169005508

Page 1


Leseprobe

Ellen Gunderson Traylor

Ruth, die Begnadete

Ein biblischer Roman

256 Seiten, 12,5 x 19,5 cm, gebunden, Übersetzung aus dem Amerikanischen

ISBN 9783746255088

Mehr Informationen finden Sie unter st-benno.de

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

© St. Benno Verlag GmbH, Leipzig 2019

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Besuchen Sie uns im Internet unter: www.st-benno.de

Gern informieren wir Sie unverbindlich und aktuell auch in unserem Newsletter zum Verlagsprogramm, zu Neuerscheinungen und Aktionen. Einfach anmelden unter www.st-benno.de

Alle Rechte vorbehalten

Originaltitel: Ruth a Love Story

© Published by Arrangement with Ellen Gunderson Traylor © der deutschsprachigen Erstausgabe 2000 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH, 35037 Marburg an der Lahn Deutsch von Silvia Lutz

Teil 2: Saatzeit

Teil 3: Wachstum

Teil 4: Ernte

Inhaltsverzeichnis

ISBN 978-3-7462-5508-8

© St. Benno Verlag GmbH, Leipzig

Covermotiv: © zolotareva elina/Fotolia

Umschlaggestaltung: Ulrike Vetter, Leipzig

Gesamtherstellung: Kontext, Dresden (B)

Hoffe auf den Herrn und tue Gutes, bleibe im Lande und nähre dich redlich.

Habe deine Lust am Herrn; der wird dir geben, was dein Herz wünscht.

Psalm 37,3-4

Ein Psalm Davids

Meine Zeit steht in deinen Händen ...

Psalm 31,16

Ein Psalm Davids

Die alte Frau lehnte im Türrahmen zu Isais Haus und spähte verstohlen aus dem dunklen Raum des Bauernhauses in den Sonnenschein hinaus. Ihre großen, grünen Augen, die trotz der tiefen Falten in den Augenwinkeln immer noch so gut sahen wie in jungen Jahren, erspähten eine flackernde Flamme auf einem selbst gebauten Altar im Hof vor dem Haus.

Sie schaute zu, wie ein Dutzend Männer aus dem tiefer liegenden Dorf sich zu einer sonderbaren Zeremonie zusammenstellten. Sie hörte aufmerksam zu, als der betagte Mann, der sie anführte, den Blick zum Himmel emporhob.

Isai und sein Vater Obed standen neben sieben jungen Männern, die alle gut aussahen wie reinrassige Hengste und attraktiv wie junge Löwen. Der ehrenwerte Mann, der Prophet, der diese Versammlung zusammengerufen hatte, hob seine blutverschmierten Hände zum Himmel empor. Auf der kleinen Feuerstelle des Altars lag eine geschlachtete weiße Taube. Ihr Lebenssaft tropfte auf das Brennholz und zischte in den Flammen.

„Das sind deine Söhne?“, fragte der Prophet.

„Ja, Samuel“, erwiderte Isai und betrachtete jene voll Liebe und Stolz.

Die Frau steckte den Kopf noch weiter aus der Tür und versuchte, jede Silbe, die gesprochen wurde, zu verstehen.

„Lass die Jungen vor mich treten, einen nach dem anderen“, befahl der Seher.

Die Frau sah mit laut pochendem Herzen zu, wie Samuel,

der oberste Richter Israels, ihre Urenkel mit prüfenden Blicken betrachtete.

Zuerst trat Eliab, der Älteste, vor.

Samuels Gesicht strahlte, als er ihn erblickte.

Das ist nur recht so, dachte die Frau bei sich. Er ist Isais Erstgeborener und der Prinz seiner Seele.

Aber dann verdunkelte sich die Miene des weisen Mannes, und er schüttelte den Kopf.

Eliab wurde weggeschickt, und Abinadab trat an seine Stelle.

Aber wieder schüttelte Samuel den Kopf, und Schamma, der Drittälteste, trat vor.

Einer nach dem anderen, bis zum Siebten, traten die Söhne vor den Propheten, und einer nach dem anderen wurden sie abgelehnt.

