SUSANNE ROLL
AMY – EINE BUSFAHRT MIT FOLGEN

![]()





Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2023 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn Koproduktion mit Camino im Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de, unter Verwendung von Bildern © Roquillo Tebar, Eucalyp, bsd studio, SunnyColoring (shutterstock.com)
Lektorat: Anja Lerz, Moers
DTP: Breklumer Print-Service, www.breklumer-print-service.com Verwendete Schriften: Adobe Garamond Pro, Pinto Gesamtherstellung: Finidr, s.r.o.
Printed in Czech Republic
ISBN 978-3-7615-6920-7 (Neukirchener Verlag)
ISBN 978-3-96157-199-4 (Camino)
www.neukirchener-verlage.de www.bibelwerkverlag.de
Mut, Geduld, Mut, Liebe, Mut, Durchhaltevermögen, Mut – all das bedarf es, um Schlechtes in Gutes zu verwandeln.
Für Lydia und Kira und all die anderen wunderbaren Menschen an meiner Schule
Wo genau waren eigentlich die sechs Wochen Sommerferien geblieben? Noch im Juli hatte Amy sich auf so vieles gefreut: auf Urlaub mit ihren Eltern an der Nordsee, chillen im Freibad mit Vanessa und Laura, eine Woche Reiterhof mit Wurzel und Co., Kino, Schützenfest, Brunch mit Sushi im Ichiban … An Schule wollte sie in dieser Zeit gar nicht denken. Hatte sie auch nicht. Doch jetzt war es sechs Wochen später, Donnerstagmorgen, 7 Uhr, schon fast Ende August. Der erste Schultag, verregnet, viel zu früh und Killer der guten Laune.
Amy – Amelie Marie Heine – verdrehte die Augen. Ungeduldig zerrte sie am Reißverschluss ihrer Jacke. Wieder einmal verklemmt. Er ging nicht hoch und auch nicht runter. So ein Mist. Kalter Wind fuhr ihr um die Beine, und Regen prasselte auf ihre Schuhe. Alles war nass. Das alles machte nicht gerade bessere Laune.
Immer noch zog und zerrte Amy an ihrem Reißverschluss, als ihr plötzlich, wie aus einem wabernden Nebelschleier, die Worte ihrer Mutter in den Sinn kamen: »Nicht mit Gewalt, Amy, nicht mit Gewalt. Versuch, eine andere Lösung zu finden!«
Nun gut, dieser Rat hatte sich eher auf den Umgang Amys mit ihren Spielkameraden im Sandkasten bezogen, als sie noch klein war. Amy wollte die schöne rote Schaufel haben, Ben leider auch. Amy hatte Ben kurzerhand den Arm verdreht und ihm Sand ins Gesicht geworfen. Ben hatte nur diesen einen Arm, der andere fehlte zur Hälfte, also hatte Amy leichtes Spiel gehabt. Innerlich hatte sie triumphiert, doch Amys Mutter gönnte ihr diesen Triumph nicht.
»Es kommt nicht darauf an, dass man gewinnt, Amy«, hatte sie gesagt und ihr sanft die Schaufel aus der Hand genommen, »sondern wie.«
Mit einem Lächeln hatte sie Ben die rote Schaufel in seine kleine fette Hand gelegt. Amy war entrüstet und enttäuscht gewesen. Warum mussten sich Eltern immer einmischen, besonders dann, wenn man doch schon alles geklärt hatte? Ben hätte doch nur ein wenig geheult, sich dann aber seinem Schicksal gefügt. So aber hatte er gewonnen. Sein überhebliches Grinsen, das er aufgesetzt hatte, hatte es nicht besser gemacht.
