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Gertrude von Holdt

Die Halligpastorin

GESCHICHTEN ZWISCHEN

HIMMEL UND NORDSEE

Dieses Buch ist der Hallig und ihren Bewohnern, meinen Kindern und Enkelinnen gewidmet. Der Hallig möchte ich danken, dass sie mir noch einmal unbändige Freude am Leben geschenkt hat. Den Bewohnern, weil ich mich nicht verbiegen musste, sondern sie mich so sein ließen, wie ich bin. Wir wurden ein gutes Team. Und es ist mir eine Ehre, hier bei ihnen sein zu dürfen.

Meinen Kindern danke ich, dass sie mich in ein »neues, eigenes« Leben haben ziehen lassen.

Meinen Enkelinnen, für die Hooge ein einziger großer Abenteuerspielplatz ist, auf dem »Oma Hooge« wohnt, wünsche ich, dass diese Hallig ihnen im Gedächtnis bleibt. Nicht nur als schöne Kindheitserinnerung, sondern auch als Wiege ihrer Familie.

PROLOG

Je älter ich werde, umso häufiger denke ich über meine Träume und Vorstellungen nach, die ich als junge Frau hatte Ich wollte reich und anerkannt werden, berühmt als Malerin, und wenn das nicht klappt, dann wollte ich wenigstens eine gute Chirurgin werden Ich wurde weder das eine noch das andere

Dafür wurde ich Arztfrau, vierfache Mutter, siebenfache Großmutter, Hauswirtschaftsleiterin, Arzthelferin und Röntgenassistentin Ich war zuständig für das Personal und die Abrechnung in der orthopädischen Praxis meines Ehemannes Ich wurde Lektorin, Prädikantin und letztendlich Pastorin Mit 61 Jahren beschloss ich, mein Leben noch einmal umzukrempeln, und zog auf die Hallig Hooge Ich ging zurück an den Ort meiner Kindheit, konnte eintauchen in die Welt, die ich vor fast 50 Jahren verlassen hatte, als hätte es nie ein Dazwischen gegeben Mich erfasste ein Staunen: Nirgendwo sind mir die Menschen so nah und wichtig wie hier Nirgendwo ist das Feiern so ausgelassen wie hier Nirgendwo ist der Himmel höher, das Wasser weiter, das Land grüner

Nirgendwo ist mir Gott so nah Es ist, als wäre ich in einem Kloster unter freiem Himmel Ohne viele Fragen zu stellen, wurde ich von den Halligbewohnern in ihrer Mitte aufgenommen

In diesem Buch erzähle ich Geschichten von meinem Leben auf der Hallig Sie handeln von den Bewohnern und ihren Vorfahren Seit Generationen trotzen die Bewohnerinnen und Bewohner von Hooge den Naturgewalten Menschen, die dickköpfig und trotzdem liebenswert, wettergegerbt und trotzdem sanft sind

Es sind Geschichten vom Ende der Welt – geprägt von der Natur, Wind und Wellen

MEHR, ALS WIR

FASSEN KÖNNEN

Hooge ist für mich mein Wasserland, wild, unbezähmbar, aber nie beängstigend

Hoher Himmel überspannt die Weite des Wassers und die kleinen Flecken Land von Halligen und Inseln in der Nordsee Der Himmel verändert sich ständig Mal scheint er lieblich und betörend, strahlend blau mit weißen Tupfen – dann wieder bedrohlich Die Wolken ziehen als dicke graue Suppe mit drohenden Grimassen auf, formieren sich zu hoch aufgetürmten Gebirgen Die See ist aufgewühlt Doch wenn man genau hinsieht, hat der Himmel Fenster, die einen Blick auf das Dahinter zulassen

Auch die Sonne stimmt in das vielfältige Himmelsspiel ein Sie kann strahlen und leuchten, aber auch gespenstisch glimmen, als wäre sie in einem Ring gefangen Ihre ganze Pracht breitet sie am Abend aus Der Sonnenuntergang verbindet gleißend rot Himmel und Erde

Hört sich nach Postkartenkitsch an! Aber es ist wirklich so schön und jeder, der es erlebt, behält das Bild im Herzen

Wenn die Sonne abgetaucht ist, fluten die Sterne den Himmel Der Mond steigt im Südosten wie ein roter Ballon aus dem Wasser, nach kurzer Zeit färbt er sich weiß und zieht seine Bahn über den Nachthimmel Selbst wenn ihn Wolken verdecken, dringt sein Schein hindurch und erhellt die Hallig Ich lege den Kopf in den Nacken und staune über ihre Vielfalt Auf der Hallig gibt es keine Straßenbeleuchtung und keine flackernden Reklamelichter Nichts kann die Leuchtkraft der Sterne schlucken

