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Roseanna M. White Unser Leben in den Gezeiten

Deutsch von Dorothee Dziewas

Copyright 2023 by Roseanna M. White

Originally published in English under the title Yesterday’s Tides by Bethany House Publishers, a division of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.

All rights reserved.

© 2024 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Lektorat: Alexandra Eryiğit-Klos

Umschlagfoto: © Ildiko Neer / Trevillion Images (Frau), Umschlaggestaltung: Dan Thornberg, Design Source Creative Services; Daniela Sprenger

Druck: Finidr, Tschechien

ISBN Buch 978-3-7655-2187-4

ISBN E-Book 978-3-7655-7857-1

www.brunnen-verlag.de

Für Tante Pam, die Ocracoke schon viel früher entdeckt hat als ich.

Heute

11. Mai 1942

Ocracoke Island, North Carolina

Das erste Licht des Sonnenaufgangs verwandelte das Wasser des Pamlico-Sunds in Gold, die Wolken in rosa Watte und die Dunkelheit in einen Morgen, der Evie Farrow versprach, dass der heutige Tag genauso werden würde wie der gestrige. Und wie der morgige. Genau wie jeder andere Tag auf der winzigen Insel in den Outer Banks von North Carolina. Sie konnte dagegen ankämpfen oder es einfach akzeptieren. Aber es wurde schon genügend gekämpft auf der Welt und Evie hatte immer friedliche Lösungen bevorzugt. Also atmete sie tief ihren Lieblingsduft ein – Hefe, Zucker und Zimt – und legte die noch leicht warmen süßen Brötchen in ihren Korb. Einen Moment lang blieb sie stehen und starrte zum Küchenfenster hinaus, von dem aus man die Meerenge sehen konnte – ein Anblick, der sie immer wieder beruhigte. Später würde sie am Ufer entlanggehen. Vielleicht sogar die Bucht einmal umrunden bis zu der Stelle, an der sich der Atlantik mit stärkeren Wellen und Strömungen zu seiner zahmeren Schwester gesellte. Sie würde den üblichen Weg nehmen. Sie würde Muscheln und Strandglas sammeln. Und sie würde für alle beten, die sie besonders liebte.

Zu viele von ihnen waren jetzt auf der anderen Seite des Ozeans. Zu

viele von ihnen waren in den Krieg verwickelt, der das Meer zu einem Überbringer von Feinden anstatt von Freunden machte. Andererseits war dieses Gewässer immer launisch gewesen. Es nahm so oft, wie es gab. Aber Evie liebte es trotzdem.

Eine Hand berührte leicht ihren Arm. Evie fuhr herum und lächelte

Grandma Si an, die ihr einen Becher mit dampfendem Kaffee entgegenstreckte. Evie berührte mit den Fingerspitzen ihr Kinn und bewegte ihre Hand dann von sich fort – dies war das zweite Zeichen der Gebärdensprache, das sie damals gelernt hatte. Danke. Dann schob sie die Finger in den vertrauten Henkel, hob den Becher an und nahm einen Schluck, um sich zu stärken.

Grandma Si lächelte ebenfalls und wedelte mir ihrer Hand. Es war ihr üblicher Morgengruß: Zeit, mit der Sonne um die Wette zu laufen.

Evie lachte und beugte sich vor, um einen Kuss auf die vertraute federweiche Wange zu drücken. „Ich gehe ja schon.“ Diese Worte brauchte sie nicht in Gebärdensprache auszudrücken – obwohl Grandma Si sie nicht hörte, konnte sie das Gesagte an Evies Lippen ablesen, und außerdem erwartete sie auch genau diese Reaktion. Es war ihr tägliches Skript.

Evie hängte sich den Korb über den Arm und trat in den Frühlingsmorgen hinaus. Genauso wie sie es gestern getan hatte und genauso wie sie es morgen tun würde. Sie ging den vertrauten Weg zur Station der Küstenwache hinunter, so wie sie es jeden Morgen in den letzten sechs Jahren getan hatte. Und wie sie es wahrscheinlich weitere sechs, weitere zehn Jahre tun würde.