»Gewalt erzeugt nur Gegengewalt«, hatte ihre Mutter Amy erklärt. »Weil du mich schlägst, darf ich dich auch schlagen? Überleg doch mal, Amelie, wo kämen wir denn da wohl hin?«
Damals war Amy vier Jahre alt gewesen und hatte bei sich gedacht: »Wo kämen wir da wohl hin? Na, dann hätte ich jetzt die rote Schaufel!«
Sie hatte in ihrem Leben noch viele solcher Situationen erlebt, in denen sie impulsiv ihre Interessen mit Muskeln und Schlagkraft hatte durchsetzen wollen. Doch ihre Mutter ließ einfach nicht locker. Aus dem Spruch: »Es ist nicht wichtig, dass man gewinnt, sondern wie man gewinnt«, wurde ganz schnell eine Erweiterung: »Es ist überhaupt nicht wichtig zu gewinnen.«
Warum um Himmels Willen fiel ihr das gerade jetzt ein? Früh am Donnerstagmorgen, bei Regen und Kälte? Sie wusste es: Es war schon wichtig, dass Amy den Kampf mit ihrem Reißverschluss gewann und er tat, was sie von ihm wollte, denn ihr Pulli wurde nass.
»Versuch, eine andere Lösung zu finden … Sei geduldig, umsichtig, schlau ...«
Also gut. Amy untersuchte mit beiden Händen den störrischen Reißverschluss und stellte fest, dass ein Stück Futter eingeklemmt war. Vorsichtig ruckelte sie nun daran herum, friemelte das Futter nach rechts, während sie mit der anderen Hand den Reißverschluss vorsichtig nach unten bewegte. Der Stoff war frei, der Reißverschluss ließ sich wieder schließen.
»Wunderbar!«, dachte Amy entnervt, Eltern mussten nicht nur altklug und weise daherreden, sie behielten für gewöhnlich auch noch recht. Manchmal wünschte sich Amy bei ihrer Mutter ein wenig mehr Gelassenheit, ein Stück Gelassenheit von ihrem Vater. Der war so schön bequem in allem. Er wäre wahrscheinlich einfach auf der Parkbank an der Sandkiste sitzen geblieben, hätte müde sein Buch gehoben und halbherzig gesagt: »Na, Amy, das war aber nicht richtig. Beim nächsten Mal behält aber Ben die Schaufel.«
Die Bushaltestelle füllte sich allmählich mit anderen Schulkindern. Manche schwatzten gut gelaunt miteinander, was Amy aufgrund der Tatsache, dass es in Strömen goss, viel zu früh war und der erste Schultag bevorstand, überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Manche tuschelten leise und geheimnisvoll, andere wischten und tackerten auf ihren Handys herum und wieder andere blickten stumpf vor sich hin, die Hände in den Jacken vergraben und Kopfhörer in den Ohren. Zu Letzteren gehörte Amy.
Sie nickte Vlada und Darja kurz zu. Die beiden stammten aus Moldawien und waren vor den Sommerferien in ihre Klasse gekommen. Dann schlug sie die Kapuze über den Kopf und starrte auf die Pfützen.
»Hi, Amy«, ertönte eine Stimme hinter ihr. Ohne aufzublicken, wusste sie, wer das war. Ben, der Einarmige, Ben, der Krüppel, Ben, der Nervtöter. Amy zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung. Sie wusste, dass es falsch war, das zu denken, aber sie dachte das ja nicht, weil Ben behindert war und nur einen Arm hatte, sondern weil er nervte und sie ihn einfach nicht mochte. Seit der Auseinandersetzung im Sandkasten hatte sie ihn buchstäblich gefressen. Blöd nur, dass Amys Mutter mit Bens Mutter befreundet war, da waren Berührungspunkte leider nicht ganz selten. Außerdem war Amy die Ältere. Ihr kam automatisch die Rolle der Vernunftinhaberin und des Kümmerkommandos zu. Es wurde von ihrer Mutter stillschweigend vorausgesetzt, dass sie sich um Ben kümmerte.
Wieder verdrehte Amy die Augen. Sie hatte aber auch wirklich schlechte Laune heute! Dennoch rang sie sich zu einem »Hi, Ben« durch.
Bevor er sie fragen konnte, wie ihre Ferien gewesen waren, kam der Bus. Zum Glück. Amy wollte sich einfach nicht verpflichtet fühlen, sich mit Ben zu unterhalten, nur, weil ihre Mütter befreundet waren. Der Bus fuhr haarscharf an die Kante der Haltstelle und erwischte natürlich die größte Pfütze. Die Kinder sprangen kreischend zurück. Ben, der leider nicht so schnell war, erwischte es volle Breitseite. Die gesamte Hose und die Schuhe waren triefend nass.