Die Hallig wirkt klein, verloren und unscheinbar inmitten der Nordsee Im Winter ist die Erde grau oder braun und nur selten weiß Es scheint, als hätte ein Flugzeug Asche über das Land gestreut

Im Sommer explodieren stattdessen die Farben: Lila, Rot, Rosé, Gelb und sattes Grün Rostrot kommt der Herbst daher Die Jahreszeiten in ihrem Farbenspiel zu durchleben, erfüllt mich immer wieder Ich kann mich nicht daran sattsehen

Die Luft ist würzig und salzig Bei Ebbe streicht ein süßlich-herber Duft vom Seegras und Tang über das Land Nach einem Sturm überzieht eine feine Salzschicht Fenster und Gartenmöbel Wir riechen, schmecken und fühlen die Luft

Wenn Halligwermut, Gras und Klee das Land in allen Grüntönen bedecken, duftet die Hallig, als hätte sie sich frisch gewaschen

Möwen keckern und lachen, Gänse schreien, Seeschwalben zetern, Spatzen schimpfen und Stockenten schnattern Die Eiderenten singen eine sanfte Melodie, zaghaft klingt das Tschilpen des Zaunkönigs, lieblich die Amseln und jubilierend die Lerchen Mit spitzen Schreien rufen die Strandläufer und geradezu aufgeregt tönen die Kedit­Rufe der Austernfischer All die Vogelstimmen werden vom Brausen und Singen des Windes begleitet und dem stetigen Rauschen des wogenden Wassers Der Chor ist meisterhaft in seiner Intonation!

Und trotz all dieser Geräusche übermannt mich auf der Hallig von Zeit zu Zeit die Stille, die mich immer wieder innehalten lässt!

Das Meer ist für uns Hooger nicht der weite Ozean, sondern das oft unbändige Wasser der Nordsee Es umgibt uns und durchzieht in kleinen und großen Gräben, den Flieths, das Land Die abgerissenen Kanten an den Flieths zeugen von der Gewalt des Wassers

Das Kommen und Gehen des Wassers bestimmt das Leben und diesem Rhythmus unterwerfen sich die Bewohner seit der ersten Besiedlung Gott muss eine unbändige Freude verspürt haben, diese Wunder-

welt zu erschaffen Anders kann ich mir die Schönheit nicht erklären

Mich lehrt das Wasser auch Demut – jeden Tag aufs Neue Ich bin mittendrin und fühle mich angesichts dieser Fülle ganz klein, obwohl ich mich doch wie die meisten Menschen eigentlich groß und stark fühlen möchte Aber ich kann das Kleinsein ohne Zaudern annehmen, denn Gott hat mir Augen und Ohren für die Fülle des Lebens auf der Hallig geöffnet Ich lebe in einem Paradies aus Himmel, Erde, Luft und Meer Doch dieser wunderschöne Ort wird von Menschen bewohnt – ein Paradies mit Schwächen, Fehlern und Nöten

BIIKEBRENNEN

Es ist ein klarer, kalter Abend im Februar Die Sonne ist vor einer Stunde untergegangen Gleich entzünden sie das Feuer Reisig, klein geschnittene Äste, alte Weihnachtsbäume und Adventsgestecke türmen sich zu einem Haufen Hoch oben auf der Spitze steht eine Strohpuppe

»Biikebrennen« – seit Jahrhunderten wird es am 21 Februar, einen Tag vor St Petri, dem Thing-Tag, auf den Halligen und Inseln und an der gesamten Nordseeküste entfacht Früher wurde am Thing-Tag

Gericht gehalten, über Verfehlungen, Diebstähle, Nachbarschaftsstreitigkeiten

Mit den Biikebrennen sollte nicht nur der Winter vertrieben werden, es waren auch Leuchtfeuer für die Seefahrer und Walfänger auf dem Weg von den Halligen und Inseln zu den großen Häfen nach Hamburg oder Amsterdam, wo sie andere, größere Schiffe bestiegen, die sie nach Übersee brachten Die Heuer sollte sie und ihre Familien ein weiteres Jahr versorgen Und niemand wusste, wie diese Reise enden würde

