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ALBERT • Kleine Kinder, starke Wurzeln –bedürfnisorientiert durch die ersten Jahre

DANIELA
Leseprobe

Kleine Kinder, starke Wurzeln

Bedürfnisorientiert durch die ersten Jahre

Was christliche Familien wachsen lässt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Kristina Dittert, FreiSinn, Essen unter Verwendung eines Bildes © Jonas Mohamadi

Lektorat: Anja Lerz, Moers

DTP: Burkhard Lieverkus, Wuppertal

Verwendete Schrift: Scala Pro, Scala Sans, Summer Festival

Gesamtherstellung: Finidr, s.r.o.

Printed in Czech Republic

ISBN 978-3-7615-6899-6 (Buch)

ISBN 978-3-7615-6900-9 (E-Book)

www.neukirchener-verlage.de

5.

4. Rituale von Anfang an –was hilft kleinen und großen Menschen?

Das Wichtigste in Kürze:

• Das Schlafverhalten von Babys kann sehr unterschiedlich sein, einige schlafen 16 bis 18 Stunden täglich, andere 12, manche 20.

• Schlaf- und Wachzeiten verteilen sich in den ersten Wochen gleichmäßig auf Tag und Nacht.

• Babys müssen nicht zu festen Zeiten ins Bett gelegt werden und allein schlafen lernen. Das Schlafverhalten ist ein Entwicklungsprozess, der sich mit der Zeit (langer Zeit!) einspielt.

• Von einer Bindungsperson begleitetes, geborgenes Schlafen gibt dem Baby ein Gefühl von Sicherheit, denn seine Instinkte sagen ihm, dass Alleinsein Gefahr bedeutet.

• Babys unterscheiden noch nicht zwischen den Tageszeiten. Strukturen und Rituale dienen daher in den ersten Monaten vor allem dazu, dir selbst Wohlbefinden und Geborgenheit zu schenken, indem du dir hilfreiche Übergangsmomente in den Tag einbaust.

Die ersten Wochen mit einem neugeborenen Baby sind oft noch nicht besonders durchstrukturiert. Von einem regelmäßigen Tagesablauf sind viele Eltern weit entfernt. Früher gab es Empfehlungen, diesen möglichst bald einzuführen und Kinder statt nach Bedarf nach festen Uhrzeiten zu stillen und in der übrigen Zeit zu ignorieren. Auch heute fi nden sich solche Hinweise noch vereinzelt, auch wenn sie in einem sanfteren Gewand daherkommen. Um es klar zu sagen: Stillen (oder mit der Flasche füttern) nach Bedarf, also wann immer das Baby danach verlangt, ist eine gute und wichtige Sache. Es ist Teil der nötigen Bedürfnisbefriedung. Eltern, die erkennen, dass ihr Baby gestillt werden möchte, weil es Hunger hat, oder die weiteren Vorzüge des Stillens genießen möchte, bringen eben diese Feinfühligkeit mit, die es braucht, um Kinder sicher ins Leben zu begleiten. Hier entsteht Nestwärme. Hier werden die ersten zarten Wurzeln ausgebildet.

Ähnlich ist das beim Thema Schlafen. Kinder kommen nicht mit einem Schlafrhythmus zur Welt, der sich besonders gut mit unserem Wunsch nach Effi zienz und Struktur verträgt. Schlimmer noch – sie sind dabei nicht mal alle gleich! Viele Babys schlafen in den ersten Lebenswochen 16 bis 18 Stunden am Tag, manche aber auch nur 12, andere sogar 20. Sie verteilen diese Schlafzeiten in den ersten Lebenswochen relativ gleichmäßig auf Tage und Nächte. Erst mit der Zeit wird der Tagschlaf weniger und der Nachtschlaf mehr. Und eins mögen Babys so gar nicht: Zu festen Zeiten allein in ihr Bettchen gelegt zu werden, um jetzt zu schlafen. Im Gegenteil: Der Schlaf ist das Bindungsthema schlechthin, und das ist auch wichtig. Stell dir vor, unsere nicht sesshaften Vorfahren hätten als hilflose kleine Babys irgendwo allein gelegen und geschlafen. Sie wären schnell Opfer irgendwelcher wilder Tiere

Auch darüber hinaus fühlen sich Neugeborene immer dann geschützt und sicher, wenn sie nah bei den Menschen sind, die sie umsorgen. So stellen in den ersten Lebensmonaten enges Tragen und Kuscheln eigentlich eine Daueraufgabe für Eltern dar.