Die Tür schwang auf. Auch das noch! Busfahrer Reinert. Konnte Amys Laune noch tiefer sinken? Busfahrer Reinert war
das, was man ein Ekel nannte. Er genoss die kleine Macht, die er auf die Schüler ausübte, ließ auch die Tür bei Regen schon mal länger zu, nur, weil er es konnte. Amy wunderte es insgeheim, warum er sie heute so schnell öffnete, aber er hatte ja die Pfütze getroffen und somit seiner kleinen teuflisch gemeinen Ader Genüge getan.
Alle Schüler, die an ihm vorbeigingen, nuschelten ein »Guten Morgen« und versuchten, so schnell wie möglich an ihm vorbeizukommen. Keiner wollte riskieren, in sein Kreuzfeuer zu geraten. Und dann kam Ben. Ben, der Einarmige, Ben der Krüppel. Klitschnass wie er war, stolperte er fast die Stufen hoch, denn sein Rucksack und sein Sportbeutel waren ihm nach vorne über die Schulter gerutscht.
»Du verdreckst mir meinen Bus«, schimpfte Busfahrer Reinert. Amy sah ihm genau an, dass er nur auf diese Gelegenheit gewartet hatte. Selbstgefällig schob er seinen dicken prallen Bauch vor und stützte sich auf sein Lenkrad. Wütend und gehässig funkelte er Ben an. »Und wo ist deine Fahrkarte?«
Alle anderen Schüler waren so vorbeigekommen, ohne großartig die Fahrkarte zeigen zu müssen. Machte ja auch keinen Sinn, denn es waren noch die alten aus dem letzten Schuljahr. Außerdem kannte Herr Reinert alle Schüler ohnehin schon seit Jahren. Doch auf Ben wollte er heute einfach herumhacken.
Bens Karte baumelte am Rucksack und hatte sich verdreht. Ein Kind mit zwei Armen hätte kurz danach gegriffen und sie vorgezeigt, Ben aber musste auch noch seinen Sportbeutel festhalten. Zum dritten Mal am heutigen Morgen verdrehte Amy die Augen und griff kurzerhand nach der Karte.
»Hier«, sagte sie und hielt sie so, dass Busfahrer Reinert sie sehen konnte. »Ist eh die alte. Die neue Fahrkarte bekommen wir
doch erst nächste Woche«, sagte Amy. »Wissen Sie doch. Oder haben Sie das in nur sechs Wochen vergessen?«, fügte sie hinzu, da sie es sich nicht verkneifen konnte, Busfahrer Reinert auch ein wenig zu piesacken.
Busfahrer Reinert schnaubte ungehalten, während Amy schnell weiterhuschte. Einen wirklichen Streit wollte sie auch nicht vom Zaun brechen, nicht gerade am ersten Tag, nicht bei Regen und vor allem nicht so früh.
»Du Saubeutel tropfst mir meine Stufen voll«, hörte sie Busfahrer Reinert noch zu Ben sagen. »Sieh zu, dass du nach hinten kommst, aber wehe, du setzt dich hin!«
Als wäre der Bus nicht ein Bus, sondern sein persönlicher Palast. Erwachsene verlangten von Kindern immer, dass sie nicht fluchten oder andere beschimpften oder beleidigten, aber Busfahrer Reinert tat das ungeniert, als hätte er das Recht darauf gepachtet.
Ben schlurfte mit seinem Gepäck umständlich an Amy vorbei. »Danke, Amy«, raunte er und versuchte sich dann ein Stück weiter nach rechts zu bewegen, um sich an der Griffstange festhalten zu können. Busfahrer Reinert wartete nicht, bis Ben sein Ziel erreicht hatte, sondern startete. Ben wurde nach vorne, nach hinten und zur Seite geschleudert. Er hangelte sich zur Stange und klammerte sich mit dem gesamten Arm daran fest. Amy sah im Rückspiegel des Busses das höhnische Grinsen des Busfahrers. »Selber Saubeutel«, dachte sie. »Als Respekt und Anstand verteilt wurden, hast du eindeutig gefehlt.« Amy mochte Ben nicht besonders, aber Busfahrer Reinert mochte sie noch weniger.
