Tina Willms In der Liebe zuhause
Inspirationen zur Jahreslosung und den Monatssprüchen 2024
Die Rechte der Texte in diesem Buch liegen bei der Autorin.
Bei Interesse an einer Lesung oder Schreibwerkstatt wenden Sie sich bitte direkt an Tina Willms: tina.willms@t-online.de.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2023 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Agentur 3Kreativ, Essen, unter Verwendung eines Bildes von © Shutterstock/David S. Rose
Lektorat: Viktoria Tersteegen
DTP: Breklumer Print-Service, www.breklumer-print-service.com
Verwendete Schrift: Cronos Pro, Adobe Garamond Pro Gesamtherstellung: Finidr, s.r.o.
Printed in Czech Republic
ISBN 978-3-7615-6948-1
www.neukirchener-verlage.de
INHALT
Vorwort
„Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“ Fast klingt es in der Jahreslosung, als sei die Liebe ein Raum, in dem man zuhause sein könnte. Einer, in dem wir zu träumen beginnen, von dem, was werden könnte. Solche Träume und Räume haben wir nötig in einer Zeit, in der so vieles ins Wanken geraten ist.
Wie können wir Platz für die Liebe schaffen und ihrer leisen Stimme Gehör verleihen gegen das Getöse von Krieg und Gewalt? Wie lassen sich die Türen offen halten für Menschen, die im Traumraum der Liebe leben und die Welt auf sanfte Weise verändern wollen?
Ich möchte ein Gegengewicht setzen, da, wo ich es kann. Ob es etwas ausrichten wird, weiß ich oft nicht. Die Liebe geht in Vorleistung und wird dabei unterstützt von der Hoffnung auf einen guten Ausgang.
Im Laufe des Schreibens merkte ich, dass viele Texte sich mit Musik beschäftigen. Ob die Musik mit der Liebe verwandt ist? Was könnte noch unter diesem Dach der Liebe zuhause sein?
Wieder haben viele Menschen mich unterstützt, dieses Buch zu veröffentlichen. Ihnen danke ich von Herzen. Stellvertretend für alle seien einige namentlich genannt:
Meine Schwester Heinke Willms hat wieder einen Gastbeitrag geschrieben; ihr, Birgit Große, Annette Baden-Ratz und Jan-Lukas Willms verdanke ich wertvolle Hinweise zur Überarbeitung des Manuskripts.
Viktoria Tersteegen hat als Lektorin die Entstehung begleitet. Der Verlagsleiterin Ruth Atkinson danke ich, dass sie mich auch in diesem Jahr wieder ermutigt hat, dieses Buch zu schreiben.
Ein liebevolles Jahr 2024 wünsche ich Ihnen, mir, uns.
Hameln, im Februar 2023
Tina Willms
Auftakt: An die Zukunft
Liebe Zukunft, von der ich nicht weiß, wie du aussiehst. Es gibt Zeiten, da kann ich kaum an dich glauben. Manchmal erscheint es mir unwahrscheinlich, dass es dich gibt. Erst recht nicht für eine Ewigkeit. Ob du in das schauen kannst, was wir Gegenwart nennen? Sollte es so sein, dann weißt du, dass die manchmal entmutigend ist. Ja, vielleicht bekommst du gelegentlich sogar Angst um dich selber?
Ich jedenfalls gebe zu, dass ich zuweilen verzagt bin. Ich weiß nicht, ob ich in dich, liebe Zukunft, Vertrauen setzen kann. Dabei kannst du ja gar nichts dafür.
Manchmal kann Vertrauen wohl nur ein „Trotzdem“ sein. Beharrlich mogelt es sich in mein Verzagen. Und fängt einfach an, mit einem behutsamen „Ja“ zur Gegenwart. Da, wo sie nah ist und klein und so schön.
Dann höre ich plötzlich das Lied, das eine Nachbarin im Treppenhaus summt. Und sehe im Fensterrahmen den Streifen aus Azur, der zwischen Wolken über den Häusern schwebt.
Jetzt ist heute und ich bin hier. Ein neuer Tag ist da und nun beginnt ein neues Jahr.
Ich nehme mir vor, dem „Trotzdem“ einen Raum zu geben in meinen Gedanken. Als ob es ein Brachland sei, aus dem etwas werden könnte, wenn ich beginne, es zu pflegen.
Es könnte ja sein, liebe Zukunft, dass du Vertrauen in mich setzt. Und ich dazu beitragen kann, dass es dich gibt.
JAHRESLOSUNG 2024:
Liebevoll leben
Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.
