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Melanie Wolfers ZUVERSICHT

Die Kraft, die an das Morgen glaubt

INHALTSVERZEICHNIS

5. Ich schraube, also bin ich

6. Durch einen guten Rhythmus intakt bleiben .........

7. Von der Weisheit einer Schafhirtin ...............................

1.

2.

3. Sich

4. Wir

5. Sinn-gemäß

6. Im Großen und Ganzen

Ein Schmetterling zur Raupe:

Das Ende der Welt, die du kennst, ist nicht das Ende der Welt.

EINLEITUNG

»Passen Sie auf sich auf!« Mit diesen besorgten Worten endeten in der Zeit der Coronapandemie viele Mails oder Anrufe. Kein Wunder, hat doch ein winziger Virus uns daran erinnert, wie zerbrechlich alles ist: wir selbst; die Menschen, die wir lieben, und alles, was wir uns persönlich und als Gesellschaft aufgebaut haben. Ein Riss in der Oberfläche des Alltags legt die Verwundbarkeit bloß und zeigt, dass »mit einem Schlag« unsere Gewohnheiten und Pläne zunichtewerden können.

Viele haben mir von ihrer persönlichen Not erzählt: Ein Mittfünfziger, der seinen Arbeitsplatz verliert, weil der Betrieb Kosten einsparen muss. Die Jugendliche, deren Leben durch die Corona-Maßnahmen aus den Fugen gerät und die psychisch instabil wird. Eine Abiturientin, die jahrelang für eine Weltreise gejobbt hat und ihre Reise nach sechs Wochen abbrechen musste. Der Tod eines geliebten Menschen, von dem man sich nicht einmal bei dessen Beerdigung verabschieden konnte. Eine zerbrochene Beziehung. Bohrende Einsamkeit …

»Mir entgleitet die Kontrolle über mein Leben und meine Zukunft. Ich fühle mich überfordert und blicke dem Kommenden mit Angst entgegen.« Wo sich dieses Lebensgefühl breitmacht, schlittern Menschen in eine Krise. Sorgen ersticken ihren Lebensmut, und sie verlieren den Glauben daran, dass sie ihrem Leben eine positive Wendung geben können. Auch gesellschaftlich stehen wir vor vielen Herausforderungen. Unsere Welt verändert sich immer schneller und radikaler. Der technologische Fortschritt ist Segen und Fluch zugleich. Eine zunehmende Automatisierung führt zum Verlust von Arbeitsplätzen. In hohem Tempo werden Ressourcen verbraucht. Eine Krise jagt die andere: die Meere werden zugemüllt; das Klima kollabiert; Populisten übernehmen Regierungen; hinzu kommen nicht enden wollende Kriege, und über 80 Millionen Menschen sind auf der Flucht …

Wir brauchen dringend neue und innovative Lösungsansätze für all diese Themen! Es ist unverzichtbar, die großen Probleme unserer Zeit jetzt anzugehen. Doch genau hier hakt es! Es fehlt an der Hoffnung und Überzeugung, die gegenwärtigen Herausforderungen bewältigen zu können. Das Frankfurter Zukunftsinstitut diagnostiziert, dass das soziale Klima in Deutschland geprägt sei von Gefühlen der Ohnmacht und Orientierungslosigkeit, von Überforderung und Überreizung. Men-

schen trauen sich und ihrer Lösungsbegabung kaum mehr etwas zu. Und überhaupt: Was würde mein Beitrag schon ändern?!?

Wie können wir in persönlichen Krisen unsere Kraft stärken, um wieder neu Vertrauen in uns selbst zu fassen und an ein besseres Morgen zu glauben? Wie können wir uns wieder aufrappeln, wenn wir in einer üblen Situation zu Boden gegangen sind? Und wie gelingt es zu stärken, was unsere Gesellschaft so dringend braucht: Dass jede und jeder sich mutig, kreativ und kooperativ einbringt und dazu beiträgt, dass unsere Welt ein Stückchen besser wird?