In der ersten Zeit geht es um Beobachten und Kennenlernen

Wir sehen also: Der Alltag mit kleinem Baby ist nicht immer planbar. Regelmäßigkeiten bilden sich nur langsam heraus. Trotzdem kannst du – und damit auch dein Baby – von kleinen Ritualen profitieren.

In den ersten Wochen geht es vor allen Dingen darum, dass du dein Kind kennenlernst. Du beobachtest es, schaust es an, lernst seine verschiedenen Laute kennen, und nach und nach wirst du so ein Gespür dafür bekommen, was dein Kind in welcher Situation braucht. Beispielsweise wirst du merken, dass Hunger oft nicht völlig plötzlich und unerwartet kommt, sondern sich ankündigt. Vielleicht wird dein vorher friedlich schlafendes Kind ein wenig unruhig, gibt erste Töne von sich oder beginnt, an seinen Fingern zu saugen. Du kannst dein Baby ruhig in diesen Momenten schon anlegen. Gerade am Anfang funktioniert das Stillen sehr viel einfacher, wenn ein Säugling noch nicht stark weint und in Nöten ist. Mutter und Kind sind

63 oder anderer Menschengruppen geworden. Für das Überleben der Menschheit war es wichtig, dass Babys geschützt schlafen konnten. Und so ist es noch heute. Das Bindungssystem eines Menschen ist auch immer ein Überlebenssystem. Eingebaute Instinkte sagen unseren Babys, dass Alleinsein Gefahr bedeutet – und dieses System funktioniert heute noch immer nach den gleichen Regeln. Nur wissen wir Erwachsenen, dass nirgendwo ein Säbelzahntiger lauert.

dann gelassener, was den Aufbau einer Stillbeziehung und das Lernen des Stillens erleichtert.

Denk auch an dich selbst und deine Grundbedürfnisse

Diese ersten Hungersignale deines Babys verschaffen dir aber auch ein kleines Zeitfenster, noch schnell für dich zu sorgen, falls du es noch nicht getan hast: vielleicht noch einmal auf die Toilette zu gehen, dir ein Glas Wasser bereitzustellen oder dein Handy oder ein Buch griff bereit zu legen. Denn gerade in den ersten Lebensmonaten dauern Stillphasen oft lange und Babys schlafen dabei auch wieder ein und möchten in dieser sicheren, kuscheligen und geborgenen Situation weiterschlafen. Spätestens dann bist du froh, wenn du gut für dich gesorgt hast.

Tag und Nacht durch Rituale sichtbar machen

Als in unserer Familie die Babys ganz klein waren, sind wir meistens mit ihnen zusammen ins Bett gegangen. Oft haben wir während der langen Clusterfeedingzeiten noch auf dem Sofa gesessen, uns unterhalten oder eine Serie geschaut und sind dann zur immer etwa gleichen Uhrzeit Schlafen gegangen. Auch wenn Babys sowohl tagsüber als auch nachts Schlafund Wachphasen haben, ist es sinnvoll, den Unterschied zu verdeutlichen und einen Übergang ins Bett zu markieren: Jetzt beginnt die Nacht. Vielleicht durch das Wechseln der Kleidung von Tagsachen zu Schlafanzug und einem kleinen Abendritual wie einem Lied, einem Gebet und einer ruhigen Atmosphäre ganz ohne zusätzliche Reize. Hierbei geht es vor allem auch darum, was wir als Eltern brauchen, um den Tag loszulassen und den Modus zu wechseln.

Babys Bedürfnisse mit deinen verbinden

Auch das Bedürfnis, eng am Körper getragen zu werden, kannst du mit etwas verbinden, das dir guttut. Zum Glück gibt es heute eine große Auswahl an verschiedenen Tragehilfen, sodass jede und jeder eine für sich passende, alltagstaugliche Lösung fi nden kann. Als meine Kinder Babys waren, hat mir ein Aufenthalt an der frischen Luft bei fast jedem Wetter immer gutgetan, und ich habe im Laufe der Zeit Orte gefunden, an denen ich einfach gern mit ihnen war. Als wir noch in der Stadt lebten, war es ein nahegelegener Park, in dem man Enten beobachten konnte, nach unserem Umzug in einen Vorort ein See, an dem man ganz wunderbar Natur genießen kann.