So waren es auch Abschiede, die an der Biike gefeiert wurden

Die Biiken brannten an den Ufern bis zur Elbmündung, um den Zubringersegelschiffen das Geleit zu sichern Die Fahrt war gefährlich, nicht nur wegen der unbeständigen Wetterbedingungen – denen konnten die Seeleute trotzen – , sondern auch der finsteren Gestalten wegen, die auf zwielichtigen Schiffen unterwegs waren, um etwas Glück und Reichtum zu ergattern

Ich schaue mich um Auch heute sind wieder dunkle Gestalten unterwegs Aber natürlich droht keine Gefahr Wenn das Feuer brennt, schmieren die Kinder den Besuchern die Gesichter mit Ruß ein – ein Brauch, der Glück bringen soll Später essen alle den traditionellen Grünkohl und trinken Teepunsch

In kleinen Gruppen stehen wir beieinander und schauen nachdenklich auf die Flammen Anton versorgt uns mit fragwürdigen Getränken Er ist ein Filou Jedes Jahr bringt er unzählige angebrochene Flaschen verschiedenster Schnäpse mit, die er im letzten Jahr nicht ausgetrunken hat Ich mag überhaupt keinen Schnaps, doch plötzlich habe ich ein Glas in der Hand und einen grinsenden Anton vor mir!

Gedankenverloren hänge ich meinen Erinnerungen nach In den letzten Jahrzehnten hat sich vieles

auf Hooge verändert Die Halligbewohner leben heute vom Tourismus, aber vor 100 Jahren lebten sie fast alle von der Schifffahrt

Zwischen dem 17 und 19 Jahrhundert war die Blütezeit der Seefahrt auf den Halligen und Inseln Zuvor lebten die Menschen von der Landwirtschaft und vom Fischen Es war ein mühseliges und entbehrungsreiches Leben Die Seefahrt brachte einen bescheidenen Wohlstand, doch die Gefahren für die Männer und ihre Familien, so sie eine hatten, waren groß Von Februar bis zum Herbst gingen alle gesunden Männer auf große Fahrt Als Kapitäne, Decksmänner, Segelmacher, Harpuniere, »Kochs« (Köche) und »Smutjes« (der Jüngste in der Kombüse) fuhren die meisten auf Handelsschiffen, nur wenige Männer von der Hallig auf Walfängern Keiner wusste bei der Abreise, ob man sich wiedersehen würde Ob der Ehemann, Vater oder Sohn gesund nach Hause kam Doch trotz der Gefahr wagten die Männer immer wieder aufs Neue eine Fahrt ins Ungewisse

Ich blicke über die dunkler werdende Hallig in Richtung Eiwall, dem früheren kleinen Hallighafen, und sehe sie plötzlich vor mir – eine Szene von vor 200 Jahren: Kleine Kinder, alte Frauen und Männer umringen ihre Väter, Ehemänner, Söhne und Enkel, die

in See stechen wollen Die Seefahrer stützen sich auf ihren Seesack, in dem sie ihre Habe verstaut haben Zu ihren Füßen steht ein Korb mit Proviant für die Zubringerfahrt Sie warten stumm auf den Segler, der sie nach Hamburg bringen soll

Je näher die Zeit des Auslaufens heranrückt, umso bedrohlicher wirkt die Fremde Doch bei der Verabschiedung wird kaum eine Miene verzogen Man gibt sich die Hand, die Mutter streicht ihrem Mann und ihrem Sohn vielleicht noch einmal übers Haar Sie gehen an Bord, der Segler legt ab

Eine Weile können die Männer an Bord bei der Ausfahrt noch die Gesichter der Zurückbleibenden erkennen Doch dann verschwimmen diese bis zur Unkenntlichkeit und es ist nur noch die Silhouette der Hallig zu sehen

Wie gerne würden sie umkehren, zurück in ihre kleine, vertraute, überschaubare Welt Manch einer sehnt sich schon jetzt nach seiner Frau, den Kindern und Freunden Aber es gibt kein Zurück

Auch wenn sie die Fahrt jedes Jahr aufs Neue unternehmen, steigert sich die Unsicherheit und Angst mit jeder Seemeile Was erwartet sie diesmal? Allein schon das Ankommen in Hamburg ist beängstigend Dort ist alles anders als zu Hause: Menschen über Menschen, laute Geschäftigkeit am Hafen, hastiges Gewusel und eine unübersichtliche Anzahl großer und kleiner Segelschiffe