Zuversicht ist eine Energie, die uns dazu befähigt! Sie ist eine Widerstandskraft, die hilft, Krisen zu bewältigen. Sie ermöglicht, positive Zukunftsvorstellungen zu entwickeln. Und sie treibt uns an, Lösungsansätze zu entdecken, tätig zu werden und so das Unsrige dazu beizutragen, dass das Erhoffte auch eintritt. Da ist der Einsame, der sich auf einer Online-Partnerbörse anmeldet. Die Frau, die nach einer dritten Fehlgeburt erneut wagt, schwanger zu werden. Die Studentin, die sich bei »Fridays for Future« engagiert. Zuversicht weist ihnen den Weg und gibt ihnen Motivation und Ausdauer, diesen zu beschreiten.

Die tatkräftige Haltung der Zuversicht lebt davon, dass wir der Zukunft einen gewissen Vertrauensvor-

schuss entgegenbringen. Sie lässt uns an ein Morgen glauben. Geben wir der Zuversicht in unserem Alltag Raum, dann bieten wir dem Leben Gelegenheit, uns erfreulich zu überraschen.

Dabei ist Zuversicht alles andere als ein billiger Optimismus, der sich die Dinge schönredet oder naiv hofft, dass am Ende irgendwie alles gut wird. Zuversicht meint auch nicht jene Art von positivem Denken, das immer nur Chancen sieht. Ein solch weichgespülter Blick leugnet die Härten des Lebens, die nun einmal da sind!

Ich persönlich tat mich übrigens schwer, die Coronapandemie vorschnell als Chance umzudeuten. Sie machte mir persönlich zu schaffen: als Freiberuflerin; durch mehrwöchige Quarantänen, einem monatelangen Lockdown und dadurch, dass ich als in Österreich lebende Deutsche viele von meiner Familie und meinen Freunden über eineinhalb Jahre nicht gesehen hatte. Doch vor allem war und ist sie für unzählige Menschen in Europa – geschweige denn weltweit – einfach eine Katastrophe!

Ob es gelingen wird, die Chancen in der Krise zu entdecken, wird die Zukunft erweisen. Doch was alle Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung (Abstand halten, Maske tragen … ) gezeigt haben: Es kommt auf das Verhalten der einzelnen Person an! Jede und jeder ist entscheidend! Und darin liegt eine wichtige Einsicht – und eine Erfahrung, die Zuversicht weckt.

Doch wie gelingt es, angesichts eines Schicksalsschlags den Lebensmut zu bewahren? Was hilft, die Hoffnung nicht zu verlieren, wenn wir uns in einer persönlichen Krise unsicher oder verzweifelt fühlen? Oder wenn wir uns angesichts gesellschaftlicher Probleme überfordert und ohnmächtig erleben?

Ein erster Hinweis liegt bereits in der Frage selbst. Denn wenn man Zuversicht verlieren kann, bedeutet das auch: Man kann sie wiederfinden! Zuversicht ist also nicht einfach da oder nicht da. Sie ist keine angeborene Charaktereigenschaft, sondern eine innere Haltung, die sich jede und jeder – zumindest bis zu einem gewissen Grad – aneignen kann. Wir können unsere Fähigkeit, zuversichtlich zu sein, stets neu entdecken und entfalten.

Wie das gehen kann, davon handelt dieses Buch. Es vermittelt einen Überblick: Was ist Zuversicht –und was nicht? Welche Hindernisse stellen sich ihr in den Weg? Wie lässt sich Zuversicht stärken, und wie können wir dem Leben gegenüber eine positive Haltung entwickeln, auch wenn es ungewiss und bisweilen beinhart ist? Und wie können wir in Krisenzeiten Zuversicht als einen Prozess verstehen und gestalten?

Sie werden Anregungen, Tipps und praktische Beispiele finden. Und Sie werden Geschichten lesen von Menschen, die in bedrückenden Zeiten fähig

waren, auf den Anbruch eines neuen Tages zu hoffen.

