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TOMAS SJÖDIN

WENN STILLE

EINE SPRACHE

WÄRE ~

Wie wir die Verbindung mit unserem Schöpfer wiederfinden

Aus dem Schwedischen von Hanna Schott

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

© der deutschen Ausgabe 2022

SCM Verlagsgruppe GmbH · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: info@scm-brockhaus.de

Originally published in Swedish under the title: Ljudet av tystnad by Libris bokförlag, Stockholm, Sweden Copyright © Libris förlag

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen: Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Übersetzung: Hanna Schott Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, www.spika-design.de

Titelbild: © shutterstock, Irtsya

Autorenfoto: © Rickard Liljero Eriksson Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Gedruckt in Deutschland

ISBN 978-3-417-00002-3

Bestell-Nr. 227.000.002

Ich

schreibe aus einem unruhigen, lauten Leben

Ich war ein mitteilsames Kind. Ich bin ein mitteilsamer Erwachsener, und das werde ich wohl auch bleiben. Das Spiel, das ich als Kind am wenigsten mochte, war das »Stille-Spiel«: Man musste einander in der Kunst des Schweigens übertreffen, indem man den anderen durch Grimassen und Gesten dazu brachte, die Kontrolle zu verlieren und loszulachen. Ein chronischer Redner wie ich war also zum Scheitern verurteilt, bevor das Spiel überhaupt angefangen hatte. Wenn meine Eltern vom Elternabend in der Schule kamen, hatten sie jedes Mal dasselbe zu berichten: Die Lehrer hatten gesagt, dass ich ein freundlicher, aber unglaublich redseliger Junge sei und dass ich mich an diesem Punkt bessern müsse. Doch es wurde nie besser.

Wenn ich von der Schule nach Hause kam, konnte ich noch nicht mal in Ruhe zur Toilette gehen. Ich hatte meiner Mutter so viel zu erzählen, dass sie draußen vor der Badezimmertür stehen und mir zuhören musste. Sie besaß eine Engelsgeduld und stand dort tatsächlich, bis ich herauskam, um meine detaillierten Schilderungen in der Küche fortzusetzen. Und so ist es geblieben. Im Grunde bis heute.

Ich schreibe aus einem unruhigen, lauten Leben. Ich mag einen gewissen Geräuschpegel, rede, wie gesagt, gern und viel, höre fast ständig Musik, pfeife oder summe vor mich hin, während ich praktische Arbeiten mache, und außerdem höre ich beim Einschlafen gern den leisen Klang des Radios, das auf dem Nachttisch steht. Ich habe einen Beruf, zu dem es gehört, dass ich von morgens bis abends von Menschen umgeben bin, dass mehrere Telefone klingeln und ich so viele Mails bekomme, dass ich kaum auf alle antworten kann.

Das ist das Leben, wie ich es im Grunde liebe. Aber auch das, was man liebt, droht einen aufzureiben, wenn man sich ständig von äußeren Notwendigkeiten und von Erwartungen vorantreiben lässt – den eigenen und denen der anderen.

Vielleicht qualifiziert mich ja gerade dies dafür, ein Buch über die Stille zu schreiben: dass ich für die spreche, für die es meist gar kein Problem ist, von Menschen, Musik, Stimmen und Unruhe umgeben zu sein. Aus dieser Position kann ich zu erklären versuchen, was in einem Leben allein dadurch geschehen kann, dass man bewusst einen Moment akustischer Abgeschiedenheit wählt, und zwar jeden Tag. Das ist mein Anliegen. Vielleicht ist mein eigenes lärmiges Leben ja

eine Voraussetzung dafür, über Stille schreiben zu können.

Über Stille als ein wichtiges Element bei der Wiederherstellung eines verborgenen inneren Lebens, das sich durch Tiefe, Stabilität und – nicht weniger wichtig – stille Wunder auszeichnet.

Die große Frage, die die Stille uns stellt, fragt nach dem, was zu hören ich mich sehne.

Die große Frage, die die Stille uns stellt, ist nicht die Frage nach dem, was ich lieber überhören würde, sondern nach dem, was zu hören ich mich sehne.Wenn man die Stille wählt, fügt man dem Leben nicht etwas hinzu. Man verzichtet nur darauf, einen kleinen Zeitraum mit irgendetwas zu füllen. Man lässt ihn leer, sodass er von etwas anderem gefüllt werden kann. Nichts, was man selbst beiträgt oder was andere beitragen, sondern etwas, das auf einen zukommt wie eine Ahnung aus einer anderen Welt, einer Welt, in der die Zeit nicht vorbeirauscht, einer Welt, in der man sein eigenes Herz schlagen hören und seine eigene Sehnsucht wahrnehmen kann und in der es möglich ist, Nuancen zu erspüren. Nuancen, die einen den Unterschied zwischen Gold und billigem Plunder erkennen lassen. Denn wenn man eine Weile auf diese vermeintliche Leere hört, entdeckt man nach und nach, dass da ein Rhythmus ist und eine Melodie. Und, ich meine, auch eine nachhaltigere Art zu leben.