Du siehst, gerade am Anfang haben Rituale und Strukturen im Familienalltag ganz viel mit dir zutun, mit dem was du bist und was dir guttut. Sie sind nicht so sehr dafür da, deinem Baby Halt und Sicherheit zu geben, sondern sollen vor allem dir Wohlbefi nden und ein Gefühl von Geborgenheit schenken. Und das ist nicht weniger wichtig!

5. Wer sieht mich in der Dunkelheit –Jesus im Elternalltag nah sein

Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken! (Mt.11,28)

Wir haben gesehen, dass das Leben erst einmal ganz schön schrumpft, wenn ein Baby dazukommt. Viele fi nden, dass das auch für das Glaubensleben gilt. Und natürlich fällt vieles erst einmal weg, was vielleicht früher deine Zeit mit Gott bestimmt hat: Gottesdienstbesuche, Hauskreise, morgendliche stille Zeit und regelmäßiges Bibellesen? Davon sind wir erst einmal weit entfernt, wenn wir einen kleinen Menschen umsorgen. Doch vielleicht ist das auch eine gute Gelegenheit, Nähe zu Jesus dort zu suchen, wo er uns tatsächlich eben auch nah sein will? In den Evangelien lesen wir an vielen Stellen, dass Jesus den Alltag der Menschen teilt. Er geht in ihre Häuser, isst und trinkt mit ihnen und hört von ihren Sorgen und Nöten. Er erlebt sie

beim Fischen, bei Haushaltstätigkeiten oder in ihrer Fürsorge für ihre Kinder. Während er einige Wenige aus ihren alltäglichen Aufgaben herausrief, ließ er die meisten, denen er begegnete, dort, wo sie waren, und schenkte ihnen Kraft und Heilung für die Situationen, in die sie gestellt waren. Das ist sein Anliegen, damals wie heute. Er braucht keine riesigen Verrenkungen und auch keine eigens für ihn freigeschaufelte Zeit in einer Lebensphase, in der wir es an manchen Tagen nicht einmal unter die Dusche schaffen. Erst kürzlich fiel mir ein verhältnismäßig aktueller christlicher Erziehungsratgeber in die Hände, in dem das Gegenteil behauptet wurde und junge Mütter an die Wichtigkeit ihrer Zeit mit Gott erinnerte. Ich hingegen fi nde ein Gottesbild schräg, in dem ein liebender Vater oder unser Freund Jesus von uns erwarten, dass wir ausgerechnet ihm zuliebe die Bedürfnisse unserer Kinder hintanstellen, nur um an Ritualen festzuhalten, die Menschen aus Glaubensgemeinschaften einmal erdacht haben. Meine Erfahrung ist, dass wir Jesus noch einmal ganz neu und ganz anders brauchen, wenn wir Eltern werden. Seit ich Mutter bin, bin ich sehr viel bedürftiger danach geworden, ihm nahe zu sein. Die Frage „Wer sieht mich in der Dunkelheit“ habe ich mir in den letzten 13 Jahren mehr als einmal gestellt. Manchmal in wirklich dunklen Nächten, wenn außer dem Baby und mir keiner mehr wach war. Wenn wir durchs Haus wanderten oder ich in unbequemen Positionen dalag und eine kleine Hand gehalten habe. Wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass ich nach so wenig Schlaf noch Kraft für den nächsten Tag aufbringen würde, und wenn Erschöpfung und Überlastung meine Fähigkeit zur Liebe und zur Fürsorge aufgebraucht hatten und stattdessen Wut und Verzweiflung meine Gedanken dominierten. Wenn ich aus Pfl ichtgefühl statt dem Gefühl der Verbundenheit weitermachte und meine

Zähne dabei so fest aufeinanderbiss, dass am nächsten Tag der Kiefer schmerzte.

Elternschaft hat neben anstrengenden Nächten auch andere düstere Stunden parat. Wer sieht mich, wenn ich scheinbar in einer Sackgasse stecke? Wenn ich nicht weiterkomme und immer wieder über dasselbe Thema streite? Wer sieht mich, wenn ich nachts wach liege und mir Sorgen um eins meiner Kinder mache? Wer begleitet mich, wenn ich zum außerordentlichen Elterngespräch in Kita oder Schule eingeladen bin? Wem bringe ich meine Zweifel, wenn ich das Gefühl habe, dass mir alles über den Kopf wächst und ich meiner Aufgabe nicht gewachsen bin?