»Passen Sie auf sich auf!« Vermutlich haben Sie diesen Satz in den letzten Monaten oft gehört. In ihm drückt sich eine Sorge aus. Aber noch viel mehr ein ermutigendes Zutrauen, nämlich: »Sie können für sich selbst Sorge tragen! Sie können dazu beitragen, Ihr Leben und das Ihres Umfeldes konstruktiv zu gestalten.« Ich hoffe sehr, dass dieses Buch Sie in dieser tatkräftigen Zuversicht bestärkt!

WAS DIE ZUVERSICHT BLOCKIERT

Blicken wir der Zukunft zuversichtlich entgegen, dann erwarten wir von dem, was auf uns zukommt, etwas Gutes. Wir entwickeln positive Vorstellungen und Pläne – und diese braucht es, um überhaupt aktiv zu werden und um Krisen bewältigen zu können. Einer solch hoffnungsvollen Haltung stehen jedoch manche Hindernisse und innere Widerstände im Weg. Vier Stolpersteine nehme ich in den Blick.

1. Stolperstein: Was ist eigentlich der Punkt?

Beschreiben Sie, was Sie auf der nächsten Seite sehen.

Der schwarze Punkt

Eines Tages kam ein Professor in das Seminar und schlug überraschend einen Test vor. Er verteilte das Aufgabenblatt, wie üblich nach unten gedreht. Dann forderte er die Studierenden auf, die Seite umzudrehen und zu beginnen.

Zur Verwunderung aller gab es keine Fragen – nur einen schwarzen, unregelmäßigen Punkt ungefähr in der Mitte der Seite.

»Ich möchte Sie bitten aufzuschreiben, was Sie auf dem Blatt sehen.«

Die Studierenden waren verwirrt, begannen jedoch mit ihrer Arbeit.

Nach einiger Zeit sammelte der Professor alle Antworten ein und begann sie laut vorzulesen. Alle hatten ohne Ausnahme den schwarzen Punkt beschrieben – seine Position in der Mitte des Blattes, seine Größe und Form usw.

Nun lächelte der Professor und sagte: »Ich wollte Ihnen eine Aufgabe zum Nachdenken geben. Niemand hat etwas über den weißen Teil des Papiers geschrieben. Jeder konzentrierte sich auf den schwarzen Punkt – und das Gleiche geschieht in unserem Leben. Wir haben ein weißes Papier erhalten, um es zu nutzen und zu genießen, aber wir konzentrieren uns immer auf die dunklen Flecken.«

Die eigene Zuversicht zu stärken, beginnt mit der Frage: Wie nehme ich die Welt wahr? Mit welcher Optik blicke ich auf die Realität?

Zahlreiche Studien zeigen, wie unzuverlässig unsere Wahrnehmung arbeitet. Dazu gehört auch die einseitige Konzentration auf das Negative. Vermutlich kennen Sie das: Wie von selbst beschäftigt sich unser Gehirn vor allem mit den »dunklen Punkten«: Mit dem, was fehlt oder belastet – ein Konflikt, ein cholerischer Chef, gesundheitliche Beschwerden … – oder mit dem, was in der Welt schiefläuft.

Das Positive hingegen gerät, ähnlich wie das weiße Papier, schnell aus dem Blick. Wir nehmen es als selbstverständlich hin: Angefangen von der Meisterleistung unseres Körpers, der ständig Signale empfängt und aussendet und auf diese Weise sein Gleichgewicht reguliert, über die lichten Seiten des Alltäglichen bis hin zu erfreulichen persönlichen oder gesellschaftlichen Entwicklungen.

Der Negativfokus hat viele, durchaus auch sinnvolle Gründe! Das Problem liegt in der Einseitigkeit. Es braucht beides: den Blick auf das Negative und Schwierige und die Aufmerksamkeit für das Positive und Mutmachende. Nur Letzteres gibt uns die Kraft und Zuversicht, wieder aufzustehen, wenn eine Situation uns in die Knie gezwungen hat.