Die erste Anlaufstelle nach der Ankunft ist das Heuerbüro Ein dunkler, ehrwürdiger Ort, an dem ein Mann die Namen der Seeleute, die sich verdingen, in einem großen Buch notiert Vorher einigt man sich auf die Heuer, dann verpflichtet sich jeder Einzelne dem Kapitän mit seiner Unterschrift im Kontrakt, der geschlossen wird

Endlich steigen die Seeleute über das Fallreep zu »ihrem« Schiff hoch An Bord ist alles düster, eng und erst einmal fremd Unter Deck werden ihnen ihre Hängematten gezeigt, die sie sich zu zweit teilen müssen Der Kapitän begrüßt die Mannschaft und gibt das Kommando zum Ablegen Die Taue werden eingeholt, die Matrosen klettern in die Wanten, die Segel werden gehisst und das Schiff löst sich vom Kai Der Jüngste wird zum Koch in die Kombüse geschickt Die anderen scheucht der Maat herum Es geht los!

Manche kämpfen mit der Seekrankheit und versuchen vor allem, ihre Arbeit gut zu machen, um nicht aufzufallen Nachts weinen sich die Jüngsten vor Heimweh in den Schlaf Alle leben mit einer ständigen Bedrohung und Überforderung

Die Arbeit ist hart Bei Sturm, Wind, hoher See und dem sich aufbäumenden Schiff müssen die Matrosen hoch in die Wanten Das Deck ist rutschig vom

Salzwasser, die Hände steif vor Kälte Der Sturm reißt ihnen die gerufenen Kommandos von den Lippen, die Müdigkeit droht sie zu übermannen, Hunger und Durst sind allzeit gegenwärtig Der mitgebrachte Proviant – Gemüse, Käse, Wurst, gepökeltes Fleisch oder eingesalzene Krabben – bleibt nicht lange frisch Das Wasser muss abgekocht werden, weil es längst brackig geworden ist Das Brot ist schimmelig, die Butter ranzig Trotzdem wird alles verarbeitet und gegessen Es bleibt keine Wahl Die einzige frische Kost sind geangelter Fisch oder erlegte Robben In ihrer knapp bemessenen Freizeit schreiben die Schiffsfahrer Briefe an ihre Familien zu Hause, Briefe, die meist nie abgeschickt werden Auf jedem Schiff ist eine Bibel, aber nur der Kapitän liest aus ihr vor – sonntags zum Gottesdienst Trotz der harten Arbeit und wenigen Freizeit führen einige Seeleute Auftragsarbeiten aus Holz für die Kirche aus, wie die zwei ehemaligen Gestühlstüren in der Kirche St Johannis auf Hooge

Wenn das Wetter stürmischer wird und die Tage kürzer werden, wissen die Männer: »Bald geht es nach Hause!« Bevor sie an Bord des Zubringerschiffes gehen, füllen sie die Seesäcke mit Andenken und Gebrauchsgegenständen für ihre Lieben Die Mitbringsel der »gemeinen« Mannschaft beschränken sich auf Alltägliches: Steingutgeschirr, Linnen für

Bettbezüge, vielleicht eine schöne Teekanne oder, wenn noch ein bisschen Geld übrig ist, eine Dose Kakao Ansonsten haben die Männer während der Zeit auf See für die Kinder kleine Figuren geschnitzt Die Kapitäne bringen edle Möbel mit, Porzellan, feine Stoffe, Messingleuchter und Delfter Kacheln, um ihre großen Häuser zu schmücken Die Gedanken sind voller Erinnerungen an Orte, deren Existenz man nur glauben kann, wenn man sie selbst gesehen hat, wie die wunderbaren Häuser und Kirchen in Amsterdam, Den Haag oder Brighton

Dann stehen sie wieder alle hier am Anlegesteg auf Hooge: Ehefrauen, Mütter, Kinder, Geschwister, Großeltern Sie hoffen, dass derjenige, auf den sie warten, auch wirklich zurückkehrt

Wie groß muss die Freude gewesen sein, wenn man die Segel in der Ferne sah?

