loslassen

Welches Geheimnis steckt hinter dieser Art von Führung? Wie kann man in solch einem Sturm Rückgrat zeigen und gleichzeitig mit einer solchen Demut, ohne Rücksicht auf die eigene Macht und Position, in Freiheit leiten? Das Buch Zeichen am Weg, in dem die Tagebuchaufzeichnungen gesammelt sind, die nach Hammarskjölds Tod 1961 in seiner Wohnung gefunden wurden, gewährt einen Blick auf die verborgene Landschaft, aus der sein Leben und sein Führungsverständnis erwuchsen. Im selben Jahr, in dem er zum Generalsekretär der Vereinten Nationen gewählt wurde, schrieb er die Grundlage für die zitierte Rede: »Wer sich Gottes Hand überlassen hat, der steht den Menschen frei gegenüber.«3

Je mehr man in Zeichen am Weg liest, desto deutlicher wird, dass diese Überantwortung keine kühle und distanzierte Lebensanschauung für ihn ist, die sich neben anderen einordnen lässt. Schon Ende der 1940er-Jahre schreibt Hammarskjöld:

Den Griff loslassen von der Gestalt, die vor der Welt einen Namen trägt; die das Bewusstsein durch sozialen Ehrgeiz und zügelnden Formwillen aufgebaut hat. Loslassen, um zu fallen, fallen – in blinder Hingabe vertrauen. Zu etwas anderem, einem anderen.4

Voraussetzung dafür, diesen Halt angesichts der Stürme der Weltpolitik nicht zu verlieren, war für Hammarskjöld vor allem: »Die innere Ruhe zu bewahren – mitten im Lärm. Offen zu bleiben, still, feuchter Humus in der fruchtbaren Dunkelheit, wo Regen fällt und Saat erwächst – egal, wie viele im trockenen Tageslicht Staub über den Markierungen aufwirbeln.«5

1954 formuliert Hammarskjöld ein Gebet, an das er sich einige Monate vor seinem Tod erinnert:

Gib mir einen reinen Sinn – dass ich dich sehe, einen demütigen Sinn – dass ich dich höre, einen liebenden Sinn – dass ich dir diene, einen gläubigen Sinn – dass ich in dir bleibe.6

Ich fasse Hammarskjölds Führungsverständnis in den folgenden drei Punkten zusammen. Und diese Grundlagen können aus meiner Sicht bis heute als Grundlagen geistlicher Leiterschaft dienen:

• Die Gewissheit, dass das eigene Leben im Dienst Gottes steht. Es geht nicht darum, Karriere zu machen, sich Positionen zu sichern oder eine Marke zu prägen. Man überlässt sein Leben und alles, was man hat, etwas Größerem als der eigenen Selbstverwirklichung. Das Ziel ist nicht die eigene Ehre, sondern die Ehre Gottes und das Wohl der Allgemeinheit.7

• Die tiefe innere Verankerung in Stille und Gebet. Mit ihrer Hilfe übersteht der Halt in Gott die Belastungen des Lebens und der Arbeit. Die Disziplin von täglicher Stille und Gebet rückt alles ins richtige Verhältnis und ermöglicht es, einen anderen Weg als den des Mainstreams einzuschlagen.

• Die Freiheit, nicht ständig die Bestätigung anderer Menschen zu suchen. Scheitern oder Kritik erschüttern nicht den eigenen grundlegenden Selbstwert, da man zutiefst in Gott verankert ist. Wird man bewundert oder ist man erfolgreich, wird das Selbstwertgefühl aus dem gleichen Grund nicht größer. Die Führung baut nicht auf der Resonanz anderer Menschen auf, sondern auf dem Widerhall dessen, was man selbst als Wille Gottes versteht.

Das Matthäusevangelium fasst im zwölften Kapitel eine solche Führung kompakt zusammen. Jesus hatte jeden Erfolg, von dem eine christliche Führungsperson nur träumen kann: »Viele folgten ihm und er heilte alle.« Was macht Jesus in dieser Situation des »Erfolgs«? Beruft er eine Pressekonferenz ein und berichtet von seinem Durchbruch? Geht er auf Vortragstournee durch die Kirchen des Landes, um sein Erfolgsrezept zu verraten? Schreibt er einen Bestseller über den Schlüssel zu effektiver Führung? Matthäus berichtet, dass Jesus »(ihnen) verbot zu sagen, wer er war«.

Damit erfüllte sich die Prophezeiung Jesajas über Jesus: »Dies ist mein Diener, den ich auserwählt habe. Ich liebe ihn und habe meine Freude an ihm. Ich werde meinen Geist auf ihn legen, und er wird den Völkern Gerechtigkeit verkünden. Er wird weder kämpfen noch schreien; er wird seine Stimme nicht in der Öffentlichkeit erheben. Er wird das geknickte

Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht

auslöschen. Durch seine Treue wird er die vollkommene Gerechtigkeit durchsetzen. Und auf seinem Namen wird die Hoffnung der ganzen Welt ruhen.«

Matthäus 12,16-21

Punkt für Punkt wird hier das Gegenmodell zu einer Führungskultur des narzisstischen Zeitalters entworfen.