Praxistipp: Beginn und Ende des Tages gestalten

Um die Gewohnheit zu durchbrechen, sich vor allem auf das Problematische zu konzentrieren, kommt dem Tagesbeginn eine besondere Bedeutung zu. Jeder Morgen bietet die Chance, Ihre Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung zu lenken und sich für einen Fokus zu entscheiden. In einem Bild ausgedrückt: Sie können am Morgen unterschiedliche Brillen aufsetzen. Je nachdem, welche Brillentönung Sie wählen – eine dunkle, eine helle, eine rosarote … – , wird Ihr Tag in ein anderes Licht getaucht. Er wird eine unterschiedliche Färbung erhalten.

Einen ähnlich großen Unterschied macht es, ob Sie sich zu Beginn eines neuen Tages bewusst für einen farbenfrohen, bejahenden Blickwinkel entscheiden oder ob Sie eine eher misstrauische Perspektive einnehmen, die schwarzsieht. Ihre Welt wird sich jeweils anders zeigen! Ihr Tag wird jeweils ein anderer sein!

Mir persönlich hilft ein lyrischer Text des Dichters Andreas Knapp, den ich mir jeden Morgen in Erinnerung rufe, indem ich ihn leise vor mich hin spreche. In diesem Gedicht namens »Laudes« heißt es:

wenn nach Schreckstunden des Dunkels der Morgen die Augen aufschlägt geh ihm singend entgegen

erwache ins Lob und das Lob weckt dir die Welt dass sie dir singe 1

Auch der letzten Viertelstunde vor dem Schlafengehen gebührt Aufmerksamkeit, denn sie ist das Tor in die Nacht. Hilfreich ist das Führen eines Dankbarkeits­Tagebuches. Man blickt jeden Abend auf den vergangenen Tag zurück und notiert sich, was man an Schönem erlebt oder was einem gutgetan hat. Um Ihre Aufmerksamkeit zu weiten und Ihre Zuversicht zu stärken, können Sie aber auch ein Zuversichts­Tagebuch führen: Schauen Sie abends in einer Art »Tagesschau« zurück und schreiben Sie zwei, drei Ereignisse oder Dinge auf, die Sie hoffnungsvoll gestimmt haben. Wenn Sie sich als spiritueller Mensch verstehen, können Sie diesen Rückblick mit einem bewussten Innehalten verknüpfen und sich betend mit dem göttlichen Geheimnis des Lebens verbinden.

2. Stolperstein: Nur keine Überraschungen!

Immer wieder versuchen Menschen, in die Zukunft zu schauen, um vorherzusehen, was kommen wird. Wissenschaftler* innen und Zukunftsforscher* innen geben Prognosen ab, was sich ereignen könnte. Oft haben sie recht, aber in anderen Fällen liegen sie daneben. Von solchen Prognoseirrtümern zu lesen ist lehrreich und unterhaltsam. Hier einige Beispiele, wie selbst hartgesottene Realisten mit ihren Vorhersagen völlig danebenlagen:

»Es gibt nicht den geringsten Hinweis, dass Atomenergie jemals nutzbar sein wird.« (Albert Einstein 1934 in der New York Times)

»Wir mögen Ihre Musik nicht, und Gitarrengruppen werden bald aus der Mode kommen«, antwortete die Plattenfirma Decca Records einer jungen Musikband. Diese Band – die Beatles – hat danach mehr als 600 Millionen Tonträger verkauft.

»Das Spam­Problem wird in zwei Jahren Geschichte sein«, versprach der Microsoft­Gründer Bill Gates im Jahr 2004. Und: Wie viele Spammails haben Sie heute erhalten?

»Suchen Sie sich lieber wieder einen Job. Von Kinderbüchern allein können Sie Ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten«, schrieb der Kinderbuch­Verleger Barry Cunningham an Joanne K. Rowling vor der Veröffentlichung ihres ersten Harry­Potter­Romans.