Amy trottete der Masse hinterher auf das Südgebäude zu. Ein tristes, graues Betongebäude – quadratisch, praktisch, nicht so gut – lag vor ihr im strömenden Regen. Daneben lag das Nord-
Amy stöhnte innerlich auf: Unselbstständigkeit und Getue nervten sie. Auch mit nur einem Arm konnte man sich doch bitte etwas geschickter anstellen! Sie fühlte sich nicht verpflichtet, ihm zu helfen, Mütter hin und Mütter her. Daniel kam hinter ihr die Treppe hoch und begrüßte sie. Sofort erkannte er ihre schlechte Laune und folgte ihrem Blick.
»Mann, Amy«, sagte er und drehte auf dem Absatz um. »Ist doch wirklich kein großes Ding. Du musst bloß immer eins draus machen …«
Die letzten Worte gingen im Gelächter und Gequatsche der anderen Schüler unter, die hinter ihnen folgten. Amy sah, dass Daniel die wenigen Stufen der Treppe hinuntersprang und auf Ben zulief. Wäre er nicht einer ihrer Freunde, hätte sie ihm die letzte Bemerkung sicher krummgenommen. Aber Daniel verstand es, ähnlich wie Vanessa, Amy zwischendurch den Kopf zurechtzurücken.
15 gebäude, das etwas älter war, aber genau so hässlich. Amy hatte einfach schlechte Laune, die in der Schule selbst dann auch nicht besser wurde. Wie es schien, war ihre Klassenlehrerin Frau Wilke krank; die 7b hatte gleich im ersten Unterrichtsblock Vertretung bei Herrn Pause. Er war unorganisiert, zerstreut und redete immer im gleichen monotonen Tonfall, als würde er sich damit selbst gern einschläfern. Amy drängte sich zusammen mit den anderen die Treppen hoch, den schmalen Gang im zweiten Stock entlang zu ihrem Klassenraum. Aus den Augenwinkeln sah sie Ben vollbepackt und umständlich seine Sachen balancierend auf die große Tür zugehen. Er musste hinüber ins andere Gebäude, denn er war eine Klasse unter ihr, und der sechste Jahrgang befand sich nun einmal im Nordgebäude.
Daniel hatte Ben fast erreicht, als Lukas, ein Mitschüler aus Bens Klasse, sein Dilemma auch gesehen hatte und ihm nun eifrig die Tür aufhielt.
Gedanklich zuckte Amy nur die Schultern. Sollten sie doch ihrem Helfersyndrom nachgeben. Sie hatte die Nase voll. Amy schob die Gedanken an Ben beiseite und wartete mit den anderen Schülern der 7b auf den offenen Anfang. Das war die Viertelstunde vor Unterrichtsbeginn, in der die Schüler schon in den Klassenraum durften, um miteinander zu reden oder den Lehrer etwas zu fragen. Merkwürdig war das Gefühl, nach sechs Wochen wieder in den Klassenraum einzutreten. Nichts hatte sich verändert: Die viel zu kleinen Tische mit den unbequemen Stühlen, ihre Regalfächer mit den Büchern und Stehordnern, die Papierablagen auf der Fensterbank – alles noch da. Nur die Klebeblumen von den Fensterscheiben waren verschwunden, wahrscheinlich war in den Sommerferien der Fensterputzer dagewesen.
Amy ließ sich auf einen Stuhl neben der Fensterreihe plumpsen und schob ihren Rucksack mit den Füßen unter ihren Tisch. Sie hatte noch zehn Minuten Zeit, bis es gongte. Großartig Lust, mit den anderen zu quatschen, hatte sie nicht. Nicht nur Frau Wilke war krank, sondern auch ihre beste Freundin Vanessa. Ohne sie machte Schule überhaupt keinen Spaß.
