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Die Person Josef, der Sohn Jakobs aus der Erzvätergeschichte (Gen 37–50), beschäftigte mich viele Jahre meines Lebens und ich kann guten Gewissens sagen, dass seine Biografie mit meiner eigenen verwoben ist. Ähnlich wie Josef hatte auch ich viele Geschwister und musste mich in einer Großfamilie zurechtfinden. Man kann keinesfalls sagen, dass ich eine Art Liebling meines Vaters war, so wie Josef, doch sagten meine Eltern häufig zu mir, dass ich eine Art Musterknabe sei, und daher trat ich ein wenig unter meinen Geschwistern hervor.

Auch wurde ich sicherlich nicht von meinen Brüdern verraten, wie Josef von seinen Brüdern, doch wenn es um mein Verhältnis zu ihnen ging, habe ich mich immer wieder mit Josef identifizieren können. Ich war das fünfte von elf Kindern und komme aus ärmlichen Verhältnissen. Meine Eltern waren selten zu Hause, da sie viel arbeiten mussten, um uns zu versorgen. Zudem opferte sich mein Vater als ehrenamtlicher Pastor sehr für seine Kirchengemeinde auf. Raufereien, körperliche Verletzungen und unfaires Behandeln waren bei uns häufig an der Tagesordnung. Meine Geschwister haben mir oft Unrecht getan, aber auch ich habe mich vielfach unangemessen ihnen gegenüber verhalten.

Ich musste jedenfalls früh lernen, mich zu behaupten und mich gegen meine Geschwister durchzusetzen. Wir haben miteinander gelernt, Grenzerfahrungen zu machen. Für mich sind diese Erfahrungen wichtige Lektionen, die mir in meinem späteren Leben halfen, mich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Sie halfen mir, zu mir selbst und meinem Glauben zu stehen, aber auch, die Bedürfnisse der anderen wahrzunehmen und auf sie einzugehen. Auch darin ähnelte ich Josef. Er machte einige Wachstumsschritte aufgrund der Konflikte mit seinen Brüdern. Zum Aufwachsen in einer Großfamilie gehört es dazu, dass man Rangkämpfen mit den Geschwistern ausgesetzt ist, Enttäuschungen erlebt, aber sich auch wieder versöhnt. Dies verband mich besonders mit Josef und war einer der Hauptgründe, warum ich häufig an ihn dachte.

Doch auch wenn ich von meiner persönlichen Biografie und meiner Identifikation mit ihm absehe, bleibe ich beeindruckt von seiner Geschichte. Sein Umgang mit den Herausforderungen, vor denen er stand, ist inspirierend. Trotz der ausweglosen Situationen, in die er hineinmanövriert wurde, ließ er sich von den Umständen nicht überwältigen, sondern hat stets versucht, das Beste aus ihnen zu machen. Er gab den Glauben an die Verheißungen Gottes nicht auf und stand immer zu seinem Überzeugungen und sich selbst.

Josefs Geschichte ist im Grunde eine Aufstiegs- oder Entwicklungsgeschichte. Die moderne Pädagogik hat größtenteils nachgewiesen, dass der Mensch selbst aktiv zu seiner Entwicklung beitragen kann. Der Mensch konstruiert sozusagen eigenständig seine eigene Entwicklung und Biografie. Natürlich tragen auch externe Faktoren wie das Elternhaus, Verwandtschaft, Freunde, Schule, Medien oder die Kirche maßgeblich zur persönlichen Entwicklung bei. Der Mensch wird durch diese Instanzen quasi sozialisiert. Doch schreiben die Prägungen, die man durch diese Instanzen erhalten hat, nicht das Schicksal der eigenen Persönlichkeit fest. Zahlreiche Menschen meinen, ihre Biografie auf ihr Elternhaus zurückführen zu können, allerdings gibt es immer wieder Beispiele, die solch eine Denkweise zweifelhaft erscheinen lassen. Geschwister aus demselben Elternhaus und mit sehr ähnlichen genetischen Gegebenheiten können sich im Laufe ihres Lebens ganz unterschiedlich entwickeln. Daher müssen wir davon ausgehen, dass Menschen eine gewisse Freiheit haben, ihre eigene Entwicklung aktiv zu steuern. Josef ist dafür ein positives Beispiel. Wir werden noch sehen, wie anders als seine Brüder er sich entwickelt hat – aufgrund seiner persönlichen Entscheidungen. Er hat auf seine Umwelt stets aktiv eingewirkt und sich nicht allein vor ihr bestimmen lassen.