Was wurde Ihnen ganz persönlich schon prophezeit? Haben Sie wegen einer schlechten Prognose schon einmal auf etwas verzichtet, damit es am Ende nicht zu schlimmen Entwicklungen kommt? Und wie oft haben Sie frohgemut mit etwas begonnen, und es kam dann ganz anders als vorhergesagt?

Die Zukunft wird häufig durch unerwartete Ereignisse geprägt, die niemand auf dem Schirm hatte. Positiv wie negativ. Immer wieder werden wir von Wendungen überrascht, mit denen niemand gerechnet hatte: Die deutsche Wiedervereinigung; der Reaktorunfall von Fukushima, der später zur deutschen Energiewende führte; oder im Privaten eine Trennung (»dabei waren die beiden ein Traumpaar«) und der Beginn einer neuen Freundschaft … All diese Entwicklungen waren nicht vorauszusehen.

Es zeigt sich: Die Zukunft ist nirgends festgeschrieben! Sie wird auch von überraschenden Faktoren und Zufällen geprägt. Und ebenso von unseren Zukunftsvorstellungen und davon, wie wir uns heute verhalten.

Hier liegt ein weiterer Stolperstein auf dem Weg zur Zuversicht: der viel gepriesene »realistische Blick« in die Zukunft. Oft stellen sich die sogenannten Realisten die Zukunft wie eine Verlängerung der Gegenwart vor. Sie meinen, durch Prognose und Kalkulation jetzt schon das Morgen zu kennen. Dabei übersehen sie, dass es in komplexen dynami-

schen Systemen immer eine Unzahl anderer Möglichkeiten gibt – und dass sich oft Dinge ereignen und durchsetzen, die man sich nicht einmal in den kühnsten Träumen ausgemalt hätte. Realistisch betrachtet bedeutet daher ein realistischer Blick in die Zukunft, dass Sie für unvorhersehbare Wendungen offenbleiben. Dass Sie versuchen, mit dem Unberechenbaren zu rechnen und die eigenen Erwartungen nicht (allzu sehr) auf das bereits Bekannte zu begrenzen. Zu diesem Realismus gehört auch, um die eigene Würde und Verantwortung zu wissen: Dass das Handeln von heute die Welt von morgen mitgestaltet.

Natürlich wird sich nicht jede Zukunftshoffnung erfüllen! Doch die offene Zukunft verdient, dass wir ihr einen gewissen Vertrauensvorschuss entgegenbringen. Und damit rechnen, dass Dinge möglich werden, die jetzt noch undenkbar sind.

Auf den Punkt gebracht: Wir wissen einfach zu wenig, um pessimistisch in die Zukunft zu schauen! Es ist immer viel mehr möglich, als wir denken.

Praxistipp: Staunen üben

Eine wache, offene Haltung lässt sich fördern, indem Sie im Laufe eines Tages auf die Momente achten, die Sie zum Staunen bringen. Oder indem Sie

sich regelmäßig die Zeit gönnen, eine Weile ohne Handy spazieren zu gehen. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit stattdessen auf die Umgebung; auf das, was Ihnen bemerkenswert vorkommt. Etwa ein kleines Muster von Licht und Schatten; die Sonne, die sich im Fenster des Hochhauses spiegelt; raschelnde Herbstblätter auf dem Weg, ein Kinderlachen.

Wer ins Staunen gerät, widersteht dem Hang, sich in einem abgeklärten »Realismus« einzurichten, der sich auszukennen meint und den nichts mehr überraschen kann. Wer staunt, kultiviert den Sinn dafür, dass alles auch ganz anders sein könnte.

3. Stolperstein: Der Wunsch nach einem Rundum-sorglos-Paket

Ein weiterer Stolperstein steht einem zuversichtlichen Leben im Weg: das Streben nach Kontrolle und Sicherheit, das zu den Megatrends unserer Gesellschaft gehört. Angefangen vom vorgeburtlichen Screening, um jedes Risiko auszuschließen; über in Windeln eingebaute Chips, um per Smartphone Ausscheidung und Herzschlag des Säuglings zu kontrollieren; Banken, die dem Kind schon den Finanzierungsplan für die Altersvorsorge in die Wiege legen; bis hin zu einer boomenden Versicherungsbranche, die uns über den Tod hinaus abzusichern verspricht.