Bis in alle Ewigkeit.

Evie holte tief Luft und rief sich, wieder einmal, ins Gedächtnis, dass dies ihre eigene Entscheidung gewesen war. Sie hatte sich entschieden, auf der Insel Ocracoke nicht nur halb, sondern ganz zu Hause zu sein. Sie hatte sich dazu entschieden, ihre anderen Beziehungen auf Besuche und Urlaube zu beschränken.

Warum also hatte sie dann in letzter Zeit das Gefühl, so viel zu vermissen?

Was für eine dumme Frage! Wie sollte es anders sein? Der größte Teil ihres Herzens war einen Ozean weit entfernt.

„Guten Morgen, Miss Evie.“ Evie ließ den Blick weiter schweifen, bis hin zu der Stelle, an der ihre nächste Nachbarin auf ihrer Veranda stand, selbst einen Becher Kaffee in der Hand. Evie runzelte die Stirn. So früh war Miss Marge sonst nicht draußen. „Morgen, Miss Marge. Wie haben Sie geschlafen? Macht der Rücken Ihnen noch zu schaffen?“

Schon bei der Erwähnung rieb sich die alte Frau den unteren Rücken und stieß einen Seufzer aus, den vermutlich selbst die Tauben auf den neu gezogenen Stromleitungen hörten. „Ach, ich habe aufgegeben –mit mir ist nicht mehr viel los. Ich dachte, ich setze mich ein bisschen hier auf die Veranda und lege mich dann aufs Sofa. Haben Sie den Lärm letzte Nacht gehört?“

Evie verlangsamte ihre Schritte nicht, aber sie änderte ihre Richtung und ging auf die Verandatreppe zu, während sie den Kaffee auf ihren bereits beladenen Arm verlagerte, um eine Hand frei zu haben. Seit Mr Mack letztes Jahr gestorben war, hörte Miss Marge immerzu Geräusche und sie weigerte sich zu glauben, dass sie allesamt von der Kolonie wilder Katzen in der Nähe stammten. „Nichts Ungewöhnliches.“ Evie griff in den Korb und zog eines der Zimtbrötchen heraus, bestrichen mit klebrigem Zuckerguss.

Dieser Zuckerguss an ihren Fingern war etwas, das sich tatsächlich ändern würde, und zwar schon bald. Im Radiobericht am Abend zuvor war verkündet worden, dass sie Zucker bald rationieren würden. Was sollte Evie den Jungs auf der Wache dann bringen? Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen. Oder ihnen stattdessen etwas Herzhaftes backen. Von den Hühnern und Schweinen auf der Insel hatte sie reichlich Eier und Speck. Und in ihrem Garten würde sie bald Gemüse ernten können. Evies Mundwinkel zuckten, als sie sich vorstellte, was die Männer sagen würden, wenn sie mit einer herrlichen französischen Quiche erschien anstatt mit Kuchen.

„Hier, Miss Marge. Etwas, das Sie zu Ihrem Kaffee genießen können.“ Lächelnd übergab sie das süße Brötchen.

Miss Marges Augen leuchteten auf und Evie schalt sich, weil sie seit ihrem letzten, mit Gebäck beladenen Besuch drei Tage hatte verstreichen lassen. Die alte Dame war nicht mehr so gut zu Fuß, als dass sie lange in der Küche hätte stehen können. „Oh, vielen Dank, meine liebe Evie. Ihr Damen von der Pension seid die besten Bäckerinnen auf der Insel.“ Sie schloss die Augen und hielt sich das Brötchen unter die Nase, um den Duft tief einzuatmen. Dann schlug sie die Lider wieder auf und ihre trüben Augen waren voller Besorgnis. „Aber passen Sie auf sich auf, hier ganz allein auf dem Weg. Unter den Bäumen ist es noch nicht mal richtig hell und in diesen Wäldern gibt es Deutsche. Ein hübsches junges Ding wie Sie kann gar nicht vorsichtig genug sein.“

Evie runzelte die Stirn und streckte die Hand aus, um eine fedrige graue Locke, die entwischt war, wieder unter das Kopftuch ihrer betagten Nachbarin zu schieben. Letzten Monat war angeblich ein entlaufener Rotluchs durch den Wald gestreift, der von … irgendwoher zur Insel geschwommen war, wie man vermutete.