*

»No, Tutje, weerst du mit din Gedanken unnerwegens?« Ein freundschaftlicher Stoß in die Seite lässt mich unsanft in die Gegenwart zurückkehren Es ist Anton, der mir wieder ein Gläschen Köm reicht

»Unnerwegens, jo, dat weer ik wull«

Ich lache, nehme das Glas, kippe den Schnaps in einem Zug hinunter und freue mich sogar über das leichte Brennen im Hals Das tut bei dieser Kälte gut

Jedes Jahr am 21 Februar stehen die Menschen kurz nach Sonnenuntergang um die Biike Für viele ist es nur ein Relikt aus alter Zeit Aber es ist mehr Viel mehr Es ist ein Symbol für den Aufbruch

Für die Männer damals war es zwingende Notwendigkeit, zur See zu fahren, sie und ihre Familien brauchten das Geld Aber sie hätten sich dem Risiko wohl nicht immer wieder ausgesetzt, wäre da nicht auch die Sehnsucht nach der Ferne, dem anderen, dem Unbekannten gewesen Von meinen zur See fahrenden Vorfahren, meinem Großvater und Vater weiß ich, dass sie zeit ihres Lebens mit der »See« eng verbunden waren Sie hätten sich kein anderes Leben vorstellen können

Wenn ich an der Biike stehe, denke ich daran, dass ich in der langen Reihe derer stehe, die mir vorausgegangen sind Dass ich zu den Menschen gehöre, die stark, unbeirrt, nie verzagt und mit Gottvertrauen an einem Leben festhielten, das seinesgleichen suchte Menschen, denen ich in meiner Suche, Sehnsucht und Stärke ähnlich bin, auch wenn ich immer wieder einmal nicht mehr weiterweiß

VERGISS ES NICHT

Mein Leben verlief anders als gedacht, aber es war gut und wunderbar und nichts möchte ich missen

Denn alles gehört zu mir: Aufbrüche und Umbrüche, Umwege und Sackgassen, Neugier und Lust auf Leben, Zuversicht und mein Kinderglaube an einen Gott, der mich hält

Als kleines Mädchen ging es mir sehr gut Ich war das erste Enkelkind und meine zwei Großväter schenkten mir ihre ganze Aufmerksamkeit Der Großvater mütterlicherseits, der auf Pellworm lebte, nahm mich frühzeitig an die Hand und zeigte mir auf unseren Spaziergängen am Deich die Wunder der Natur Seine Worte habe ich bis heute nicht vergessen: »Allns, wat du hier an Schönes sühst, kümmt von baaben Vergät dat nich« (Alles, was du hier an Schönem siehst, kommt von oben Vergiss es nicht)

Ich habe drei jüngere Brüder und nach der Geburt des ersten war klar, dass die schöne Zeit als verhät-

scheltes Mädchen zu Ende war Ich hatte zu Hause viele Pflichten, sei es auf meine Brüder aufzupassen, meiner Mutter im Haushalt zu helfen und bei alldem nicht »unartig« zu sein Sonst nahm mein Vater mich sonntagmorgens nicht mit zur »Börse«, das war der Treffpunkt der Schiffer und Fischer

Mein Großvater väterlicherseits lebte auf Hooge und war Seehundjäger, wie schon sein Vater und Großvater Er hatte das schönste Lachen und es klingt noch immer in mir Mit ihm fuhr ich auf Jagd und zu anderen Halligen Ich sah zu, wie er die Seehunde vom Speck befreite und diesen dann abkochte Der Gestank waberte über die ganze Warft und den Tran musste ich im Winter trinken Ich kniff die Augen zu, rümpfte die Nase und würgte es hinunter

Die Erwachsenen sagten: »Stell di nich so an, dat is gesund Dorvun warrst du groot un stark!«

Meine Oma betrieb zusammen mit meinen beiden Tanten ein Café und bewirtete die Gäste, die in der Saison auf die Hallig kamen Meine gesamten Ferien verbrachte ich auf Hooge und genoss die Freiheit Hier hatte ich keine Pflichten Den ganzen Tag stromerte ich mit den Mädchen von der Warft durch die Hallig Wir banden Kränze aus Gänseblümchen und badeten so lange im Meer, bis die Lippen blau wurden und die Haut der Finger und Zehen verschrumpelt war Nur zu den Mahlzeiten musste ich bei den Großeltern erscheinen, dann aber mit ordentlich ge-

flochtenen Zöpfen und sauberen Händen Sonntags ging ich mit meiner Großmutter zum Gottesdienst, ansonsten konnte ich tun und lassen, was ich wollte

Aber alles hat seine Zeit und meine auf Hooge endete, als meine Großmutter starb und mein Onkel Café und Jagdrechte übernahm Es tat weh und ich habe Hooge sehr vermisst Das war der erste große Bruch in meinem Leben