1 KORINTHER 16, 14 (E)
Liebe: ein all-umfassendes Projekt
Gott ist die Liebe: Das glauben zu dürfen, gehört zu den schönsten Wendungen in meinem Leben. Denn es gab eine Zeit, da haben Menschen mir Angst gemacht mit Gott. Und ich habe geglaubt, was sie erzählten. Von einem Gott, der alles sieht und kontrolliert. Er verlangte von mir, bis in die kleinsten Details hinein „ohne Sünde“ zu leben. Alles musste vor ihm bestehen: Taten, Gedanken, Gefühle. Sonst drohten drastische Strafen im Jüngsten Gericht. Ja, ich hatte Angst vor diesem Gott. Vor allem aber sorgte ich mich um die Menschen, die nicht auf die richtige Weise an ihn glaubten.
Irgendwann begann dieser Glaube zu bröckeln. Wie konnte Gott denn behaupten, er liebe die Menschen, und gleichzeitig so vielen von ihnen ein brutales Gericht ankündigen, in dem sie vernichtet werden würden? Stärker und stärker wurden meine Zweifel.
Zum Glück traf ich Menschen, die auf eine andere Weise glaubten als ich bisher. Sie hörten mir zu und nahmen meine Zweifel ernst. Sie erzählten mir von einem Gott, dessen Name „Liebe“ ist.
Wie befreiend war es, die Angst hinter mir lassen zu dürfen! Und Gott zuzutrauen, dass er gnädiger ist, als manchen Menschen lieb ist. Sein Herz ist weiter, als wir uns vorstellen können und sein Wesen ist Liebe. Mein Glaubensbekenntnis, ganz kurz gefasst, ist seitdem dieser Bibelvers:
Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm (1. Johannes 4, 16b (L)).
(Wenige Zeilen darunter dieser: Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus (V. 18a).)
Was für eine schöne Verheißung: Wenn wir in Gott bleiben, so wohnen wir in der Liebe selbst und unserem Leben haftet schon etwas Himmlisches an.
Die Jahreslosung für 2024 variiert diesen Gedanken:
Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe. 1. Korinther 16, 14 (E)
Ich höre diese Worte nicht zuerst als Aufforderung, sondern als Einladung: Herzlich willkommen unter dem Dach der Liebe! Dort, wo Gott selbst das Zuhause ist.
In diesem Zuhause – so stelle ich mir vor – gibt es viele Wohnungen. Unterschiedliche Räume sind da, auch Wände, die sie umgeben und begrenzen. Aber niemand lebt abgeschottet und für sich allein. Es gibt Türen, die uns verbinden. Wir können einander besuchen und kennenlernen.
Im Haus der Liebe ist genug Platz für jede:n von uns.
Menschen unterschiedlicher Religionen und Konfessionen wohnen dort. Ja, der Gastgeber nimmt sich selbst so sehr zurück, dass sogar Menschen, die nicht an ihn glauben, willkommen sind.
Und so hat dort eine Ökumene Raum, die, wie ihr Name sagt, „die ganze bewohnte Erde“ umfasst. Weltumspannend ist sie und schließt alles ein, was lebendig ist; Menschen und Tiere und Pflanzen.
Im Haus der Liebe gibt es kein Machtgebaren im Namen Gottes. Denn wir wissen, dass niemand die Wahrheit endgültig und für immer hat. Und so gibt es nur ein Fragen danach, ein gemeinsames Ringen darum. Und manchmal einen Moment, flüchtig und fragil, in dem wir sie in den Händen halten, bevor sie uns und sich selbst neu infrage stellt.
Wichtiger als die Wahrheit zu besitzen, ist es, in der Liebe zu leben.
Unter ihrem eigenen Dach ist sie ein unbestechlicher Prüfstein für das, was wir tun. Denn dort soll alles ihren Namen tragen.
Ich stelle mir vor:
Eine gibt auf die andere acht. Nicht nur in der eigenen Wohnung. Wir fragen, wie es dem Nachbarn geht. Wenn jemand krank ist, kümmern sich die anderen um ihn. Leidet eine, so wird sie besucht. Wir nehmen Rücksicht aufeinander.
Und wir feiern miteinander, wieder und wieder feiern wir die Liebe. Jede:er bringt etwas mit. Unbekannter Geschmack auf der Zunge, fremde, neue Klänge im Ohr. Miteinander essen, singen, tanzen, lachen.
Mag sein, dass es uns nicht immer gelingen wird, in der Liebe zu bleiben. Aber wir können zurückkehren zu ihr, jederzeit, wo immer wir uns befinden.
Die Momente, in denen wir in der Liebe wohnen, sind anrührend schön. Himmlisches haftet an ihnen. Schon heute, auf dieser Erde, in dieser Zeit, in der wir leben.
Lieben Im Trotzdem wohnen, dem zugigen Zelt.
Zerbrechlich die Wände. Unverwundbar der Raum.
Sich wandelndes Zuhause im Niemandsland.
(Aus: Tina Willms, Momente, die dem Himmel gehören. Gedanken, Gedichte und Gebete für jeden Tag. © 2021 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, S. 16.)
366 × 3
Ein Jahr, um in der Liebe zu leben. Sie wahrnehmen, mit allen Sinnen: sehen, hören, spüren, riechen, schmecken.