Es hatte keinen Sinn, Miss Marge zu widersprechen – oder ihr zu erklären, dass es hier unmöglich Deutsche geben konnte. Es hatte keinen Sinn, sie daran zu erinnern, dass Ocracoke wahrscheinlich der sicherste Ort der Welt war – und dass Evie nun wirklich kein „junges Ding“ mehr war. Auch wenn es noch drei Jahre dauerte, bis sie 30 wurde, hatte sie genug gelebt, um sich so uralt vorzukommen wie die Lebenseiche an der Ecke, die sich knorrig in den Himmel reckte.

Unsinnig, etwas von alldem zu sagen. Aber Evie würde ein zusätzliches Gebet für die liebe Marge sprechen, wenn sie weiterging. „Ich werde vorsichtig sein. Und später komme ich noch mal vorbei, ja? Versuchen Sie, nach dem Frühstück noch ein bisschen zu schlafen.“

Miss Marge nickte ihr zu. Zufrieden stieg Evie von der Veranda und kehrte auf die Straße zurück, wo sie ihre Schritte jetzt beschleunigte, um den Umweg wiedergutzumachen. Sie versuchte immer, zum Schichtwechsel bei der Küstenwache einzutreffen, damit beide Mannschaften da waren.

Ein Summen stieg in ihrer Kehle auf, während sie lief: Sunrise Sere-

nade schien eine passende musikalische Untermalung, jetzt, wo das Tageslicht etwas heller geworden war. Evie begrüßte noch ein paar andere Frühaufsteher mit ihrem Kaffeebecher, wobei die Grüße, die sie sonst immer später am Tag riefen, aus Rücksicht auf die Langschläfer um sie herum noch ausblieben. Ein paar Fischer, die spät dran waren, eilten zum Hafen, der Silver Lake umkränzte. Einige Hausfrauen streuten ihren Hühnern Futter hin. Aber im Großen und Ganzen konnte Evie ihren Spaziergang allein für sich genießen.

Die heutige To-do-Liste wollte sich in ihre Gedanken drängen – all die Dinge, die Evie für die Pension erledigen musste: die Reservierungen überprüfen, Erinnerungen verschicken, vielleicht ein paar Anzeigen in Zeitschriften auf dem Festland schalten, um mehr Gäste zu bekommen, so wie Stanley Wahab es für sein neues Hotel tat. Dann musste sie noch weitere Beutel mit Yaupon-Tee füllen, damit die beiden Gäste, die heute abreisten, sie mit nach Hause nehmen konnten. Anschließend noch die Mansarde für die Jägergruppe nächste Woche lüften – wenn sie denn kam. Hoffentlich würde es danach noch reichen, um etwas Zeit in ihrem Atelier zu verbringen.

Aber all diese Gedanken konnten warten. Jetzt wollte sie die Zeit für ihre geliebten stillen Morgengebete nutzen. Das Singen der Vögel genießen, das beständige Klatschen der Wellen ans Ufer. Das … entfernte Donnergrollen?

Evie blieb stehen und blickte zum Horizont, aber sie konnte nur vereinzelte weiße Wolken entdecken, so weit sie sehen konnte. Das bedeutete natürlich nicht, dass hinter dem Horizont nicht doch ein Unwetter lauerte, aber die Meteorologen hatten heute einen wolkenlosen Himmel vorhergesagt. Und das bedeutete, dass es sich vielleicht nicht um Donner handelte. Es konnte etwas weitaus Ernsteres sein – etwas, das plötzlich immer vertrauter wurde.