Wenn wir eine Familie werden, werden sich viele Fragen in unserem Glaubensleben neu stellen: Was wollen wir vorleben? Wie wollen wir unseren Kindern die Botschaft vermitteln, die uns durchs Leben trägt? Wie machen wir Gottes Liebe für sie spürbar und erlebbar, und wie wird unser Freund Jesus auch zu ihrem Begleiter? Und gerade im Zusammenhang mit solchen Fragen darf auch unser eigener Alltagsglaube und die Art ihn zu leben noch einmal auf den Prüfstand und der neuen Lebenssituation angepasst werden. Unser Gott war nie einer, dem wir erst etwas beweisen mussten, damit wir seiner Liebe würdig werden. Obwohl dieser Satz bei so ziemlich jedem heftiges Nicken auslöst, funktioniert das Glaubensleben vieler Menschen aber nach genau dieser Logik. Auch in Kirchengemeinden wird oft der Eindruck vermittelt, dass eigentlich nur richtig dabei ist, wer auch mitarbeitet. Und Mitarbeit an sich ist ja auch eine super Sache. Viele von uns ziehen tatsächlich selbst Kraft und Segen aus ihrem Dienst. Dennoch führt unser Weg in Gottes liebende Arme eben nicht über unser Tun. Es reicht, dass wir einfach da sind. Ich finde, gerade die junge Elternschaft ist eine gute Möglichkeit, etwas mehr Göttliches

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im Alltag zu suchen und zu erkennen, dass unser eigener Gottesdienst ebenfalls genau dort stattfi ndet.

Deshalb ist mein erster Glaubensimpuls, der dich in diesen fordernden Jahren mit kleinen Kindern begleiten soll, auch keiner, der dir ein weiteres frommes Ritual in den Alltag quetschen will, sondern viel mehr die Einladung zu erkennen, dass dein Alltag bereits so, wie er ist, Zeit mit Gott ist. Die Autorin Veronika Smoor schreibt dazu in ihrem Buch Heiliger Alltag : „Nur weil mein Alltag, mein Leben, meine Berufung klein sind, heißt das nicht, dass ich in Gottes Augen klein bin. Er überschüttet das Kleine, Schmutzige, Geringe mit Gnade. Er hebt unser kleines Leben nicht auf den Thron der Außergewöhnlichkeit, sondern will in jeden unserer noch so unscheinbaren Lebensfäden seine Liebe hineinweben.“14

AMEN!

6. Autonomie – jeden Tag ein Fest

Das Wichtigste in Kürze:

• Autonomie – also Selbstständigkeit und irgendwann auch Unabhängigkeit von der Bindungsperson – ist im Menschen genauso von Anfang an angelegt wie der Wunsch nach Verbundenheit.

• Kinder im Kleinkindalter können nicht umplanen, wenn sie sich ein Ziel gesetzt haben. Stattdessen empfinden sie ziemlich viel Frust, wenn sie dieses Ziel nicht erreichen. Dieser äußerst sich in kleinen Mini-Nervenzusammenbrüchen, die von Weinen, Schreien, Hauen oder Treten gekennzeichnet sein können.

• Kinder sind in solchen Momenten sehr bedürftig und brauchen unsere Unterstützung, um sich wieder zu beruhigen und mit ihren starken Gefühlen klarzukommen.

• Es geht nicht darum, die Gefühlsreaktion möglichst schnell zu beenden, sondern das Kind hindurch zu begleiten.

• Zum Begleiten gehört: Gefühle benennen, Alternativen zu gefährlichem Verhalten anbieten und notfalls das Kind auch hochnehmen und wegtragen.

• Dein Kind ist nicht falsch oder böse, wenn es auf diese Art seine Gefühle äußert.

• Jedes Kind entwickelt sich in seinem Tempo.

Sie kommt in die Küche gelaufen!!!“ Zwei große Geschwister können sich neben mir vor Freude kaum halten, und die kleinste Schwester strahlt übers ganze Gesicht, als sie auf wackeligen Beinen vorsichtig einen tapsigen Schritt nach dem anderen macht. Kurz vor uns lässt sie sich auf den Hintern plumpsen und ihre Geschwister jubeln, als habe ihr Team ein internationales Turnier gewonnen.