Stille ist das Luxusgut der Zukunft. Wenn ich Menschen frage, wonach sie sich am meisten sehnen, höre ich immer öfter

die Antworten: »Dinge in aller Ruhe tun können«, »Stille« und »Schweigen«. Ich selbst gehöre auch zu dieser Gruppe, deshalb dieses Buch. Ich schreibe, wie gesagt, aus einem brausenden Leben, aber es ist ein Leben, das jetzt seine feste Verankerung in der Stille hat. Über dieses Vertäutsein in der Stille schreibe ich.

Es geht mir nicht darum, von einem brausenden Leben in ein anderes, stilleres Leben zu fliehen. Aber ich brauche einen Heimathafen, einen Platz, an dem ich anlegen kann, eben das Vertäutsein in der Stille. Einen Ort, an dem ich –eine kleine Weile an jedem Tag, etwas länger irgendwann im Lauf der Woche oder mehrere zusammenhängende Tage irgendwann im Laufe des Jahres – das Schwätzen hinter mir lassen kann, klingelnde Telefone, alle Menschen, die irgendwas von mir wollen, und all die Nachrichten, die ständig auf mich einströmen.

Ich glaube, dass Stille die vergessene oder vernachlässigte Kraft ist, die uns zu einem Leben zurückleiten kann, in dem wir sowohl Wurzeln als auch Flügel besitzen.Wenn man die Stille einlädt, entscheidet man sich auch gegen etwas, entzieht man sich. Es ist, als würde man einen Freiraum schaffen, eine Lichtung, und wenn das gelungen ist, geht es darum, ihn mit gar nichts zu füllen. Jedenfalls nicht gleich. Ehe man sich so etwas wie einem Tun nähert, muss man sich mit der Stille anfreunden. Die Stille ist wie ein scheuer Vogel. Man muss sich ihm vorsichtig nähern.

Die meisten von uns wissen ja, dass Stille herrlich und kraftspendend sein kann, aber die wenigsten leisten sich die-

sen Genuss. Warum eigentlich? Vielleicht scheuen wir die Stille, weil wir sie als befremdlich erlebt haben, vielleicht sogar als erschreckend? So ging es mir jedenfalls, bis das geschah, was mein Denken veränderte.

Weil ich zu den meisten Ereignissen in meinem Leben anhand von Kindern und Büchern zurückrechne, weiß ich genau, wann das war. Es war bei den Vorarbeiten zu meinem Buch Ett brustet Halleluja (»Ein gebrochenes Halleluja«), das 2009 erschien. Ich saß damals oft in der Göteborger Stadtbibliothek, und an dem Tag, an dem es geschah, war ich gerade dabei, ein Kapitel zu schreiben, in dem es um den »Ton« eines Menschen gehen sollte. Nicht um das, was er sagt, sondern um das, was wir anderen hören, was um diesen Menschen herum »tönt«.

Ich las über das Verhältnis von (leerem) Raum und Klang und landete – ich kann gar nicht mehr sagen, wie genau – bei einem musikwissenschaftlichen Buch, nach dem ich im Leben nicht gesucht hätte. Aber da ich dem Zufall nun mal misstraue, gehe ich davon aus, es war nicht ohne Bedeutung, dass ich mich auf die große Treppe setzte und ein bisschen zerstreut in Ton och tystnad (»Ton und Stille«) von Per-Anders Hellqvist blätterte und dort auf ein kurzes Zitat stieß, das meinen Blick auf die Stille veränderte.

Ich hatte mich gegen diesen Blick gewehrt, mir eingeredet, dass ich nun mal ein geselliger Mensch sei, der die Heute glaube ich: Wenn irgendjemand Stille nötig hat, dann sind es die geselligen Typen. •

Energie und die wegweisenden Ideen, die er braucht, im Austausch mit anderen und im Gespräch bekommt. Stille und Schweigen waren etwas für Menschen, die anders ticken als ich. Das glaube ich jetzt nicht mehr. Heute glaube ich: Wenn irgendjemand Stille nötig hat, dann sind es die geselligen Typen.