Herr Pause hatte ihnen erlaubt, in der Zeit des offenen Anfangs das Handy zu benutzen, deshalb zog Amy es nun aus ihrer Hosentasche hervor und sah sich angeblich lustige Videos aus der Nicht-Lachen-Challenge an. Sie guckte sich eine Schulklasse bei einem Wettkampf an, der Dreibeinlauf genannt wurde. Jeweils zwei Kinder mussten mit einem aneinandergebundenen Bein einen Hindernisparcours bewältigen. Sie übersprangen ei-
nen Baumstamm, liefen im Zickzack an Fähnchen vorbei, tappten durch Wasserpfützen oder humpelten im Slalom um leere Getränkekisten herum. Manche stellten sich so dumm an, dass sie kaum vorwärtskamen, einander anschrien, gegenseitig bevormundeten oder schlichtweg den Dienst verweigerten. Andere wiederum einigten sich schnell, wer den Takt angab, und meisterten den Parcours gut und relativ problemlos. Wieder andere waren in allem so albern, dass sie mehr lachten als liefen. Im Hintergrund wurde das Video mit Gelächter kommentiert. Amy fand das weder lustig noch witzig, sondern einfach nur dumm und ineffizient. Gruppe zwei machte doch vor, wie es im Idealfall gehen konnte. Man musste sich doch nicht extra dumm anstellen, wenn man ein Handicap hatte, nur, damit es witziger wurde.
Wie Amy den Tag hinter sich brachte, konnte sie anschließend gar nicht mehr sagen. Der Gong läutete den Tag um 7 Uhr 45 ein und beendete ihn 13 Uhr 05 auch wieder. Sie hatten ihren neuen Stundenplan bekommen, auch vereinzelt neue Lehrer und auch neue Fächer. Zum regulären Unterricht kamen jetzt Wirtschaft und Politik als neue Fächer dazu.
»Super«, dachte Amy, »neben Reli und Geschichte zwei weitere Fächer, in denen man sich zu Tode langweilt.«
Das einzig Gute daran war, dass beide Fächer von Frau Wilke unterrichtet wurden. Wenn schon eine Klassenlehrerin, dann eben Frau Wilke, sie war noch annähernd das, was man als schülernah und cool bezeichnen konnte. Dabei war sie nicht etwa immer nett und freundlich, auch nicht glattgebügelt. Aber sie war fair. Sie war mit allen gleich streng, setzte Grenzen, formulierte Regeln und gab allen die gleichen Chancen, sich daran zu halten.
Ein weiteres ödes Schuljahr lag vor Amy. Ein weiteres Jahr mit Hausaufgaben, Büffeln für Arbeiten und Auseinanderset-
zungen mit unfähigen Lehrern. Na gut, allzu hart wollte Amy nicht urteilen. Mit den meisten Lehrern kam sie ganz gut aus. Sie schrieb gute Noten und war nicht ganz unterbelichtet im Oberstübchen, das half sicher, einen guten Stand bei den Lehrern zu haben. Was sie störte, waren die Lehrer, die von ihren Schülern Respekt und Disziplin verlangten, beides aber selbst nicht auf die Reihe bekamen. Das waren die Meckerdrosseln, die unfairen Griesgräme, die, die ihre Kaffeetassen mit in den Unterricht brachten, ständig zu spät kamen oder es schafften, ganze neunzig Minuten am Stück am Pult zu sitzen.
Und dann war da noch Busfahrer Reinert. Wann um Himmels willen ging der eigentlich in Rente? Es war ja nicht schon schlimm genug, dass er oft die Schultouren fuhr – morgens und auch mittags – sondern auch noch nachmittags in Linie 5 saß. Genau in dem Bus, den Amy brauchte, um zu ihrem Sportverein zu kommen. Dienstags fuhr sie nach Halldorf zum Volleyball und Donnerstag zum Tennis. Beide Male mit Linie 5. Es war auch gar nicht so, dass Busfahrer Reinert sie auf dem Kieker hatte, sie blöd anmachte oder ständig ansprach. Es war einfach so, dass er sie mit seinem ganzen Verhalten störte, nervte und provozierte. Definitiv gehörte er zu jenen Erwachsenen, die man sich nicht zum Vorbild nahm, es sei denn, man wollte als asozial und lästig gelten.