Mit einem verwirrten Blick in den Augen wandte sich Samuel wieder an seinen Gastgeber und fragte: „Sind das alle Söhne, die du hast?“

Isai warf einen Blick auf Obed. Der Großvater sagte nichts, sondern nickte nur mit dem Kopf zu den Berghängen hinauf.

„Es fehlt nur der Jüngste.“ Isai zuckte mit den Achseln. „Aber er ist doch sicher nicht …“

Samuel hob das Kinn und schaute Isai unerbittlich an.

„Aber er hütet die Schafe …“, stammelte der Vater.

„Lass ihn holen“, befahl der Seher. Dann gesellte er sich wieder zu den Ältesten, die mit ihm aus Betlehem heraufgekommen waren, und fügte hinzu: „Wir werden nicht ruhen, bis er kommt.“

Isai verließ widerwillig die Szene und wollte gerade den siebten Sohn losschicken, um den Jungen zu holen, als die stille Zuschauerin, die immer noch im Türrahmen stand, ihm winkte.

Sie hob ihren Stock und bedeutete ihm, zum Haus zu kommen.

„Lass mich gehen, mein Sohn“, bat sie. „Ich war erst vor ein paar Minuten bei dem Jungen. Ich weiß, wo ich ihn finden kann.“

„Aber, Großmutter Ruth“, widersprach Isai. „Es ist doch nicht nötig …“

„Willst du denn, dass der Prophet wartet, während jemand anderes ihn lange suchen muss? Ich kann auf dem kürzesten Weg zu dem Jungen gehen!“, flüsterte sie.

Der Vater, den alles verwirrte, was an diesem Tag um ihn herum geschah, gab schließlich seufzend nach. „Also gut, Großmutter. Aber sei vorsichtig.“

Die alte Frau, die die Pfade und Wege in der Umgebung des Hauses genauso gut kannte wie jeder Schafhirte, blinzelte ihm nur zu und begann, die mit Felsen übersäte Schlucht hinaufzusteigen.

David, dachte sie. Ihr Atem ging mühsam. Der Aufstieg war anstrengend. Mein kleiner David!

Mit ihren Augen, die trotz ihrer vielen Jahre nicht getrübt waren, und einem wachen Verstand, der die Wirren der Zeit überstanden hatte, ließ sie ihren Blick über den Berghang schweifen, der sie von der Schafherde trennte. Einige hundert Meter weiter, auf einer schönen Wiese, von der sich ein herrlicher Blick über das Land Kanaan bot, hatte sie den Jungen das letzte Mal gesehen.

Den ganzen Vormittag hatten sie im Schatten eines nach Osten Schutz bietenden Felsvorsprungs beieinander gesessen. David hatte ihr vorgesungen und auf seiner selbst gebauten Harfe gespielt – Gebete, die sie ihn gelehrt hatte, und die seine Ururgroßmutter, Noomi, Ruth gelehrt hatte. Den ganzen Morgen hatte sie ihm von ihrem Leben in Moab erzählt und von den zwei großartigen Männern, die ihr Gottes Liebe nahe gebracht hatten.

Gemeinsam hatten sie und der Junge von der Zukunft und von Gottes Absichten mit Israel geträumt.

„Ein Teil seines Planes zu sein, ist das Größte, was es im Leben gibt“, hatte sie ihn ermahnt. „Das haben mir meine zwei Ehemänner klargemacht.“

„Aber, Urgroßmutter“, hatte der Junge sich beklagt. „Wie soll ich jemals mehr sein als das, was ich bin – ein einfacher Schafhirte, ein Sänger auf den Weiden …?“

„Das kann ich dir auch nicht sagen“, hatte sie zugegeben und seine dunklen Locken mit ihrer adrigen Hand gestreichelt. „Ich weiß es einfach. Hier in der Tiefe meiner Seele“, hatte sie gesagt und mit dem Finger auf ihre Brust gedeutet. „Ich weiß nur, dass du ein Mann nach Gottes Herz bist. Der Herr hat große Pläne mit dir.“

Ruth stützte sich auf ihren Stock und brachte ihren rasenden Puls unter Kontrolle. Der Aufstieg hatte sie mehr angestrengt als gewöhnlich, denn sie hatte den Berg nicht in einem gemütlichen Spaziergang erklommen.