Als die Frage nach einer weiterführenden Schule aufkam, war mein Vater der Ansicht, dass noch mehr Bildung nur vertane Zeit und rausgeschmissenes Geld wäre Letztendlich verdanke ich meinem Klassen- und Deutschlehrer, dass ich weiter zur Schule gehen durfte Ich kam auf das Theodor-Storm-Lyzeum in Husum Es war eine reine Mädchenschule und hieß auf Plattdeutsch: Tiepeschool Tetje Wind (Hühnerschule Theodor Storm)

Da saß ich nun mit meinen blonden Zöpfen und hatte keinerlei Erfahrung mit Mädchen, deren Väter Ärzte, Rechtsanwälte und Bauunternehmer waren

Die Mädchen erzählten, wie wunderbar ihr Zuhause war und was für tolle Autos die Eltern fuhren Wir hatten kein Auto, aber dafür ein Schiff, mit dem mein Vater Sand und Muscheln aus der Nordsee holte oder Stückgut transportierte Aber das zählte scheinbar

nicht Trotzdem machte die Schule Spaß und ich sog alles Neue begierig auf Allerdings tat ich selten mehr als nötig Mein Französischlehrer brachte es dann in einer Stunde, in der ich wieder einmal keine Vokabeln gelernt hatte, auf den Punkt: »Sie haben so etwas, was man als Intelligenz bezeichnet, Gertrude, nur schade, dass Sie sie nicht nutzen« Dem konnte ich nichts hinzufügen und so blieb es auch im Studium Irgendwie kam mir immer der Hunger auf Leben und Abenteuer dazwischen Es fiel mir sehr schwer, mich unterzuordnen, das zu tun, was ich nicht wollte Mich zog es in die Ferne, ich wollte reisen, nicht wie mein Vater in einer immerwährend gleichen Schleife leben Und ich habe Bücher gelesen, um meinen Horizont zu erweitern

Als der Mann, der mir sehr viel bedeutete, sich das Leben nahm, brach für mich eine Welt zusammen Ich versiebte das Physikum, wusste nicht weiter, nahm mir eine Auszeit und arbeitete auf dem Frachter meines Onkels als Schiffskoch Die Reise half mir, meine Gedanken und Gefühle zu sortieren Ich fand zurück in den Alltag und ich lebte mein Leben weiter, allerdings mit einer dicker werdenden Mauer als Schutz um meine Seele Mit den Jahren wurde sie immer undurchdringlicher

Ich absolvierte ein Studium generale, lernte meinen späteren Ehemann kennen und wurde Mutter Meine Kinder waren das Beste in meinem Leben Die Jahre vergingen als Familienfrau

Eines Tages fragte mich meine Tochter, warum ich so hart zu ihr sei Die Frage war wie ein Peitschenschlag Ja warum? Vielleicht war es aus Angst, wieder jemanden zu verlieren und verletzt zu werden? Ich begann mich und meine Lebensführung zu hinterfragen und ganz allmählich wagte ich kleine Schritte der Veränderung, neugierig, wohin sie mich führen würden

Während ich meine Kinder durch die Konfirmandenzeit begleitete, besuchte ich wieder öfters den Gottesdienst Oft kam ich enttäuscht nach Hause, weil das, was der Pastor von der Kanzel auf die Besucher niederprasseln ließ, hochtheologisch war und keinerlei Bezug zu unserem Leben hatte Ich fragte mich, wer damit etwas anfangen konnte Und ich überlegte, dass ich es ganz anders machen würde … Diese Gedanken brachten mich zur Lektoren- und weiter zur Prädikantenausbildung

Mein Leben kennt tiefe Brüche: der Selbstmord meines ersten Partners, der Unfalltod meines Bruders, der Tod meines Vaters und das Scheitern meiner Ehe Unsere Beziehung war eher ein Nebeneinander als ein Miteinander Trotzdem hielt ich zehn Jahre an

ihr fest, denn ich wollte mein Eheversprechen nicht brechen Es hat mich unendlich viel Kraft gekostet

Der tiefste Bruch war aber der Tod meines ältesten Sohnes Wir hatten ein sehr inniges Verhältnis Es war ein Segen, dass ich zu dieser Zeit während meiner Prädikantenausbildung in einer vertrauten Gruppe Geborgenheit fand und mich in meinem Leid fallen lassen konnte Auch meine Kinder taten alles erdenklich Gute für mich, obwohl sie selbst durch Trauer und Entsetzen wieder einen Weg in die Normalität finden mussten