Jesus wird nicht durch seine Ausstrahlung, seine Kompetenz, seinen Dienst oder Erfolg definiert, sondern durch seine Beziehung zum Vater: »Dies ist mein Diener, den ich auserwählt habe. Ich liebe ihn …«

Was macht Jesus in den Situationen seines Erfolgs?

Er hat ein anderes Ziel als seine eigene Karriere, Einkommen oder Popularität: »Ich werde meinen Geist auf ihn legen, und er wird den Völkern Gerechtigkeit verkünden.«

Er steigt nicht in die Debatte ein und verschwendet keine Energie für Konflikte, die ihm sicherlich Schlagzeilen einbringen, ihn aber auch von seinem Auftrag abbringen würden: »Er wird weder kämpfen noch schreien …«

Er strebt nicht danach, gesehen zu werden. Es gibt Dinge, die wichtiger sind, als »gesehen zu werden« oder in den sozialen Medien unterwegs zu sein: »… er wird seine Stimme nicht in der Öffentlichkeit erheben.«

Er geht nicht über Leichen, um seine Ziele zu erreichen, und bedient sich nicht der Schwächen anderer, um seine eigene Position zu stärken. Er flieht auch nicht vor seinen eigenen Wunden, indem er hart gegen andere vorgeht: »Er wird das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen.«

Er richtet seinen inneren Kompass nicht nach den Widerständen der Umgebung aus, sondern behält die Ausrichtung seines Auftrags durch alle Trends hindurch bei. Und gerade weil er frei

von dem Druck der Menschen ist, kann er zu ihrem Besten handeln. Gerade durch seine Hingabe zum Vater ist er die Rettung der Menschheit: »Durch seine Treue wird er die vollkommene Gerechtigkeit durchsetzen.«

Er will nicht als etwas Besonderes verstanden werden und versucht nicht, eine Marke mit attraktiven Eigenschaften aufzubauen. Da er frei ist von dem Bedürfnis nach Bestätigung, weckt seine Gegenwart Hoffnung, die bei anderen Leitenden früher oder später erlischt. »Und auf seinem Namen wird die Hoffnung der ganzen Welt ruhen.«

Eine Tür in der Mauer

Und wir? Wie weit kommen wir auf diesem Weg? Welche Möglichkeiten haben wir Menschen mit all unseren Wunden und Defiziten, die in einer von Sündenfall und Verzerrung geprägten Welt unvermeidbar sind? Ist Jesus nicht ein viel zu unerreichbares Ideal, das uns von vornherein das Gefühl gibt, für eine Führungsposition in der Gemeinde disqualifiziert zu sein?

Immer wieder habe ich in meinen eigenen Exerzitien vor dieser Frage gestanden. Oder besser gesagt, vor dieser Mauer. Wenn ich dann vor meinem Mentor, meistens einem Jesuiten aus Irland oder England, ins Seufzen verfiel, sah er mich nicht selten liebevoll an und fragte: »What is the invitation in this?« Nicht nur: Worin liegt hier die Herausforderung? Oder: Was kannst du daraus lernen?

Sondern: Wozu lädt Gott dich hier ein?

Das ist ein himmelweiter Unterschied. Anstatt zum hundertsten Mal zu versuchen, sich zusammenzureißen, die Zähne zusammenzubeißen und sich anzustrengen, öffnet sich eine Tür in der Mauer, durch die Jesus flüstert: »Komm einen Schritt näher.«

Der norwegische Pastor und Exerzitienleiter Edin Lövås sagte immer: »Christ zu werden, bedeutet, eins zu werden mit Jesus Christus und seinen Interessen in der Welt.« Diese radikale Identifikation wird in der christlichen Kirche durch die Taufe symbolisiert. Paulus schreibt, dass wir durch die Taufe mit Christus gestorben und begraben sind. »Und genauso wie Christus durch die herrliche Macht des Vaters von den Toten auferstanden ist, so können auch wir jetzt ein neues Leben führen« (Römer 6,3-4).

Es geht darum, die mühsam aufgebaute Führungsrolle loszulassen und sich in den fallen zu lassen, der der einzig würdige Leiter ist, Jesus.