Leider habe ich die Entwicklungsschritte meiner Kinder nie genau in einem Tagebuch dokumentiert und solche Momente festgehalten. Ich bin einfach nicht der Typ dafür. Aber es gibt Erinnerungen, die sich tief in mein Herz eingebrannt haben. Die Begeisterung meiner großen Kinder über die Gehversuche ihrer kleinen Schwester gehört dazu.

Alles in Bewegung

Wenn unsere Kinder wachsen und sich entwickeln, wird auf einmal jeder Tag besonders. So viele kleine und große Ereignisse gibt es zu bestaunen und zu feiern. Das Entdecken und Beobachten der eigenen Hand, die erste Drehung auf den Bauch, der Versuch übers Rollen an andere Orte zu kommen und das Robben. Irgendwann gehen sie auf alle Viere, manchmal wippen sie da erst einmal eine Weile im Vierfüßlerstand, bevor sie irgendwann loskrabbeln. Unweigerlich stellen sie wenig später fest, dass sie höhere Ebenen erreichen, wenn sie sich an Stühlen oder Tischen festhalten und hochziehen. Der erste Schritt in Richtung Stehen – und dann natürlich zum Laufen. Fast alles, was da in den ersten anderthalb bis zwei Lebensjahren so passiert, hat mit Bewegung zu tun – und mit Selbstständigkeit. Denn mit jedem Entwicklungsschritt, den Kinder machen, sind sie ein bisschen unabhängiger von uns. Du musst

ihnen das Spielzeug nicht mehr reichen, wenn sie sich selbst rollen können. Mit dem Hochziehen an Tischen und Stühlen erhalten sie Zugang zu einer ganz neuen Ebene, und wenn sie laufen können, wächst ihr Entdecker- und Erobererdrang ins schier Unermessliche.

Der Spagat zwischen Verbundenheit und Autonomie

Autonomie – also Selbstständigkeit – und als langfristiges Ziel auch Unabhängigkeit von den Bindungspersonen sind von Anfang an in uns Menschen angelegt. Sie sind genauso ein Grundbedürfnis wie Sicherheit und Verbundenheit. Der Spagat zwischen Autonomie auf der einen und Verbundenheit auf der anderen Seite wird dich immer wieder vor Herausforderungen stellen – in manchen Phasen der Entwicklung zum komplett unabhängigen erwachsenen Menschen mehr, in anderen weniger. Doch die meisten Konfl ikte zwischen Eltern und Kindern und die anstrengenden Zeiten lassen sich tatsächlich auf diese Themen zurückführen. Mit zunehmender Autonomiefähigkeit fangen unsere Kinder an, auf einem Schwebebalken durchs Leben zu balancieren, und der wackelt mal stärker und mal schwächer. Wir werden darauf in diesem Buch immer wieder zurückkommen.

Vielleicht tröstet dich das Wissen um die Wichtigkeit der Autonomie, die ich im ersten Teil des Buches aufgezeigt habe – aber leider wird diese Tatsache wenig daran ändern, dass manche Situationen einfach bis zur Überforderung anstrengend sind.

Kleinkinder können noch keine Kompromisse oder Planänderungen akzeptieren

Auch in dieser wunderschönen Anfangszeit wirst du das schon

feststellen können. Da ist das bitterlich weinende Kind, das so gern an die Tasse auf dem Tisch gelangen wollte und sich mit allen Kräften hochgezogen hatte – und dann hast du ihm seinen Zielgegenstand vor der Nase weggenommen. Du hattest einen guten Grund, denn in der Tasse war heißer Kaffee. Nur weiß dein Kind das leider nicht. Für dieses ist gerade das Ziel seiner Bemühungen außer Reichweite geraten. Kinder in diesem Alter sind noch nicht zugänglich für sachliche Argumente oder Erklärungen. Umplanen und sich ein anderes Ziel setzen können sie auch nicht. Stattdessen erleidet sein kindliches Nervensystem einen Crash und unser Kleinkind einen Mini-Nervenzusammenbruch. Und so wird aus dem eben noch autonomen Kind mit Entdeckerdrang ein bedürftiger kleiner Mensch, der unsere Hilfe braucht: Hilfe beim Regulieren starker Gefühle. In diesem Fall Trauer und Wut.