Josefs Geschichte ist auch eine urmenschliche Erzählung, die zu keiner Zeit an Aktualität eingebüßt hat und bis in die Gegenwart Menschen fasziniert. Was sind die Gründe für ihre Anziehungskraft? Sicherlich fällt den meisten auf, dass uns einige Elemente der

| Teil 1: Josef

Geschichte auf gewisse Art vertraut sind. Da ist das eine Kind, das vom Vater mehr geliebt wird als die anderen Kinder. Einer glaubt, zu Größerem bestimmt zu sein. Dem Leser begegnet ein Konflikt unter Geschwistern, der in blanken Hass mündet, und in dem die Geschwister diesen einen Bruder um jeden Preis loswerden wollen. Es wird von einer nicht erwiderten Liebe berichtet. Beim Lesen begegnen uns also soziale Konflikte sowie tiefe Krisen, ein Neuanfang in der Fremde und der Wiederaufstieg nach einem tiefen Fall. Die Grundmotive dieser Erzählung ereignen sich täglich in vielen Leben und Menschen müssen mit ihnen umgehen. Die Gestalt Josef ist daher mir und vielen anderen Menschen vertraut und sie hat sich in einigen Biografien als wertvolles Vorbild erwiesen.

Des Weiteren meine ich, in Josefs Biografie klare Entwicklungsphasen ausgemacht zu haben, die nicht nur bei ihm zu beobachten sind, sondern ebenso im Leben einer jeden Führungskraft und eines jeden Menschen, der bewusst an seiner Entwicklung arbeitet. Diese Phasen der Entwicklung begegnen nur denjenigen, die den Fortschritt in der eigenen Entwicklung suchen. Bei Menschen, die Stabilität und Sicherheit suchen, sind diesen Phasen meist nicht anzutreffen. Dazu äußere ich mich aber später nochmals.

Aus diesen Gründen habe ich Josefs Geschichte für die Darstellung der fünf Entwicklungsphasen eines Leiters herangezogen. Zunächst will ich allerdings in einem einleitenden Kapitel auf das Wesen der fünf Phasen eingehen, bevor ich sie anhand der Josefsgeschichte im Einzelnen näher erläutere.

1 Die fünf wiederkehrenden Phasen der Entwicklung

Die pädagogische Forschung hat belegt, dass die menschliche Entwicklung in Phasen bzw. in Stufen stattfindet. Dies bedeutet, dass einzelne Entwicklungsphasen deutlich voneinander unterschieden werden können. Auch wenn es einem anders anmuten mag: Die menschliche Entwicklung ist keine kontinuierlich fortschreitende Bewegung. Sie geht nicht permanent geradlinig nach oben. In gewissen Abschnitten im Leben eines Menschen schreitet seine Entwicklung nur langsam oder gar nicht fort, während sie in anderen schnell vonstatten geht. Häufig werden Tiefphasen als Stagnation oder Rückschläge gewertet, obwohl gerade diese für die Weiterentwicklung unentbehrlich sind. In meiner Dienstzeit als Pastor, Lehrer und Mentor habe ich solche Phasen in der Entwicklung von Leitern beobachtet. Ich erhebe keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, doch werden sich wohl die meisten in den von mir beschriebenen Phasen wiederfinden können. Ich bin der Überzeugung, dass der Leiter in seiner Laufbahn fünf immer wiederkehrende Phasen durchläuft, die sich in ihrer Reihenfolge wiederholen, sobald sie abgeschlossen sind. Diese Phasen lassen sich womöglich in noch kleinere Abschnitte unterteilen, doch der Einfachheit halber will ich es bei dieser Aufteilung belassen.

