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Annegret Puttkammer

Ich lass dich nicht allein

Würde bis zum Schluss auch ohne assistierten Suizid

Annegret Puttkammer

ICH LASS DICH NICHT ALLEIN

Würde bis zum Schluss auch ohne assistierten Suizid

Für Wilhelm und Sophie

Sollten Sie Selbstmordgedanken haben, suchen Sie sich Hilfe!

Per Telefon 0800 / 111 0 111, 0800 / 111 0 222 oder 116 123 oder auf www.telefonseelsorge.de

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© 2023 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: xxx, unter Verwendung eines Bildes © xxx

Lektorat: Anna Böck

DTP: xxxx

Gesamtherstellung: xxxx

Printed in xxxxxxxxxxxx

ISBN 978-3-7615-6897-2

www.neukirchener-verlage.de

Inhalt Wo wir stehen.........................................................................................................................5

1 Risiken und Nebenwirkungen 5

2 Ein Schicksal – zwei Deutungen

Fehler! Textmarke nicht definiert.

3 Begriffsklärung und höchstrichterliches Urteil...................................................10

4 Die neue gesetzliche Regelung..........................Fehler! Textmarke nicht definiert. Klärungen

Fehler! Textmarke nicht definiert.

5 Die Freiheit des Einzelnen und der Schutz der Schwachen Fehler! Textmarke nicht definiert.

6 Selbstbestimmt, fremdbestimmt oder beeinflusst?.....Fehler! Textmarke nicht definiert.

7 Das Recht auf den eigenen Tod.........................Fehler! Textmarke nicht definiert.

8 Suizidassistenz praktisch....................................

9 Wer leistet Suizidassistenz?

Fehler! Textmarke nicht definiert.

Fehler! Textmarke nicht definiert.

10 Eine Frage des Geldes .......................................Fehler! Textmarke nicht definiert.

12 „Harte“ Suizide verhindern?

13 Schutz von Kindern und Jugendlichen .........

Fehler! Textmarke nicht definiert.

Fehler! Textmarke nicht definiert.

14 Assistenz für Menschen mit Behinderungen...............Fehler! Textmarke nicht definiert.

15 Demenz-Erkrankung und Sterbewille.............Fehler! Textmarke nicht definiert.

16 Pflege und Palliativmedizin ............................Fehler! Textmarke nicht definiert.

17 Pflegekräfte und Ärzteschaft

Fehler! Textmarke nicht definiert.

18 Arm, einsam, weiblich ........................................Fehler! Textmarke nicht definiert.

19 Hilfreiche Gespräche ..........................................

Fehler! Textmarke nicht definiert. Haltungen

Fehler! Textmarke nicht definiert.

20 „Gott“ – ein Theaterstück..................................Fehler! Textmarke nicht definiert.

21 Assistierter Suizid in der Bibel.........................Fehler! Textmarke nicht definiert.

22 Leben – Hoffnung – Trost Fehler! Textmarke nicht definiert. Ausblicke...............................................................................................................................19

23 Wir bleiben etwas schuldig.....................................................................................19

24 In Würde sterben..................................................Fehler! Textmarke nicht definiert.

25 Assistierte Heilung – ein geistliches Nachwort Fehler! Textmarke nicht definiert.

Wo wir stehen

1 Risiken und Nebenwirkungen

„Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage.“ In jeder Medikamentenpackung liegt ein eng bedruckter Zettel mit der Aufforderung, ihn sorgfältig zu lesen. Das gilt selbst bei gut verträglichen, bewährten Arzneimitteln. Erst recht sind die Risiken und die Nebenwirkungen sorgsam zu bedenken, wenn es um einen so schwerwiegenden Schritt geht wie die Beihilfe zur Selbsttötung!

Dieses Buch ist eine Packungsbeilage zum assistierten Suizid. Er selbst scheint verlockend, schmerzfrei und selbstbestimmt zu sein, ein scheinbar heilsamer Weg. Aber jede Art von Selbsttötung hat Nebenwirkungen – die sind durchaus erheblich! Leider werden sie in der öffentlichen Diskussion viel zu wenig wahrgenommen oder manchmal sogar bemüht kleingeredet. Es ist aber unerlässlich zu wissen, was gegen den assistierten Suizid spricht. Denn er ist keine gute Lösung. Und erst recht nicht die beste Lösung. Hilfe bei einer Selbsttötung ist eine Lösung, aber bei weitem nicht die einzige für einen schmerzfreien Tod, und in jedem Fall eine, die andere, schwierige Folgen nach sich zieht und deutliche Schattenseiten hat.

Anders als die Packungsbeilagen in Medikamentenschachteln soll dieses Buch gut lesbar sein! Drei Fremdwörter kommen jedoch regelmäßig vor. Sie sind bei der Thematik leider unumgänglich: „assistiert“1, „Suizid“2 und „palliativ“3. Auf alle anderen wurde verzichtet, oder sie werden erläutert.