Die Gottesdienste, die ich damals hielt, waren meine Art der Trauerbewältigung Immer wieder fanden auch Gedanken über meinen Sohn Eingang in die Predigt, ohne dass es die Gemeinde merkte Ich sprach von Geborgenheit – und dachte daran, wie gut es war, in meinem Schmerz bei Gott Halt zu finden Jedes Mal, wenn ich auf der Kanzel stand, hatte ich das Gefühl: Das bin ich! Hier darf ich so sein, wie ich bin

Gott ist gnädig Ich konnte dankbar annehmen, dass Gott meinen Sohn zu sich geholt hat, auch wenn er mir immer fehlen wird

Im August 2009 bin ich auf einer Hochzeit und sitze mit einigen befreundeten Pastoren und unserem

Propst, der mich zum Predigen gebracht hat, an einem Tisch Es geht um dies und das, meine Gedanken schweifen ab, bis plötzlich der Propst in die Runde fragt: »Kennt ihr vielleicht jemanden, der die Vakanzvertretung für Hooge übernehmen kann? Der Pastor dort geht bald in den Ruhestand«

Spontan sage ich: »Ich würde die Aufgabe gerne sofort übernehmen, aber ich darf ja nicht«

Drei Tage vergehen Ich sitze mit meinem Hund Paris im Strandkorb und genieße die Sonne, als das Telefon klingelt

Der Propst ist am Apparat: »Ist es dir ernst mit Hooge? Ich habe alles für dich mit dem Kirchengemeinderat geregelt Von den Bischöfen habe ich die pro­loco­ und pro­tempore­Genehmigung eingeholt

Du darfst jetzt als Prädikantin taufen und die Einsetzungsworte für das Abendmahl sprechen«

Doch ich zögere und zweifle an mir selbst Am nächsten Tag rufe ich den Propst zurück und bringe es in einem kurzen Satz auf den Punkt: »Ich kann das nicht«

Aber er lacht und antwortet: »Wenn ich nicht wüsste, dass du es kannst, hätte ich nicht alles längst in die Wege geleitet«

Im Spätherbst ziehe ich auf die Hallig Die Vakanzvertretung ist zunächst für ein Vierteljahr geplant, daraus wird ein halbes, bevor der neue Pastor seinen

Dienst antreten kann Es ist eine gute Zeit Ich bleibe weiterhin, schlüpfe für viele Jahre in die Rolle der stellvertretenden Pastorin Einen Talar trage ich bis heute nicht Zu einer Kirchenrätin, die danach fragt, sage ich: »Was würden die Hooger sagen, wenn ich nach so langer Zeit plötzlich einen Talar trage? Sie würden die Köpfe schütteln und grummeln: Wat schall dat denn? Is se nu totaal mall wurrn?« (Was soll das denn? Ist sie nun total verrückt geworden?) Und ich würde mir im Talar ehrlich gesagt auch verkleidet vorkommen, als wäre ich jemand anderes Entscheidend ist doch auch nicht das, was man trägt Es kommt auf die Wahrhaftigkeit an – dass das, was man sagt, und das, was man tut, im Einklang stehen

DER RICHTIGE PLATZ

Meine erste Wohnung auf Hooge ist klein, hässlich und meistens kalt Auf alle Fälle ist sie sicher, falls eine Sturmflut kommt – und das ist die Hauptsache Ich lebe in einer sogenannten Sturmwohnung Sie ist auf vier Betonpfählen gebaut, die tief im Boden verankert sind Seit der großen Flut von 1962 muss jedes Haus über einen sturmsicheren Raum verfügen

Neben der Wohnstube habe ich eine sturmsichere Küche und ein sturmsicheres Klo Ich laufe über einen laubfroschgrünen Noppenteppich und sitze mit meinen Gästen auf blauen Stühlen ohne Polsterung Der Kleiderschrank ist alt, der Schreibtisch steht ungünstig, weil man selbst Schatten auf die Tischfläche wirft, wenn man daran sitzt; der Fernseher auf dem Sideboard war vor 40 Jahren modern