Als sie schließlich die Schafhürde erreichte, setzte sie sich einen Augenblick auf die niedrige Grenzmauer und ließ ihren Blick über das Feld schweifen, das vor ihr lag. Bald würde sie David sehen, aber sie wollte sich zuerst ein bisschen ausruhen.

Die Strahlen der Nachmittagssonne fielen schräg in Richtung des Jordan und des Landes, in dem sie geboren war.

Plötzlich erinnerte sie sich daran, wie Noomi oft auf dem Dach ihres Hauses in Kir-Hareset gestanden hatte und versuchte, einen Blick auf das Gelobte Land zu erhaschen. Dabei hatte sie sich oft gefragt, ob der Gott Israels sie wohl vergessen habe.

„Oh, Mutter Noomi“, flüsterte sie. „Der Prophet Gottes ist gekommen und will David sehen. Der Plan des Herrn und die Absicht Gottes. Vielleicht bricht die Zeit dafür jetzt an.“

Teil 1 Hunger

Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen?

Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?

Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen täglich?

Psalm 13,2-3

Ein Psalm Davids

1

Ezs war, als könnte sie ihn leibhaftig vor Augen sehen. Sein schwerer, bestickter Umhang war über seinen gebeugten Kopf gezogen, und seine Hände streckten sich zu den fernen Hügeln Judas aus. Er war nicht da. Sie wusste es. Aber jedes Mal, wenn sie allein auf das Hausdach stieg, wo er immer seine Abendgebete gesprochen hatte, erwachte er in ihrem Herzen wieder zum Leben, und sie war für diesen Moment frei von ihrer Einsamkeit.

„Ja, mein Mann“, flüsterte sie dann und stimmte in die vertrauten Verse ein: „Der Herr, unser Gott, ist ein Gott … Gedenke, o Herr, der Kinder Abrahams und segne Israel mit Frieden.“

Obwohl seit seinem Tod schon drei Jahre vergangen waren, war für Noomi die Erinnerung an Elimelech nicht verblasst. Im Gegenteil, die Witwe wunderte sich oft darüber, dass die Erinnerung so lebendig war, und fürchtete fast um ihren Verstand. Manchmal war sie sicher, seine Schritte auf der Galerie zu hören oder seine Stimme in der Halle zu vernehmen. Sie sprach mit keinem Menschen über diese Sinnestäuschungen. Denn sollten die Bilder verblassen, die Erinnerungen schwächer werden, dann würde sie verzweifeln und wäre der einsamste Mensch auf Erden.

Und so klammerte sie sich an Trugbilder. Die Bilder ließen sich nie festhalten. Auch jetzt verschwand der Traum in der Dämmerung des moabitischen Abends, und die schwache Erinnerung an das Flüstern ihres geliebten Mannes wurde von dem Lärm des Großstadtlebens erstickt.

Ihre Augen kehrten von dem Trugbild der Erinnerung zurück in die Gegenwart. Aber trotzdem erlaubte sie ihrer Seele nicht, sich von den Szenen, die sich unter ihr auf der Straße abspielten, oder von dem ausländischen Ort, an dem sie gezwungen war zu leben, beunruhigen zu lassen. Stattdessen hob sie ihren

Blick, genauso wie ihr Mann es immer getan hatte, auf zum westlichen Horizont, der jetzt im Abenddunst versank. Hinter diesem Horizont wohnten die Söhne der Verheißung – in Israel, wo jeder Windhauch der „Atem Gottes“ war.

Dort blieb die Sonne am längsten am Himmel stehen, als bedauere sie es, über den Grenzen des Gelobten Landes unterzugehen. Hier in Moab bestand die westliche Grenze nur aus einem Toten Meer, und das Land war zum größten Teil unfruchtbar und baumlos.

Das passt genau zu diesem Land, hatte sie oft gedacht. Dein Ursprung war gotteslästerlich, deine Wurzeln verdorrten in Ungnade.