Während ihre Gebete sich überschlugen, fiel Evie von ihrem gemütlichen Tempo in einen Laufschritt. Der feste Untergrund der Straße, auf dem sie rannte, verwandelte sich bald in losen Sand und wenige Minuten später eilte sie die wettergegerbte Holztreppe hinauf und in

die Station der Küstenwache. Sie stellte ihren jetzt leeren Becher auf das Geländer der Veranda und blieb keuchend im Inneren der Wache stehen, wo sie die Männer wie erwartet in wohlgeordneter Geschäftigkeit vorfand.

Evie berührte einen der Beamten am Arm. „Herb! War das eine Explosion?“

„Hi, Evie.“ Anstatt stehen zu bleiben, nahm Herbert O’Neal sie an der Hand und zog sie hinter sich her. „Muss wohl. Torpedo Junction macht seinem Namen alle Ehre. Wir bereiten uns auf einen Such- und Rettungseinsatz vor.“

Evies Magen zog sich zu einem festen Knoten zusammen. Sie schluckte die Worte hinunter, die ihr in den Sinn kamen – Seid vorsichtig! Da draußen sind deutsche U-Boote unterwegs! Diese Worte waren überflüssig und wenn Evie sie ausspräche, würde sie wie Miss Marge klingen. Diese Männer waren dazu ausgebildet, vorsichtig zu sein … und sie wussten genau, dass diese U-Boote auf den Schifffahrtswegen hier verheerende Schäden anrichteten. In letzter Zeit schienen die Inselbewohner mindestens einmal die Woche diese Art von Donnern zu hören und manchmal sahen sie auch Rauchschwaden vom Meer aufsteigen.

Wer war diesmal gestorben? War das Schiff verloren? Eines von ihren? Oder hatte eines der Schiffe, die England geschickt hatte, um Amerika beim Schutz seiner verletzlichen Ostküste zu helfen, diesmal einen Schlag gegen die Krautfresser gelandet?

Und wie viele Crewmitglieder würden von diesem Einsatz zurückkehren? Bis jetzt hatten die U-Boote die Schiffe der Küstenwache nicht angegriffen, aber konnte man wirklich davon ausgehen, dass sie es niemals tun würden? Die Arbeit dieser Männer war schon in besseren Zeiten gefährlich. Das wusste niemand besser als Evie.

Und in diesen Zeiten …

Herb warf einen interessierten Blick auf Evies Korb, also hob sie den Deckel an, damit er ein Brötchen stibitzen konnte. Er gehörte zur Tagschicht, also würde er auf dem Boot sein, das in See stach, um die

Explosion zu untersuchen. Das hieß, er konnte gut eine Stärkung gebrauchen.

Sie zwang sich, nicht Pass auf dich auf! zu sagen. Aber sie lächelte tapfer und sagte: „Geh mit Gott, Herb.“

Er nickte. „Immer. Und du bete, Mädchen.“

„Immer.“ Auch wenn es nicht zu helfen schien. Gott war immer bei diesen Männern, das wusste sie – aber er brachte sie nicht immer heil nach Hause. Manchmal holte er sie stattdessen heim zu sich.

Evie versuchte, daran zu denken, dass es für sie besser war. Dass ihr Tod einen Sinn hatte. Sie versuchte, sich an die Stimme ihrer Urgroßmutter zu erinnern, die mit den Perlen in der Hand ihre eigenen Gebete geflüstert und Evie versichert hatte, dass der Tod nur ein Schleier zwischen Himmel und Erde war. Ein Vorhang. Ganz dünn und zart. Nichts, was man fürchten musste, denn das Leben danach war genauso echt wie das Leben jetzt – noch echter sogar.

Es gab Zeiten, in denen war es einfacher, sich an diese Worte zu klammern. Heute wollte sie einfach Gewissheit haben, dass all diese Männer, die für sie Freunde und Brüder und Väter und Großväter waren, morgen immer noch hier sein und lautstark nach ihrem Frühstück verlangen würden.