Mein Entwicklungsmodell wird dem einen oder anderen vertraut sein, da es eigentlich nicht neu ist. Ich wurde unter anderem von dem amerikanischen Entwicklungspsychologen Robert Kegan inspiriert, der im Anschluss an Jean Piaget und Lawrence Kohlberg erklärt, „wie wir zu dem werden, was wir sind“. Ähnlich wie Kegan gehe ich von einer Weiterentwicklung des Menschen in seiner Biografie aus,

Abb. 1: Die fünf Phasen der Entwicklung

Die einzelnen Phasen können als eine Art langsamer Anstieg in der Weiterentwicklung des Menschen verstanden werden. Abb. 1 ist daher die Betrachtung einer „Entwicklungsspirale“ aus der Vogelperspektive.

Diese Entwicklungsspirale stellt die Entwicklung des Menschen mit ihren Höhen und Tiefen dar. Damit eine Weiterentwicklung stattfinden kann, ist es notwendig, dass der Mensch alle Phasen durchläuft und abschließt. Diese Phasen bedingen einander sozusagen. Jede dieser Phasen stellt eine Vorbereitung auf die nächste Phase dar. In jeder Phase steht man daher in der Gefahr, die eigene Entwicklung auszubremsen bzw. abzubrechen und von Neuem mit der ersten Phase zu beginnen. So bleiben manche z. B. in der Phase der Inspiration stecken, da sie nur

Die fünf wiederkehrenden Phasen der Entwicklung | 17 obgleich ich betonen muss, dass meine Gedanken nicht ansatzweise vergleichbar mit den sehr komplexen Studien Kegans sind. Meine Gedanken beruhen zunächst nicht auf statistischen Studien, sondern ich versuche, Erkenntnisse der Forschung und die kirchliche Praxis miteinander zu verbinden.

Besonders die Phase der Feuerprobe wird als sehr mühselig erlebt und daher nur ungern gemeistert. Doch wie wir noch sehen werden, ist gerade diese Phase besonders bedeutsam für die Weiterentwicklung.

Abb. 2: Zeitliche Abfolge

Die Phase der Beförderung birgt die Gefahr, sich auf dem Zenit des Erfolges auszuruhen. Dies hat den Verlust der bisherigen Erfolge z ur Konsequenz. Der Übergang in die nächste Phase ist also immer ein Loslassen des Alten und Bekannten und ein Wagen des Neuen und Unbekannten. Nach meiner Erfahrung dauert es etwa sieben Jahre, bis alle fünf Phasen durchlaufen sind und die Schleife damit von vorne beginnt. Dies ist meine eigene Beobachtung und natürlich stellt diese Zahl nur einen Mittelwert dar. Im Einzelfall kann das Durchschreiten aller fünf Phasen wesentlich länger oder auch wesentlich kürzer dauern. Um die einzelnen Phasen nicht zu sehr in die Länge zu ziehen, ist es sinnvoll, wesentliche Entscheidungen möglichst für einen begrenzten Zeitraum zu treffen. Dies betrifft in erster Linie Entscheidungen des Arbeits- und Dienstlebens, weniger des Privatlebens.

Beim Durchschreiten jeder Phase hilft das berühmte Zitat des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“

Man muss eine Phase erst hinter sich gebracht haben, um zu verstehen, dass sie hilfreich und sinnvoll war. Manches Mal ist man auch erst sehr spät in der Lage, die vergangenen Ereignisse richtig zu interpretieren.

18 | Teil 1: Josef träumen, jedoch nie versuchen, ihre Träume wahr werden zu lassen.

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