Die Witwe ließ ihren Blick über die trockenen, welligen Felder gleiten, die sich nach Norden in Richtung Ammon und dann Gilead erstreckten. „Warum, Elimelech?“, hatte sie ihren Mann gefragt, als sie Kanaan verlassen und in diese Wüste gezogen waren. „Warum gehen wir nicht nach Norden? Die Wälder Gileads werden uns erfrischen. Die Granatäpfel, die Aprikosen …“

„Sei doch vernünftig, Noomi“, hatte er geantwortet. „Bin ich etwa ein Arzt, dass ich dort Medizin studieren, oder ein Schafhirte, dass ich meine Herden auf den saftigen Weiden im Norden hüten könnte? Nein, liebe Frau. Du hast einen Töpfer geheiratet. Und keinen schlechten!“

Damit war die Sache erledigt. Die Hungersnot, die ganz Juda bedroht hatte, war erbarmungslos gewesen. Sie hatte nicht nur die Lagerräume der Getreidehändler leer gefegt, sondern schließlich auch noch die ganze Wirtschaft zerstört.

Als Elimelechs Geschäft in Gefahr stand zusammenzubrechen, hätte er das mit hartnäckigem Ausharren ertragen können. Aber die Rivalität, die sich zwischen seinen zwei älteren Brüdern entwickelt hatte, die beide vermögende Grundbesitzer und führende Geschäftsleute auf dem Getreidemarkt waren, war für ihn unerträglich geworden. Als ihrer beider Wirtschaftsimperien beinahe zusammenbrachen, hatte der Druck der finan-

ziellen Not die Familie in zwei gegnerische Lager gespalten. Die Fehden hatten einen ständigen Hass zwischen den Verwandten geschürt und eine erdrückende Feindschaft gesät. Ihr Bruder Elimelech, der mit diesen Auseinandersetzungen nichts zu tun hatte, litt sehr darunter. Der sanftmütige Kunsthandwerker zerbrach beinahe daran. Also floh er in die große Hauptstadt der Töpfer: nach Kir-Hareset im Land Moab.

Allein schon der Name der Stadt, „Hauptstadt der Töpferei“, sprach für Elimelechs Gewerbe. Denn der Reichtum, den die Stadtbewohner erlangt hatten, war auf den bewundernswerten Kunstwerken aus bearbeitetem Ton und Sandstein aufgebaut, für die Kir-Hareset berühmt war.

Noomi drehte sich zu der Ecke auf dem Dach um, in der die Töpferscheibe ihres Mannes stand. Leintücher schützten sie vor dem Wind, der unablässig Sand und Schmutz durch das Haus wehte. In den Jahren, seit er nicht mehr lebte, war sie oft auf Zehenspitzen zu der Balustrade geschlichen und hatte das feine Tuch von dem Gerät hochgehoben. Sie hatte darüber gestaunt, wie ruhig dieses Gerät dastand, das Elimelechs Fuß im Laufe seines Lebens stundenlang zu einem leisen, drehenden Surren angetrieben hatte. Sie schüttelte den Sand Moabs von der Decke und legte sie wieder über das Gerät, das ihre kleine Familie ernährt hatte. Eine neue Freude und Dankbarkeit erfüllte sie. Aber die Töpferwaren von Kir-Hareset, gedreht, geformt, bemalt und graviert, die Rot- und Ockertöne, die unter der Glasur glänzten, erinnerten sie nur an die anstrengende Reise aus Kanaan und an die Wüstenfarben entlang der letzten Grenze Israels, der Arnon-Schlucht.

Als sie diese letzte Grenze, die sie von dem Land El Schaddais trennte, überquert hatten, war sie noch nicht sehr alt gewesen. Aber etwas an der unüberwindlichen Kluft, die sie überschritt, hatte sie schon damals zusehends altern lassen. Und die Jahre, die seitdem vergangen waren, hatten sie viel Kraft gekostet und sie innerlich ausgehöhlt, wie der Arnon,

der „reißende Strom“, der an der Grenze dieses Landes dahinfloss und es aushöhlte.

Sie erinnerte sich auch jetzt noch daran, wie sie mit Staunen an der steinigen, zerklüfteten Steilwand gestanden hatte, die der riesige Graben und die darin liegenden Wadis bildeten. Drei Kilometer breit von einer Felswand zur anderen und fast siebenhundert Meter tief spaltete die Schlucht den rotgelben Sandstein des moabitischen Hochlandes. Und doch war das Wadi Mujib unten nur vierzig Meter breit. Der Arnon grub sich durch einen gewundenen, schmalen Spalt in der Erde.