Sie schob ihren Korb wie sonst auch auf den Tisch und trat dann zurück, als die Horde hungriger Küstenwächter sich darüber hermachte. Alle murmelten mit vollem Mund ihren Dank, bevor sie sich wieder an ihre jeweiligen Arbeiten begaben.

Evie wanderte zum diensthabenden Beamten hinüber, der mit silbernem Haar und stets kerzengeradem Rücken durch sein erhobenes Fernglas aus dem großen Fenster blickte. „Irgendeine Ahnung, was da los ist, Liam?“

Der Erste Offizier Liam Bryan sah nicht zu ihr. „Morgen, Evie. Schwer zu sagen.“ Als sie seufzte, ließ er das Fernglas sinken und stimmte in ihren Seufzer ein. „Wir haben keine Notrufe empfangen. Es muss zu schnell gegangen sein. Diese verfluchten U-Boote.“

Evie kreuzte die Arme vor ihrem Bauch und hielt sich die Ellbogen

mit den Händen. Die Wärme ihrer Handfläche zu spüren, die eben noch den heißen Kaffeebecher gehalten hatte, machte ihr noch mal mehr bewusst, welch kaltes Wasser auf jeden wartete, der über Bord ging. Zwar nicht so eiskalt wie im Winter, aber eindeutig nicht mehr spätsommerwarm. „Wenn ich irgendwas tun kann, sagt Bescheid.“

Liam warf ihr ein schiefes Grinsen zu. „Na klar. Du hast einflussreiche Freunde, oder? Frag sie mal, ob sie Hitler in seine Schranken verweisen können.“

Evie prustete und ließ die Hände sinken. „Mensch, warum ist mir das nicht eingefallen?“

„Du warst schon immer ein gedankenloses kleines Ding.“ Er fügte ein Zwinkern hinzu und streckte die Hand aus, um ihr die Nase langzuziehen, wie er es tat, seit sie ein Kleinkind gewesen war. „Ich werde nie vergessen, wie deine Mama dich das erste Mal hierher mitgebracht hat. Dein Bruder war ja schon leicht zu begeistern, aber du … Du bist einfach auf Johnsons Schoß geklettert und hast dich an ihn gekuschelt, als wäre er kein Angst einflößender Bär, der uns alle im Griff hatte.“

Evies Mundwinkel wanderten nach oben. „Höchstens ein Teddybär.“

„Bei dir vielleicht.“ Liam lachte und schüttelte den Kopf, bevor er wieder seufzte. „Im Moment wünsche ich mir diese Tage zurück. Als wir uns nur über das Wetter und die Strömung und die Fischschwärme Gedanken machen mussten. Hin und wieder über kleinere Unfälle.

Aber nicht das hier.“

Damals war auch Krieg gewesen. Aber der hatte sie hier auf Ocracoke nicht betroffen, so wie es diesmal der Fall war. Jedenfalls die meisten von ihnen nicht.

Evie fröstelte. Nicht jeder Inselbewohner war dem Großen Krieg heil entronnen. Sie selbst war zu jung, als dass sie sich an viel erinnern würde, aber die Geschichten spukten noch immer in der Pension herum wie der angebliche Geist der Howard Street bei den Howards.

Sie trat einen Schritt zurück. „Ich lasse euch jetzt besser in Ruhe und geh zur Pension zurück. Die Gäste werden bald aufstehen und ihr Frühstück wollen.“

Liam nickte. „Gestern Abend nach der Ankündigung der Rationierung haben wir uns miteinander besprochen. Die meisten von uns haben kaum Verwendung für die Zuckerrationen. Da geben wir sie lieber dir, damit du sie in Form von Gebäck zurückbringst.“

„Ach tatsächlich?“ Evie grinste ihn an und salutierte dann in vollendeter Form. „Dann haben wir eine Abmachung, Sir.“

Als sie eine Minute später ihren Kaffeebecher wieder vom Geländer nahm, jetzt mit einem leeren Korb am Arm, war es bereits hell, das magische Gold der Dämmerung verblasst. Jeden Tag staunte Evie darüber, wie schnell das normale Licht des Tages Regenbogen- und Feuertöne am Horizont vertrieb.