Jetzt aber zum Zitat von Per-Anders Hellqvist: »Die Stille ist keine [akustische] Nulllinie. Sie ist inhaltsreich. Es ist, als würde eine dicke Wolldecke von unserer akustischen Umwelt genommen: Wir werden uns des Ungeahnten bewusst, der Reiche und Gebiete, die sich darunter befinden, so wie der Taucher den Wundern des Meeresbodens begegnet.«

Hellqvists Bild scheint wie einem Reisekatalog der Seelenreisen GmbH entnommen. Ich glaube, ich habe den kurzen Text hundertmal gelesen, ihn in unzähligen Zusammenhängen zitiert, und immer noch übt er einen gewissen Sog auf mich aus, den ich nicht richtig erklären kann. Vielleicht bin ich einfach einer von denen, die sich intuitiv in »Unterwasserseminaren« zum Geheimnis des Meeresbodens selbst erkennen.

Das Bild macht Lust auf mehr. Die Stille ist nicht wie ein leerer, kalter Raum, in dem ich sitzen und ein besserer Mensch werden soll. Sie ist eher wie das Eintauchen in ein Element, in dem es von Leben wimmelt, von Vielfalt und Schönheit. Es geht darum, unter die Oberfläche unseres Daseins zu gelangen. Einzutauchen in die große, sich weit ausstreckende Stille kann in uns schlummernde Erinnerungen wecken, uns öffnen für die Möglichkeit, dass wir eine

Goldader entdecken, die durch unser Leben verläuft, die Möglichkeit, dass in uns etwas Großes ruht, etwas, das ohne die Stille nicht zum Leben erweckt würde. Man muss es aber wagen einzutauchen. Die Herausforderung besteht darin, die Füße von der scheinbar sicheren Brücke zu lösen und durch die (Wasser-)Oberfläche hindurchzuspringen, hinab in die andere Welt, die dort auf uns wartet.

Dieser Text meinte mich, damals und auch heute noch. Ich begriff, was mir fehlte. Dass ich, ein Mann etwas jenseits der Lebensmitte, des Geschnatters müde, mich nach einem geheimen Ort sehnte, irgendwo tief drinnen in dem Leben, das ich liebte, das aber auch akustisch überfrachtet war. Ich begann zu ahnen, dass es einen Unterschied zwischen Stille und Leere gibt. Dass in der Stille eine Fülle zu finden ist, die das Leben mit einer neuen Qualität aufladen kann. Ich fing an zu begreifen, dass in der Stille eine Energie steckt, die das ganze übrige Leben mit Sauerstoff versorgen kann. Niemand muss mich darüber aufklären, dass es auch eine Stille gibt, die nur sehr schwer zu ertragen ist, die alles andere ist als eine korallenreiche Unterwasserwelt. Eine Stille, die vertuscht und erstickt. Die Verweigerung von Kommunikation, das strafende Schweigen.

Ich begann zu ahnen, dass es einen Unterschied zwischen Stille und Leere gibt. •

Es braucht mir auch keiner zu erzählen, dass die Stille manchmal schmerzhafte Erinnerungen wecken kann. Erinnerungen an Dinge, die wir lieber nie erlebt hätten, und an

Menschen, mit denen wir uns hätten aussprechen sollen –was wir aber nie getan haben. Erinnerungen an Stimmen, die zu früh erstickt wurden, und Lieder, die ungesungen blieben. Und dennoch möchte ich mit einer an Beschränktheit grenzenden Starrköpfigkeit wiederholen, dass die Stille heilsam und heilvoll und einfach ganz, ganz wunderbar sein kann.

Ich schreibe dieses Buch aus meiner eigenen Sehnsucht heraus, aber auch als eine Art Tagebuch, das von einer Fährte erzählt, der ich in den letzten gut zehn Jahren gefolgt bin und die mich in eine Landschaft geführt hat, von der ich wünschte, ich hätte sie schon entdeckt, als ich noch jung war. Eine Art Reisebericht, könnte man vielleicht sagen. Vielleicht hätte ich einige klügere Entscheidungen gefällt, wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß? Vielleicht hätte ich mir einige Schmerzen erspart. Oder anderen Menschen Schmerzen erspart. Aber das ist jetzt nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist die Einsicht, dass es nie zu spät ist und dass der Weg zur »Vertäuung in der Stille« nicht weit ist. Er verläuft vor meiner Tür.

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