Durch die starken Gefühle begleiten

Deine Aufgabe ist hierbei gar nicht so sehr, die starken Gefühle möglichst schnell abzustellen, sondern dein Kind durch den Dschungel dieser Emotionen zu begleiten. Du kannst das Gefühl, das dein Kind jetzt wahrscheinlich empfindet, zum Beispiel zunächst einmal identifizieren und benennen: „Du bist wütend!“ Je jünger das Kind ist, desto weniger kann es zwar mit den Worten anfangen, doch nach und nach wird es einen Zusammenhang herstellen und mit zunehmender Sprachentwicklung eben auch lernen, dass sich „wütend“ auf dieses heftige und erschreckende Gefühl in seinem Körper bezieht. Gefühle zu verstehen und benennen zu können, ist ein erster Schritt dazu, sie irgendwann regulieren zu können – also auf ein für sich selbst und andere erträgliches Maß runterzuschrauben.

Strampeln, Hauen, Schreien – so baut dein Kind

Stress

ab

Instinktiv wird dein Kind von Anfang an damit beginnen, sich selbst zu regulieren und die gewaltigen Gefühle in sich abzubauen. Zum einen passiert das durch das laute Schreien und Weinen. Beides hilft, Stress abzubauen. Oft wird das Ganze begleitet von heftigen körperlichen Bewegungen. Je nach Alter des Kindes kann es sein, dass es fest mit den Beinen aufstampft, sich auf den Boden wirft und mit den Fäusten trommelt, um sich schlägt oder auch andere haut oder tritt. Hier gilt, dass dein Kind erst einmal Stress abbauen darf, solange es sich selbst oder anderen nicht wehtut und nichts kaputt macht. Besteht die Gefahr, dass etwas dergleichen passiert, kannst du deinem Kind eine Alternative anbieten: Ein Kissen zum Reinboxen, Papier zum Zerreißen, deine Handflächen zum Draufhauen, was auch immer gerade gut passt. Manche Kinder sind aber in diesem Moment so in ihren Emotionen gefangen, dass sie das nicht annehmen können. Dann geht es um Schutz. Vielleicht musst du dein Kind hochnehmen und wegtragen. Vielleicht musst du dich aber auch einfach nur danebensetzen und aufpassen, dass es nicht zu fest mit dem Kopf auf den Boden haut und zum Beispiel ein Kissen bereitlegen oder es mit den Händen auffangen.

Manche Kinder fühlen alles etwas stärker

Eltern sorgen sich oft, wenn ihr Kind zu sehr heftigen Wutreaktionen neigt und fragen sich, ob das „noch normal“ ist. Hier ist es wichtig zu wissen, dass auch das ein Persönlichkeitsmerkmal ist. Manche Kinder empfi nden deutlich stärker als andere und zeigen heftigere Reaktionen, manche bis hin zur Bewusstlosigkeit (Stichwort Affektkrampf). Auch fällt es ihnen

Affektkrampf

Bei etwa einem bis fünf Prozent aller Kleinkinder kommt es im Rahmen von starken Emotionen zu beängstigenden Erlebnissen. Die Kinder schreien so sehr oder geraten so stark in Erregung, dass sie für einen kurzen Moment nicht atmen und das Be- wusstsein verlieren. Die Kinder laufen dabei blau an oder werden blass. Nach wenigen Sekunden kom- men sie aber von selbst wieder zu sich. Diese Affekt- krämpfe wirken dramatisch, sind aber harmlos.15 Wenn ein solches Ereignis das erste Mal auftritt, kann eine vorsorgliche medizinische Abklärung trotzdem sinnvoll zu sein, um andere Ursachen auszuschließen und so in den entsprechenden Situ- ationen Sicherheit und Gelassenheit zu gewinnen. Wenn Kinder zu Affektkrämpfen neigen, kann frühzeitige Ablenkung im Falle von starken Emo- tionen ein gutes Mittel sein, um ihr Auftreten zu verhindern.

Frustration aus Angst vor diesen Anfällen ganz zu vermeiden, ist hingegen nicht sinnvoll. Meistens verwächst sich dieses Phänomen in- nerhalb der ersten fünf Lebensjahre.