Noch eine Metapher für das Leben, oder? Evie hatte auch ihren Feuer-und-Gold-Moment gehabt, aber das war lange her. Jetzt war Tag. Ein Inseltag mit Wolken und Sonne – und schließlich mit Dämmerung und Nacht. Nichts Ungewöhnliches, so prächtig der Tagesanbruch auch angemutet hatte.

Das war in Ordnung. Mehr als in Ordnung – es war das, wofür sie sich entschieden hatte. Ein ganz normales Leben. Ein Inselleben. Ein Leben, in dem Evie für ihre Nachbarn und ihre Familie so hell leuchten würde, wie sie nur konnte. Sie würde ihre Muscheln und ihr Strandglas sammeln. Und ihre Gebete würden diese Meerschätze dabei in einzigartige Dekoration und Schmuck verwandeln. Sie würde ihr Bestes geben, um den Menschen um sich herum das Leben ein bisschen zu versüßen. Sie würde leben – bis sie es irgendwann nicht mehr tat.

Evie berührte mit einer Hand die Halskette, die sie immer trug. Das blaugrüne Glas, die silbernen Wirbel, den Kreis aus Weißgold. Die Erinnerung an ihren Feuerschein. An ihr Gestern.

Als sie wenige Minuten später wieder in den Weg zum Ocracoke Inn einbog, legte sich ein Schatten über sie und sie spürte einen Druck auf ihrer Brust, so schwer, dass Evie stehen blieb. Sie ließ den Blick umherschweifen, um zu sehen, was den Schatten geworfen hatte, aber sie konnte weder eine Wolke noch einen Baum ausmachen.

Es war nichts Physisches.

Evie hatte Mühe, ihre Lunge mit Luft zu füllen, und rieb mit einer Hand über ihren Brustkorb, während sie den Blick ins Leere gleiten ließ. Es war Jahre her – Jahre –, seit sie dieses Gefühl gehabt hatte, jedenfalls in solch einer intensiven Form. Diese Dringlichkeit, diese Dunkelheit. Diese Warnung! Als Kind hatte sie es oft erlebt, aber mit zunehmendem Alter und den Zweifeln und der Vernunft, die damit einhergingen, war es seltener geworden. Schwächer.

Evie kniff die Augen zusammen. Mehr war nicht nötig, um sie wieder in die Arme ihrer Urgroßmutter zu versetzen und ihre geflüsterten Gebete zu hören, in denen sie um Bewahrung für Evie bat. Um die Sorge in Mamas Augen zu sehen, während Evie wegen etwas weinte, das niemand sonst sehen konnte. Um die warme Geborgenheit zu spüren, während sich die Hand ihres Bruders um ihre legte.

„Herr Jesus …“ Ein Aufschrei, ein Ruf, der auf ihren Lippen verharrte – eine ganze Weile konnte sie nichts Weiteres sagen. Dann brachte sie heraus: „Was willst du mir sagen?“

Sie öffnete die Augen wieder und fuhr herum. Die Veranda bei Miss Marge war verlassen, genau wie die Stromleitung über ihr. Keine Menschen, keine Tauben, nicht einmal eine wilde Katze, die etwas von ihr erbettelte. Es gab nur die Lebenseichen, die knarrenden Zedern und die wilden Olivenbäume, den Sand und die Binsen und … eine untrügliche Gewissheit.

Etwas stimmte nicht. Und es war etwas Größeres als der Krieg, der dabei war, die Erde zu verschlingen. Etwas, das eine Gefahr für die Menschen bedeutete, die Evie liebte.

Sie atmete tief die salzige Luft ein, straffte den Rücken und hob das Kinn. Dann eilte sie zur Pension zurück. Sie würde sich mit Gebeten bewaffnen, wie es all die Frauen in ihrem Leben sie gelehrt hatten.

Aber Daddys Lektionen würde sie auch nicht vergessen.

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