Doch Leben ist das, was einem zustößt, während man gerade eifrig andere Pläne schmiedet, sagte schon John Lennon – jener Ex-Beatle, der eines Tages auf dem Nachhauseweg von einem verwirrten Fan erschossen wurde. Das Leben hält sich nicht an unsere Vorstellungen von fair und richtig. Es gibt Gefahren, die wir nicht unter Kontrolle haben. Und überraschende glückliche Fügungen.

Zuversicht bewährt sich gerade auch darin, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, wenn die eigenen Gewohnheiten oder Pläne über den Haufen geworfen werden. Zuversicht befähigt, mit Widrigem und Unabwendbarem umzugehen. Und sie gibt die

Kraft, dem Leben in seiner bleibenden Ungewissheit und Offenheit mit einer positiven Haltung zu begegnen.

Der Glaube daran, in Zukunft alles in Griff zu bekommen und restlos absichern zu können, schwächt diese innere Widerstandskraft! Das wachsende Kontrollbedürfnis untergräbt die Bereitschaft und Fähigkeit zu vertrauen – und höhlt damit eine der wichtigsten Ressourcen von Zuversicht aus.

Ein Schritt Richtung Zuversicht liegt darin, den Wunsch nach Kontrolle als das zu enttarnen, was er ist – als eine kindliche Wunschvorstellung. Und am besten auch noch humorvoll darüber schmunzeln zu können, denn: Wir hatten noch nie eine umfassende Kontrolle! Und es wird auch keine geben.

Während Sie diese Zeilen lesen, umkreisen Sie auf einem winzigen Planeten die Sonne mit einer Geschwindigkeit von – halten Sie sich fest – 107 280 Stundenkilometern. An diesem Tag sterben zwischen 50 und 70 Milliarden Zellen in Ihrem Körper und bilden sich etwa gleich viele neue. Ständig vollzieht Ihr Körper ohne Ihr aktives Zutun höchst komplexe Vorgänge wie etwa die Atmung, den Pulsschlag oder die Verdauung. Er lässt Wunden heilen oder gebrochene Knochen wieder zusammenwachsen. Und nichts davon haben Sie im Griff!

Natürlich, Kontrolle spielt in einzelnen Lebensbereichen eine wichtige Rolle – angefangen von der

Vorsorgeuntersuchung bei der Ärztin bis hin zur Materialprüfung bei einem Raumschiff. Doch der Wunsch, das Leben absichern zu wollen, gleicht dem kindlichen Versuch, den Himmel mit ein paar Stangen zu stützen.

Es klingt paradox: Wer sich von dem Wunsch verabschiedet, alles zu kontrollieren, wird mit mehr Vertrauen durchs Leben gehen. Wer die bleibende Offenheit und Ungewissheit akzeptiert, findet zu einer gelasseneren Haltung. Diese positive Rückkopplung lässt sich auch neurobiologisch aufzeigen: Erfahrungen oder Handlungen, die wir häufig wiederholen, verstärken die jeweils aktivierten neuronalen Strukturen im Gehirn. Durch stetige Wiederholung eines vertrauensvollen Verhaltens bilden sich entsprechende »neuronale Autobahnen« im Hirn, die uns vertrauensvoller unterwegs sein lassen. Und dies stärkt wiederum die Zuversicht und gibt Mut, sich in Zeiten der Unsicherheit auf echtes Neuland vorzuwagen.