Vielleicht hatte Noomi zu viel Hang zum Mystischen, vielleicht neigte sie zu sehr zu symbolischen Deutungen, aber sie hatte nie das Gefühl von sich abschütteln können, dass es ein Unheil verkündendes Vorzeichen gewesen war, diese Grenze zu überschreiten, und dass es mit dem Leben ihrer Familie unweigerlich abwärts gehen würde, solange sie in diesem Land lebten.

Elimelech, der immer optimistischer gewesen war als seine Frau, hatte es nicht so gesehen. Er machte seinem Namen, „Gott ist König“, alle Ehre und hatte ihr beharrlich gesagt, dass der Herr alle Dinge in der Hand hielt und dass er selbst in ihren dunkelsten Augenblicken, wenn sie Gottes Hand nicht erkennen konnten, über ihrem Leben wachte.

Noomi lachte leise. Es war ein zynisches, unglückliches Lachen. Sie hatte bei der Entscheidung ihres Mannes Gottes Hand nicht erkennen können. Jetzt, zehn Jahre, nachdem sie Israel verlassen hatten, war ihre Hoffnung, dass der Herr sie führen würde, in noch weitere Ferne gerückt.

Sie war Elimelech aus Pflichterfüllung und Gehorsam gefolgt, aber mit wenig Glauben. Als sie eine Hand an ihr Tuch hob und es sich über den Kopf zog, um sich vor dem kalten Wüstenwind zu schützen, fühlte sie die trockene Haut auf ihren Wangen und fuhr mit dem Finger über die immer tiefer werdende Falte neben ihrem Mund.

„Alt …“, flüsterte sie bitter in den Schatten hinein. „Ich bin

alt, mein geliebter Mann, und dein Versprechen wurde mit dir begraben.“

Ein junger Mann stand wartend im Schatten neben der Haustür von Noomis Haus und warf einen Blick hinauf zu der Balustrade, die das Dach umgab. Anscheinend war die alte Frau endlich hineingegangen, und so trat er unbeirrt unter der Überdachung hervor und schlich auf die Straße. Ein weiterer schneller, prüfender Blick hinauf zu dem Dach versicherte ihm, dass seine Mutter schlafen gegangen war. Sein Herz schlug schneller. Die Lichter auf Kir-Haresets Marktplatz würden die ganze Nacht hindurch brennen, und die Musik und der Tanz setzten gerade erst ein. Wenn er sich beeilte, könnte er sogar seine Freunde noch finden, bevor sie in der fröhlich feiernden Menge untertauchten.

Er wusste, dass Noomi in dieser Nacht nur unruhig schlafen und wiederholt aufstehen würde, um in sein Zimmer zu schauen, und sich dann Sorgen machte, weil er nicht in seinem Bett lag. Aber sie würde nie das Haus verlassen oder sich auf die Suche nach ihm begeben, solange die ausschweifenden Riten und Festlichkeiten für den moabitischen Gott in Gang waren. Wenn er sich nur sicher sein könnte, dass sein älterer Bruder nicht loszöge, um ihn aufzuspüren, hätte er überhaupt keine Sorgen. Aber sobald er seine Gefährten fand und der Wein seine Wirkung zeigte, vergaß er Noomi, vergaß er seinen Bruder Machlon … und die Gegenwart Elimelechs, die wie ein Geist über Haus und Hof schwebte.

Kiljon konnte den Blick nicht vor dem verschließen, was an diesem Abend in der großen Hauptstadt passieren würde, in diesem Heiligtum von Moabs höchster Gottheit, Kemosch. Ebenso wenig gefiel ihm die Aussicht auf den Höhepunkt des Abends. Obwohl er die heidnischen Wunder dieses Landes ge-

noss, war er trotz allem immer noch ein Jude und konnte den Abscheu, den die Riten des moabitischen Gottesdienstes in ihm auslösten, nicht von sich abschütteln. Das betrachtete er jedoch als eine Schwäche seinerseits und nicht als Fehler der fremden Kultur, an die er sich gewöhnt hatte. Wenn er es nur lernen könnte, nichts zu fühlen – oder gar Lust an den entsetzten Schreien zu finden, die den Tempelplatz um Mitternacht erfüllten –, ginge es ihm gut, redete er sich ein.