schwerer, Impulskontrolle zu erlernen, und sie brauchen oft länger, bis sie ihre starken Gefühle auf gute Art und Weise regulieren können. An diesen Kindern ist aber nichts falsch. Es ist einfach eine Ausprägung ihrer Persönlichkeit, und mit liebevoller Begleitung und Unterstützung durch ihre Bindungspersonen lernen auch sie, damit zurechtzukommen. Wichtig ist es, sich nicht von außen stressen zu lassen. Wenn dein Kind mehr Schwierigkeiten hat, seiner starken Gefühle Herr zu werden, und sie heftiger zum Ausdruck bringt als Gleichaltrige, bedeutet das nicht, dass dein Kind „unerzogen“ ist oder du in irgendeiner Weise in der Erziehung etwas falsch gemacht hast. Es ist einfach, wie es ist. Viele Menschen sind jedoch nicht an starke Gefühlsausbrüche von Kindern gewohnt oder verbinden damit etwas Negatives. Das hat damit zu tun, dass es Kindern viele Generationen lang nicht erlaubt wurde, Wut oder Trauer zu zeigen. Gerade Wutanfälle galten als „schlechtes Benehmen“ oder „mangelnder Gehorsam“.

Verdorben von Jugend

an Lange Zeit hielt sich der Gedanke, dass in Kindern von Geburt an etwas Böses stecke. In der Bibel ist vom Menschen als Sünder die Rede, dessen Dichten und Trachten von Geburt an böse ist. Über Jahr- hunderte wurde dieser Vers vor allen Dingen als

Aussage über Kinder verstanden. Gerade starke Gefühle wurden vor diesem Hintergrund fehlge- deutet, und Erwachsene waren der Meinung, sol- ches Verhalten im Keim ersticken zu müssen, um dem Bösen im Kind wenig Raum zu geben.

Solche Deutungen sind nicht nur wenig hilf- reich, wenn es um das Erlernen eines guten Um- gangs mit Gefühlen geht, sie suggerieren Kindern darüber hinaus auch, dass ihre Gefühle falsch sind und nicht gefühlt werden dürfen. Erwachsene, die diese Botschaft in ihrer Kindheit bekommen haben, fühlen sich auch heute oft nicht wohl, wenn Kinder in ihrer Gegenwart starke Gefühle zeigen. Immer- hin haben sie ja tief verinnerlicht, dass das nicht in Ordnung ist.

Spuren dieses Irrglaubens lassen sich bis heute finden. So gelten kindliche Wutanfälle oft als ty- rannisches Verhalten, als Manipulation oder einfach als Zeichen für eine schlechte Erziehung. Nur lang- sam setzt sich das Wissen durch, dass es sich hierbei um einen ganz normalen Teil der Entwicklung des emotionalen Erlebens handelt. Auch unsere Gene- ration hat oft noch erlebt, dass uns verboten wurde „zu heulen“, „so rumzubrüllen“ oder „so ein Thea- ter“ zu machen.

Auch all deine Gefühle sind in Ordnung

Vielleicht fühlst du dich selbst manchmal unwohl, wenn dein Kind sehr impulsiv zeigt, was es gerade empfi ndet. Dann darfst du dir dein eigenes Gefühlsleben anschauen und dich fragen, wie viele starke Gefühle du dir gestattest und was für innere Bilder von Wut oder Traurigkeit du mit dir herumträgst.

Oft müssen wir uns nämlich wieder bewusst machen, was wir den ganzen Tag fühlen. Bist du genervt und denkst vielleicht, dass du so nicht empfi nden darfst, weil du als Mutter oder Vater doch glücklich sein müsstest? Ärgerst du dich gerade unglaublich über dein Kind, deinen Partner, äußere Umstände und schämst dich gleichzeitig dafür? Bist du traurig, weil du Dinge vermisst, die vielleicht früher mal zu deinem Leben gehört haben und für die nun keine Zeit mehr ist, und denkst du, dass das undankbar ist? Oft werten wir unsere Empfindungen sobald wir sie wahrnehmen. Dabei hat jedes Gefühl seine Daseinsberechtigung, und es verdient, ernstgenommen zu werden. Ja, als Eltern ist es unsere Aufgabe, an der Seite unserer Kinder zu stehen und ihre Emotionen zu begleiten. Doch dafür ist es sehr hilfreich, auch das eigene Gefühlsleben zu verstehen und anzunehmen. Es gibt keine falschen Gefühle.