Das heißt, dass es bei christlicher Führung nicht darum geht, sich zu verrenken, um das Niveau zu erreichen, das Jesus gelebt hat. Es geht darum, sich mit ihm vereinen zu lassen. Oder, wie Dag Hammarskjöld schreibt, die mühsam aufgebaute Führungsrolle loszulassen und sich in den fallen zu lassen, der der einzig würdige Leiter ist. So schreibt auch der Theologe und Märtyrer Dietrich Bonhoeffer: »Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen, … dann wirft man sich Gott ganz in die Arme.«8 Man kann beten: »Guter Gott, gib mir Kraft für meinen Dienst.« Aber man kann auch beten: »Jesus, lass mich Teil deines Dienstes werden.« Der Unterschied zwischen den beiden Gebeten ist vergleichbar mit dem Unterschied zwischen dem mittelalterlichen ptolemäischen Weltbild, in dem die Sonne um die Erde kreist, und dem kopernikanischen, in dem die Erde um die Sonne kreist. Und genau wie bei Kopernikus und Galilei regt sich Widerstand angesichts dieser Revolution. So lange, bis wir entdecken, dass wir dadurch nicht bis zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen. Denn wenn die Sonne an ihrem Platz ist und wir uns nicht länger für das Zentrum der Welt halten, erwarten uns optimale Lebensbedingungen.

Gott nimmt ein Risiko in Kauf, wenn er einen Menschen für eine Leitungsaufgabe erwählt und ihn an der Kraft von Jesus teilhaben lässt. Man muss nicht in der Kirchengeschichte graben, ein Blick in den eigenen Erfahrungsschatz reicht, um die Verschiebung zu erkennen, die sich vollzieht, wenn die eigene Identität von der Verankerung in Gott diskret zum Erfolg im Dienst wandert. Zunächst unmerklich und scheinbar unschuldig. Doch umso verheerender, wenn man einmal in die Falle getappt ist.

Jesus ist sich dieses Risikos offenbar bewusst, als die 72 Jünger zurückkehren und atemlos berichten, dass selbst Dämonen ihnen gehorchen, wenn sie seinen Namen aussprechen. Was für Möglichkeiten! Was für eine Macht!

Was für eine fürchterliche Gefahr. Jesus antwortet:

Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen! Ich habe euch Vollmacht über den Feind gegeben; ihr könnt unter Schlangen und Skorpionen umhergehen und sie zertreten. Nichts und niemand wird euch etwas anhaben können.

Aber freut euch nicht darüber, dass böse Geister euch gehorchen, sondern freut euch, dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind.

Lukas 10,18-20

Ausdrücklicher lässt sich eine Warnung vor Erfolg kaum formulieren. Warum? Vielleicht, weil es oft der Stolz über unsere eigenen Taten ist, der den Dämonen ihre Kraft zurückgibt, die sie eigentlich schon verloren hatten.

Unsere Identität und unser Selbstwert müssen sicherer verwahrt werden. Dass Ihr Name »im Himmel aufgeschrieben« ist, bedeutet, dass Sie in Ihrem ganzen Sein von Gott bewahrt sind. Von ihm, der allein weiß, wer Sie sind, und auf den Manipulation keinen

Einfluss hat, komme sie nun durch menschliche Bestätigung oder Infragestellung.

Alle, die geistliche Leiterschaft übernehmen, treffen früher oder später auf zwei Spiegel. Im Spiegel des Teufels sehen wir uns wie in strahlendem Licht. Das wahre Ich bleibt jedoch verborgen. So werden wir geblendet von Funktion und Erfolg; alle Defizite oder Misserfolge werden verborgen. In diesem Spiegel wird es uns sehr schwer fallen, uns selbst zu erkennen. Er zeigt deutlich das Wesen des Teufels: Der Schein von Macht und Ehre verbirgt das schwarze Loch seiner Leere und seines Mangels an Wirklichkeit.

Der andere Spiegel ist das Angesicht Jesu. Es dringt sowohl durch den Glanz der Erfolge als auch durch die Schatten der Misserfolge und lässt uns unser wahres Ich erkennen. Die Blindheit, mit der wir in unserer Rolle mitunter geschlagen sein mögen, verzieht sich, und wir sind frei, uns selbst zu sehen. Auch dieser Spiegel ist eins mit seinem Urheber: Die Wahrheit ist Fleisch geworden in einem Menschen, an dem sich kein äußerliches Attribut von Ehre und Macht erkennen lässt.

Diese beiden Spiegel lassen sich in zwei Arten von Menschen erkennen. Der erste Spiegel zeigt sich in den Bewunderern, die nur das Strahlen der Erfolge sehen wollen, aber erschrocken fliehen oder aggressiv zurückschlagen, wenn sie das wahre Ich entdecken. Der zweite Spiegel ist blind für den Glanz, aber enthüllt liebevoll und treu den Menschen, der man wirklich ist. Wir finden ihn bei Freunden, die nicht beeindruckt, vielleicht sogar nicht einmal an unseren Erfolgen interessiert sind, dafür aber Freundschaft suchen und geben – von Herz zu Herz.

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