Amys Mutter sagte immer: »Amy, schau dir die Leute gut an. Und dann entscheide, wie du sein möchtest. Was möchtest du, dass andere über dich sagen oder denken? Sollen sie sagen, ›was für ein selbstbewusstes Mädchen ist das, das weiß, was es will und sympathisch seine Ziele verfolgt‹? Oder sagen sie: ›Meine Güte, was für eine unsympathische Meckertussi!‹?«
Busfahrer Reinert war genau das, eine männliche unsympathische Meckertussi.
Heute war der Bus fast leer. Nur wenige Leute fuhren um diese Uhrzeit nach Halldorf. Es war halb vier, und Amy hatte den ersten Schultag einigermaßen heil überstanden. Gegen Mittag hatten alle in ihrer Klasse damit kämpfen müssen, vom eintönigen Gefasel Herrn Pauses nicht eingelullt zu werden. Danach kam aber die Gruppensitzung der SV. Amy war Schülervertreterin ihrer Klasse und engagierte sich sehr für die Belange ihrer Mitschüler. Die Neuwahlen in der nächsten Woche standen an und auch die Planung der Schüleraktionen in diesem Schuljahr.
Jetzt hatte Amy ihre Airpods in die Ohren gesteckt, rutschte auf ihrem Sitz tief hinunter und starrte aus dem Fenster. Der Regen der letzten Tage hatte aufgehört, doch Pfützen und tropfende Bäume zeugten noch von der Beinahe-Sintflut.
Neben ihr auf dem zweiten Sitz lag ihre Sporttasche. Heute würde das Auswahltraining für die Tennismannschaft auf Landesebene stattfinden. Amy spielte seit Jahren Tennis, eigentlich seit sie laufen und einen Schläger halten konnte. Mit acht Jahren war sie dann in die Kreisauswahl gekommen und trainierte zweimal in der Woche bei sich im Dorf und einmal in der Woche in Halldorf mit dem Landestrainer. Ihre Chancen standen gut.
Sie hatte eine phänomenale Vorhand, eine harte Rückhand und einen Aufschlag wie eine Kanonenkugel. Hinzu kamen Schnelligkeit, Ausdauer und ein verbissener Siegeswille. Da konnte ihre Mutter über das Siegen und Verlieren sagen, was sie wollte, Punktspiele absolvierte man einzig, um zu gewinnen. Als Amy schließlich mit elf Jahren ihren Vater plattmachte, gab ihre Mutter nach und erlaubte das Training auf Landesebene. Amys ganz großes Ziel war es, im nächsten Jahr bei ihren ersten internationalen Turnieren starten zu dürfen.
Der Bus wurde nun langsamer und fuhr in eine gedehnte Rechtskurve. Amy erhob sich und drückte auf den Knopf. Die Tennishalle lag knapp einen Kilometer vor Halldorf. Alle Busfahrer hielten hier kurz an, obwohl es keine offizielle Bushaltestelle gab. Alle, außer Busfahrer Reinert. Bei ihm war das wie Russisch Roulette. Wenn er gut drauf war, hielt er, wenn nicht, musste Amy die Strecke an der Straße zurücklaufen und dann in den Waldweg einbiegen, der noch einmal 400 Meter weit durch Felder führte, ehe die Tennisanlage in Sicht kam. Da war sie gut und gerne eine Viertelstunde zu Fuß unterwegs.
Ihre Tennispartnerin Laura wartete deshalb oft mit dem Fahrrad dort an der Straße auf sie. So konnte Amy auf dem Gepäckträger mitfahren. Wenn der Bus nicht hielt, dann radelte Laura Amy entgegen und sammelte sie auf halbem Wege ein.
Heute hatte Amy Pech. Busfahrer Reinert überhörte das Stoppsignal und fuhr weiter. Wahrscheinlich war er noch nachtragend wegen heute Morgen, als Amy Ben unterstützt und Busfahrer Reinert konfrontiert hatte. Amy war es egal. Solange er sie in Halldorf rausließ und nicht auch dort noch an der ersten Haltestelle vorbeifuhr, auch das war nämlich schon vorgekommen.