Wohl aber gibt es falsche Ausdrucksweisen. Seine eigene Wut anerkennen ist das eine – sie ungefi ltert in Kindergesichter zu brüllen oder die Einrichtung zu demolieren etwas ganz anderes. Meine Freundin Sandra Geissler schreibt über die Berechtigung von Gefühlen und ihr Ausleben ganz wunderbar anschaulich in ihrem Buch Dieses Kleine Stück Himmel – Mit allen Sinnen Familie leben:

„Ich bin fest davon überzeugt, dass in Familien ausreichend Platz für echte Menschen mit echten Emotionen ist und dass Kinder Eltern als echte Menschen, mit allem, was eben dazu-

gehört, erleben dürfen. Das ist kein Freibrief dafür, sich aufzuführen, als wäre man ein tollwütiger Hund, der wild um sich beißt, beängstigend und furchteinflößend für jeden, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hat. Selbstverständlich nicht.“

Selbstregulation muss erst einmal gelernt werden –und das dauert

Das gilt jedoch vor allen Dingen für uns Erwachsene. Kinder müssen das erst lernen – und dieser Lernprozess begleitet sie durch ihre gesamte Kindheit und Jugend. Je nach Persönlichkeit sind die einen eher bei einer sozial akzeptierten Form angekommen als andere. Doch auch beim Aufbau der Selbstregulation gilt, was bei allen Entwicklungsphasen passt: Du kannst nichts beschleunigen, und jedes Kind macht es in seiner Zeit und seinem Tempo.

Entwicklung läuft nicht nach Schema F

Sich nicht stressen lassen – das ist auch über das Gefühlserleben hinaus ein wichtiger Tipp, wenn die Autonomiephase deines Kindes ein tägliches Fest und kein Wettlauf werden soll. Denn so schön das ist, wenn sie ihre ersten Entwicklungsschritte machen, so schwierig kann es werden, wenn sie diese langsamer machen als andere Kinder in deinem Umfeld.

Mein Kind, das von seinen Geschwistern gefeiert wurde, weil es in die Küche lief, konnte sich schon mit einem Jahr auf zwei Beinen fortbewegen. Erste Versuche unternahm es sogar schon mit zehn Monaten. Eins seiner Geschwister hingegen hat in seinem U-Heft ein Kreuzchen beim Punkt „lief später als mit 15 Monaten“. Heute springt auch dieses Kind

Trampolin, liebt es, mit uns wandern zu gehen und ist motorisch genau da wo es sein sollte. Dafür konnte dieses Kind mit anderthalb in ganzen Sätzen sprechen. Eins seiner Geschwister brauchte dafür wiederum viel länger – und kann sich heute ebenso wunderbar ausdrücken wie alle anderen. Ein Kind übersprang einen Entwicklungsschritt einfach – es kam vom Krabbeln ins Stehen, ohne je gesessen zu haben. Das hatte zur Folge, dass es, wenn es fiel, nie auf seinem Hintern landete, sondern auf dem Rücken. Ich fand das besorgniserregend. Unsere Hausärztin eher lustig. Sie riet uns, noch einmal vier Wochen zu warten und wenn das dann immer noch so sei, könnten wir schauen, ob es dafür Gründe gibt. Das Kind kann mittlerweile sitzen. Wir vermuten, dass dieser Zwischenschritt einfach gestört hat, als es darum ging, mit dem großen Bruder mitzuhalten.

Ich kenne auch Kinder, die nur rückwärts krabbelten und welche, die im ersten Lebensjahr nur sehr wenige Entwicklungsschritte vollzogen. Doch nur in ganz, ganz seltenen Fällen sind solche individuellen Besonderheiten wirklich ein Zeichen dafür, dass etwas grundsätzlich nicht stimmt oder irgendwo nachgeholfen werden muss.

Dem eigenen Gefühl vertrauen

Aber ja – auch das kommt vor. Manchmal ist das elterliche Bauchgefühl, dass irgendetwas nicht so ist, wie es sein sollte, auch richtig. Meistens geht es da jedoch nicht nur um eine Sache, die ein wenig aus den Normkurven fällt, sondern um ein Gesamtpaket, das einem ein beständiges Gefühl der Sorge gibt. Sollte das so sein, ist es natürlich wichtig, diesem Gefühl nachzugehen, sich nicht abwimmeln oder beschwichtigen zu lassen, auf die eigenen Instinkte zu vertrauen und Hilfe zu suchen.

Egal wie schnell oder langsam dein Kind sich entwickelt, du wirst in jedem Fall Zeuge eines rasanten Fortschritts. So viel auf einmal lernen menschliche Wesen nie wieder in ihrem Leben. Es ist wunderschön mit anzusehen, und es sind viele kleine berührenden Momente für die Ewigkeit, wenn dein Kind nach und nach lernt, sich fortzubewegen und auszudrücken.

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