Lieber so, als in ständiger Entrüstung und Verachtung zu leben wie seine Mutter oder die Realität zu leugnen, wie es andere Juden in Kir-Hareset taten. Kiljon würde irgendwann sein Erbe von sich abschütteln. Dazu war er fest entschlossen. Wenn er sich hier ein Leben aufbauen sollte, dann würde er lernen, sich anzupassen.

Bis jetzt wusste keiner seiner Freunde, dass er Jude war. Während er auf die Stadtmitte zulief, auf das immer heller strahlende Licht und die lauten Freudenrufe, nahm er seinen Umhang mit den Quasten ab und warf ihn hinter einen Strauch am Wegrand. Er würde ihn hier, wie sonst auch immer, vor Tagesanbruch wiederfinden. Und wenn Noomi ihn das nächste Mal sähe, hätte er ihn wieder sauber über den Schultern liegen.

Während er lief, übte er außerdem die paar Worte ein, die seine Herkunft verrieten, wenn er sie falsch aussprach. Die hebräische und die moabitische Sprache waren eng miteinander verwandt. Beide Völker hatten vor langer Zeit die alte Sprache Kanaans übernommen. Ihre Ähnlichkeit ging weit über die bloße Grammatik, über feste Formulierungen, den Satzbau und sogar Gedankengänge hinaus. Die moabitische Sprache war genau genommen einfach ein Dialekt von Kiljons Muttersprache, mit nur wenigen Unterschieden, sodass ein Jude leicht in Kir-Hareset zurechtkam, ohne als Außenseiter entlarvt zu werden.

Und wer wollte schon ein Außenseiter sein? Er zuckte mit den Achseln. Ein junger Mann gewiss nicht. In seinem Kopf dreh-

te sich alles, als er sich auf den ausgelassenen Lärm zubewegte und auf die Straßenfackeln, unter denen Tausende von schönen Frauen warteten.

Unter all den wunderbaren Dingen in Moab waren die Frauen wirklich das Aufregendste! Er erinnerte sich an die Warnungen seines Vaters – Warnungen, die nur dazu gedient hatten, seinen Kopf in die verbotene Richtung zu lenken. „Als unsere Vorväter aus Ägypten heraufzogen“, hatte Elimelech immer gesagt, „verführten die Töchter Moabs sie, und sie fielen in Sünde und begingen Hurerei mit Moabs Göttern!“ Er konnte immer noch den knorrigen Finger des alten Töpfers sehen, mit dem er jede einzelne Silbe unterstrich, und er konnte immer noch die Leidenschaft in den Augen des alten Mannes sehen. „Übe Barmherzigkeit und lebe demütig vor dem Herrn !“, hatte Elimelech immer abschließend gesagt. „Denn das ist alles, was er verlangt. Wenn du das tust, wird es dir gut gehen!“

Ein brennender Schmerz durchfuhr Kiljons Brust bei dieser Erinnerung. Er hatte seinen Vater über alles geliebt. Elimelech war ein sanftmütiger und aufrichtiger Handwerker gewesen, der immer versucht hatte, ihn in der Hoffnung Israels zu erziehen. Aber trotz all seiner Ermahnungen war der alte Mann in Armut gestorben. Sein ganzes Vermögen war während seiner langen, unheilbaren Krankheit für Ärzte ausgegeben worden. Elimelechs letzte Jahre waren grausam gewesen: Die Hungersnot und die zutiefst schmerzlichen Streitigkeiten zwischen seinen beiden Brüdern hatten ihn aus seiner Heimat vertrieben. Die Entscheidung, seine Heimat zu verlassen, hatte ihn auch um Noomis Liebe und Zuneigung gebracht.

Kiljon hatte das alles mit angesehen und hatte beschlossen, nie wieder den Mythen von Mose und den Vätern zu glauben. „Wenigstens ist Kemosch ein Vater-Gott“, redete er sich ein. „Er ist genauso glaubwürdig wie Jahwe!“ Was war also schon dabei, wenn er Menschenblut forderte? Immerhin wurde Moab

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.