Doch heute musste er halten, denn es standen einige Leute am Bushäuschen und wollten einsteigen.
Amy sprang die Stufen hinunter und wandte sich nach rechts. Sie schulterte ihre Tasche und suchte in ihrer Playlist nach der richtigen Musik. Vorne am Bus war Tumult. Amy drehte sich zu dem Lärm um und sah den schnaubenden Reinert, wie er einer älteren Dame beim Einsteigen half. Gern machte er das aber nicht, das wäre zu nett für ihn gewesen. Er meckerte, murrte und bezeichnete die Dame als jemanden, der den gesamten Betrieb aufhalte. Mürrisch hob er den Rollator der Dame in den Bus und wartete ungeduldig, bis sie sich an den Stangen entlanggezogen und Platz genommen hatte.
Amy kannte die Frau nicht, wusste aber jetzt schon, dass sie sicher nicht zu Busfahrer Reinerts Lieblingsfahrgästen gehören würde, sollte sie die Frechheit besitzen, öfter mit seiner Linie 5 zu fahren. In Osnabrück hatte Amy absenkbare und barrierefreie Busse gesehen, die es auch Rollstuhlfahrern, Müttern mit Kinderwagen oder eben älteren Damen mit Rollatoren ermöglichten, leichter in den Bus zu kommen und auch wieder auszusteigen. Doch hier im Kaff gab es die noch nicht. Hier waren selbst die Bushaltestellen nicht barrierefrei. Da gab es immer noch oft die hohen Bürgersteigkanten oder zu enge Bushäuschen.
Amy schloss mit sich selbst heimlich eine Wette ab, wie oft Busfahrer Reinert der Dame gegenüber ausfallend und ungeduldig werden würde. Sie dachte an eine astronomisch hohe Zahl. Jetzt drückte Amy den Lautstärkeregler lange und marschierte in Richtung Tennishalle. Als sie einige Meter weit gegangen war, sah sie von Weitem schon Laura mit ihrem Fahrrad den Hügel herunterkommen. Laura winkte ihr von ferne zu. Laura fuhr auf dem Elektrorad ihrer Mutter, deshalb war es überhaupt kein Pro-
blem, mit Amy auf dem Gepäckträger den restlichen Weg zur Tennishalle zu radeln.
»Na, war der Miesepeter wieder schlecht gelaunt heute?«, fragte sie zur Begrüßung.
»Aber sowas von«, gab Amy zur Antwort. »Erster Schultag und schon geht die Schikane wieder los!«
»Ich seh schon«, sagte Laura ernst, »das ist ein echter Gute-Laune-Killer!«
»Das kannst du wohl laut sagen«, meinte Amy. »Ich hasse diese kleinen fiesen Männer, die meinen, am längeren Hebel zu sitzen und uns Schüler triezen zu dürfen, wie es ihnen gefällt. Die kann man doch nicht ernst nehmen.«
»Und trotzdem müssen wir tun, was sie sagen«, erwiderte Laura, »weil sie nun mal am längeren Hebel sitzen!«
»Ich wünschte, man könnte ihn absägen«, sagte Amy gefrustet.
»Wen? Busfahrer Reinert?«
»Also eigentlich meinte ich den Hebel …«
Beide Mädchen kicherten. »Schöner Gedanke, Busfahrer Reinert mal am kürzeren Hebel sitzen zu sehen.«
»Wer weiß«, meinte Laura. »Vielleicht kommt irgendwann der Tag!«
Ein wenig außer Atem kamen sie an der Tennishalle an. Achim, ihr Trainer, stand schon mit Lina und Mathilda auf dem Parkplatz und wartete.
»Wir können heute nicht auf die Außenplätze gehen«, sagte er. »Das Wetter ist zwar wieder gut, aber alle Plätze stehen unter Wasser. Ich hoffe, ihr habt eure Hallenschuhe dabei.«
Zur Antwort klopfte Amy auf ihre Tasche.
»Logo«, erwiderte Laura.