4. Stolperstein: Warum ein halbiertes Leben nicht rund wird

Ein verbreitetes modernes Tabu lautet: »Es darf dir nicht schlecht gehen! Und wenn dir diese eigentlich vermeidbare Panne doch passiert, dann solltest du dieses Malheur schnellstmöglich beseitigen.«

Der subtile Druck, ständig gut drauf zu sein, schwächt die Kraft der Zuversicht! Denn erstens: Wenn ich immer nur »das Positive« im Leben erwarte und zu akzeptieren bereit bin, dann werde ich mich im Übermaß ängstigen, wenn Träume zerbrechen oder ich in eine Krise gerate. Und in dem Maß, in dem ich glaube: »Positiv denken ist gut. Sich mies fühlen ist schlecht«, verstärke ich jegliche schmerzhafte Erfahrung. Und ich schwäche meine innere Widerstandskraft, die Krise zu überwinden.

Zweitens: Ob wir wollen oder nicht – unser Leben bewegt sich in Polaritäten und Widersprüchen. Auch unser Gefühlsleben: Mal fühlen wir uns motiviert und mal gelangweilt, zärtlich und zornig, frustriert und begeistert, bedrückt und erleichtert, geborgen und verlassen. Und eben auch: ängstlich und zuversichtlich …

Die gängige Unterscheidung solcher Gefühle in »positive« und »negative« Empfindungen führt dazu, dass man einen Teil seines Gefühlslebens ablehnt. Nach dem einen Pol streben wir; den anderen

werten wir ab und suchen, ihn zu meiden. Wir spalten und halbieren das Leben! Und damit schwächen wir unsere Kraft zur Zuversicht! Denn alle Gefühle – auch die sogenannten »negativen« – sind wichtig. Alle haben den ursprünglichen Sinn, beim (Über-) Leben zu helfen. Auch die Angst.

Ähnlich wie ein Kontrolllämpchen im Auto macht Angst auf eine Gefahr aufmerksam. Sie zeigt an, dass etwas nicht in Ordnung ist, und will eine Reaktion provozieren. So hat etwa in der Coronakrise die Angst zur rechten Zeit dazu geführt, Vorsicht walten zu lassen und Vorkehrungen zu treffen. Derart gewappnet gab es auch gute Gründe, zuversichtlich sein.

Es zeigt sich: Angst und Zuversicht schließen einander nicht aus – im Gegenteil! Sie bilden eine Spannungseinheit. Sie brauchen sich gegenseitig. Allein in ihrem Zusammenspiel können sie uns schützen. Einerseits vor einem Optimismus in Sektlaune, der kein Zaudern und Zögern kennt, weil ihm die Sensibilität für Gefahren fehlt. Und andererseits davor, dass wir uns von Angst lähmen und den Lebensmut rauben lassen.

Echte, geerdete Zuversicht kommt also nicht breitbeinig und lautstark daher, sondern sie kennt auch einen ängstlichen Schauder. Sie weiß um die Schwierigkeiten und ist sensibel für Gefahren. Sie verdrängt die Angst nicht, sondern »hegt sie ein«.

Daher gilt: Wenn Sie sich von Ihren Ängsten informieren lassen und entsprechend vorsorgen, um gut gerüstet zu sein, dann können Sie auch frohen Mutes weitergehen!

WELCHE GESCHICHTEN ERZÄHLEN WIR UNS?

Falls du glaubst, dass du zu klein bist, um etwas zu bewirken, dann versuche mal zu schlafen, wenn eine Mücke im Raum ist.

1. Beide behalten recht: die Optimisten und die Pessimisten

Die Zukunft bricht nicht einfach über uns herein und ist nirgends vorgeschrieben. Vielmehr hängt sie auch davon ab, welche Zukunftsvorstellungen und Erwartungen wir heute entwickeln und wie wir jetzt handeln. Die Zukunft beginnt hier und heute.

Exemplarisch zeigt das eine Studie des Psychologen Winfried Rief von der Universität Marburg. Er hat 124 Personen untersucht, die vor einer Herzoperation standen. Ein Teil von ihnen hat gemeinsam mit einem Psychologen Pläne entwickelt für die Zeit nach dem Eingriff: Was will ich nach drei Wochen

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