Ein Tagebuch anlegen, am Abend drei Dinge eintragen, die in Liebe geschehen sind.
366 Mal fragen: Wo ist mir die Liebe begegnet? Wo habe ich sie geschehen lassen?
366 x 3=1098. So viele Momente, in Liebe gelebt, festgehalten auf Papier.
Blättern, erinnern, schauen. Und am Ende des Jahres fragen: Hat sich etwas verändert, in meinem Leben, in mir?
Yehudi Menuhin und die Liebe
Wunderkind, Jahrhundertgeiger – so wurde der Violinist Yehudi Menuhin genannt. Doch war er nicht nur ein überragender Musiker, sondern auch ein Weltbürger und Humanist.
Das macht eine Episode in der Autobiografie „Mein Leben“ von Marcel Reich-Ranicki deutlich.
Marcel Reich Ranicki, zum ersten Mal im Warschauer Getto von der Musik Menuhins verzaubert, erzählt, wie er 1956 den Geiger in Warschau in einem Konzert persönlich erlebt.
Der Konzertsaal ist rappelvoll, an den Seiten stehen Studierende, die sich nur billige Stehplätze leisten können. Als Menuhin die Bühne betritt, wird es still im Saal. Gespannt erwartet das Publikum den ersten Ton.
Doch Menuhin beginnt noch nicht zu spielen. Er bittet die Stehenden, zu ihm auf die Bühne zu kommen und sich dort auf den Boden zu setzen. Inmitten von Hunderten junger Menschen hebt er dann Geige und Bogen und lässt seine Musik erklingen.
Viele Jahre später, 1977, gründet Menuhin die europäische Organisation „Live Music Now“. Sein Anliegen ist, Musik zu denen zu bringen, die nicht selber in Konzerte gehen können. Darum vergibt „Live Music Now“ Stipendien an Musikstudierende und vermittelt ihnen Auftritte an besonderen Orten. Menuhin selbst holte einst die am Rande Stehenden auf die Bühne. Die Stipendiat:innen von „Live Music Now“ bringen heute die Bühne zu denen am Rande.
Operngesang klingt auf den Fluren eines Senior:innenzentrums. Die Sänger:innen erzählen die Geschichte zu den Liedern, die sie singen. In der Pausenhalle einer Schule spielt ein Quintett. Die Schüler:innen erfahren, wie ein Fagott aussieht und hören zum ersten Mal Klarinette,
Oboe und Horn: Wie unterschiedlich sie klingen und wie gut sie doch zueinander passen.
Auch in Krankenhäusern und Hospizen treten die Studierenden auf. Sie überlegen sich, welche Musik die Menschen dort erreichen und berühren könnte.
Ganz anders sei es, als in einem Konzertsaal zu spielen, so erzählt einer von ihnen in einem Interview.
Yehudi Menuhin war der Ansicht, dass Musik die Welt verändern kann.
Marcel Reich-Ranicki bezweifelt das. Selbst die Musik habe nicht verhindern können, dass Auschwitz geschehen konnte, so argumentiert er.
Das stimmt.
Und doch: Musik kann Menschen verzaubern, selbst, wenn sie in schweren Lebenslagen, ja geradezu aussichtslosen Situationen sind. Sogar im Getto geschah das, Marcel Reich-Ranicki hat es selber erlebt. Und so mag es sein, dass es der Musik nicht möglich ist, Leben zu retten.
Leben verändern zum Guten hin: Das aber kann sie.
Darin ist sie verwandt mit der Liebe, scheint mir.
Die ist viel leiser und auch langsamer als Hass und Gewalt. Und so erscheint es manchmal, als hätten die dunklen Mächte die Oberhand über das Leben.
Liebe aber ist subversiv auf die feine Art. Sie lässt sich nicht unterkriegen. Ihr zarter Ton dringt durch und schwingt lange nach. Hoffnung und Schönheit bringt er ins Dasein, mit Klängen, die Menschen berühren. Liebe macht spürbar, wofür es sich zu leben lohnt, und gibt Kraft, selbst unter widrigen Umständen weiterzumachen. Selbst wenn sie den Tod nicht verhindern kann, so bleibt sie doch da und begleitet uns.
Die Liebe hat viele Spielarten. Musik, die die Welt zum Guten verändert, ist eine davon. Yehudi Menuhin hat mit seiner Geige und mit seinem Leben die Liebe zum Klingen gebracht.
Wenn es von Gott heißt, dass sie selber die Liebe ist (1. Johannes 4, 16), dann scheint mir nicht ausgemacht, dass Hass und Gewalt das letzte Wort beanspruchen können über unser Leben.
(Nach: Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, 9. Auflage, Stuttgart 1999, S. 527ff.; https://www.livemusicnow-berlin.de/yehudimenuhin/, Zugriff am 01.03.2023.)