Weil ständig die Heizung ausfällt, ist es in der Wohnung kaum wärmer als draußen Ich kuschele mich in mein Federbett oder wärme mich im Untergeschoss im Büro Unter meiner Wohnung liegt das Pastorat mit einem Raum, der als Büro genutzt wird,

als solches aber nicht auf den ersten Blick erkennbar ist Es ist einfach ein Raum mit einer Glühbirne an der Decke, Regalen mit Ordnern, einem alten Schrank und einem Telefon Auf dem Boden stapeln sich Schnellhefter mit Unterlagen Im Schrank liegen originalverpackte Leichenhemden Es ist mehr eine Rumpelkammer als ein Büro, doch der Raum ist immerhin warm Dann gibt es noch den »Pesel«, die gute Stube des Pastorats – und die wird beheizt Einen Schreibtisch überlässt mir der Lehrer des Ortes – einen Gartentisch, den im Winter niemand benutzt Egal, ich habe alles, was ich brauche, und es kann mir nicht besser gehen: Schließlich bin ich zu Hause – auf Hooge

Aus meiner Sturmwohnung schaue ich in nordwestlicher Richtung über die Schleuse bis zum Wasser Wenn ich unten in meinem Büro bin, geben die Fenster den Blick frei auf Hanswarft und Norderoog sowie den Glockenturm und den Friedhof Noch nie zuvor habe ich in Nachbarschaft mit den Toten gelebt, aber es ist weder befremdlich noch beängstigend Im Gegenteil, viele Verstorbene sind mir irgendwie vertraut Ich kannte sie persönlich oder wenigstens vom Hörensagen Ihre Geschichten begleiten mich, sind auch mit meiner eigenen Geschichte verwoben Hier haben alle ihre letzte, friedliche Heimat gefunden

Über Jahrhunderte hinweg waren alle Ländereien auf Hooge »Allmende-Land« – Land, das allen gehört Um jedem Bewohner der Hallig gerecht zu werden, wurde das Land jährlich neu verteilt

In den 1930er-Jahren führte man privaten Landbesitz ein Die Kirchengemeinde kaufte die Kirchwarft, auf der Kirche, Pastorat, Glockenturm und Friedhof liegen Für den Friedhof gilt noch immer die Allmende-Tradition Zu jedem Haus auf der Hallig gehört eine Grabstätte Für Gräber zahlt man weder Nutzungsgebühr, noch mietet man sie für eine begrenzte Zeit Auf Hooge sind der Tod und die letzte Ruhestätte umsonst

Früher lagerten viele Hooger grundsätzlich einen

Sarg auf dem Dachboden – sozusagen auf Vorrat Denn die wenigen Schiffsverbindungen zum Festland machten ein schnelles Übersetzen unmöglich

Heute steht für alle Fälle ein leerer Sarg in der kleinen Leichenhalle hinter der Kirche Auf dem Leichenanhänger wird der Sarg mit dem Verstorbenen zur Kirche gefahren Falls jemand auf dem Festland verstirbt, holen die Halligbewohner den Sarg im Leichenanhänger von der Fähre ab Schüler begleiten den Zug mit Kerzen Wenn ein Bewohner zu Hause stirbt, wird er ebenso feierlich begleitet Es ist ein berührendes und beeindruckendes Bild In Gesprächen mit den älteren Halligleuten ist der eigene Tod ein

immer wiederkehrendes Thema Die Menschen hier wissen um ihre Endlichkeit, ohne sich zu ängstigen Ältere bereiten sich ganz selbstverständlich auf den Tod vor Manche haben ihren Grabstein schon fertigen lassen Nur das Todesdatum muss noch ergänzt werden

Einmal musste sich ein Hooger eine neue Grabstelle aussuchen Er hatte sich ein neues Haus gebaut und zu diesem Grundstück gehörte kein Grab Mehrmals gingen wir über den Friedhof, um einen passenden Platz zu finden Mehrmals entschied er sich um Die eine Stelle sei zu nah am Zaun, an der anderen würde er zu sehr im Wind liegen Letztendlich fand er den perfekten Platz für seine letzte Ruhestätte

Vielen ist wichtig, wer sie zu Grabe trägt Es muss ein Vertrauter sein, der den Moment des Abschieds würdigt Das tun sie gern, die Halligbewohner – sie nehmen Abschied von Weggefährten und erweisen Respekt, selbst wenn es daran zu Lebzeiten gefehlt hat

Meine erste Amtshandlung auf Hooge war die Beerdigung einer alten Dame Sie und ihr Mann waren hier geboren, hatten aber den Großteil ihres Lebens auf dem Festland verbracht Der Mann war schon einige Jahre tot, als seine Frau starb Sie wollte neben ihm begraben werden – auf Hooge, in der heimatlichen Erde

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