Und anders als in normalen Packungsbeilagen finden Sie hier auch Hinweise auf weitere Mittel und Wege. Wie können wir in Würde sterben, schmerzfrei und selbstbestimmt, ohne auf assistierten Suizid zurückgreifen zu müssen? Würdig zu sterben, ist zum Glück auf viele andere Weisen möglich. Leider wird oft so getan, als wäre das gar nicht denkbar. Und so ist im englischsprachigen Raum der Begriff „Dying with dignity“, also „mit Würde sterben“ mittlerweile eine feststehende

1 „Assistiert“ stammt vom lateinischen assistere: zur Hand gehen.

2 Das Fremdwort Suizid ist zusammengesetzt aus den lateinischen Begriffen „sui “= „selbst“ und „caedere“ = „töten, morden“.

3 Palliativ stammt vom lateinischen „pallium“ ab und bedeutet „Mantel“. Palliative Medizin „umhüllt“ einen Kranken, um seine Erkrankung erträglicher zu machen und Symptome wie Übelkeit und Schmerz zu verringern.

Bezeichnung für begleiteten Suizid geworden.4 Das ist eine wirkliche Engführung und bindet „Würde“ an eine bestimmte Handlung. Schlagworte sind zwar manchmal hilfreich, aber wir sollten ihnen nicht zu schnell Glauben schenken.

Ich schreibe dieses Buch nicht aus der Sicht einer Todkranken, sondern aus der Sicht einer, die in einem großen diakonischen Unternehmen, dem Neukirchener Erziehungsverein5 Verantwortung trägt für Todkranke, für Altgewordene, für Menschen mit Behinderungen, für Jugendliche mit schlimmsten Missbrauchserfahrungen und für junge Mütter und Väter, für Kinder mit Lernschwierigkeiten und für die rund 2.400 Mitarbeitenden, die mit ihnen leben oder sie beraten. Ich bin evangelische Theologin und war bisher als Gemeindepfarrerin, Krankenhausseelsorgerin und in kirchenleitender Aufgabe tätig. Seit 2020 bin ich Direktorin im Neukirchener Erziehungsverein und damit, gemeinsam mit dem kaufmännischen Direktor, für alle wichtigen Unternehmensentscheidungen hauptverantwortlich. Hier wäre ich letztlich auch diejenige, die die Dienstund Arbeitsanweisungen unterschreiben müsste, wenn wir in unseren Einrichtungen aktiv Beihilfe zur Selbsttötung anbieten wollten. Ich schaue also von der Praxis auf diese Fragen und nicht nur aus dem Blickwinkel von Wissenschaft, Politik oder Justiz. Gemeinsam mit denen, die mit mir im Neukirchener Erziehungsverein Leitungsverantwortung tragen, muss ich also nicht nur bedenken, was die Ermöglichung des assistieren Suizids bedeuten könnte, sondern auch, was sie wirklich bedeutet: für diejenigen, die bei uns und mit uns leben, und für diejenigen, die bei uns arbeiten.

Ich bin zudem eine Tochter altwerdender Eltern. Beide sind Jahrgang 1936. Wie möchte ich sie begleiten in der letzten Lebensphase, und was wollen die beiden? Auch diesen persönlichen Blickwinkel bringe ich mit.

Ich greife also das Thema „assistierter Suizid“ und die neue Gesetzeslage aus der Sicht einer Begleiterin auf, die um Beihilfe zur Selbsttötung gebeten werden könnte, und aus Sicht einer, die andere damit beauftragen müsste. Und ich schaue aus dem Blickwinkel einer Gemeinschaft, die durch solche Anfragen schwierige Entscheidungen fällen muss. Denn ganz gleich, wie wir uns entscheiden: Wir werden nicht allen Menschen gerecht werden. Wenn wir uns nicht an Suizidassistenz beteiligen wollen, schränken wir die vermeintliche Selbstbestimmung eines Menschen ein. Wenn wir entscheiden, dass wir bei der Selbsttötung helfen, hat dies unweigerlich vielerlei schwerwiegende Auswirkungen für die Menschen, die bei uns leben und die bei uns arbeiten.

4 Dies ist auch der Name des größten kanadischen Suizidhilfevereins, www.dyingwithdignity.ca (zuletzt abgerufen: 5.9.2022).

5 Mehr über den Neukirchener Erziehungsverein unter www.neukirchener.de (zuletzt abgerufen: 5.9.2022).

Das ist ein echtes Dilemma! Das Wesen eines Dilemmas ist, dass Antworten nie eindeutig nur „Ja“ oder nur „Nein“ lauten können. So ist das mit vielen wichtigen Entscheidungen im Leben. Sie sind meist nicht eindeutig, und es gäbe immer auch gute Gründe, sich anders zu entscheiden. Aber: Am Ende müssen wir zu einer klaren und auch verlässlichen Haltung finden, zu einem „Ja“ oder „Nein“. Dazu müssen wir die verschiedenen Sichtweisen gut wahrnehmen und abwägen. Und dann sehen wir, wohin sich die Waage neigt.

Nach einem gemeinschaftlichen Abstimmungsprozess neigt sich die Waage bei uns im Neukirchener Erziehungsverein klar zum „Nein – wir werden nicht selbst aktiv. Wir leisten keine Suizidbeihilfe“. Es ist eine wohl begründete Haltung, die in allen unseren Arbeitsfeldern mitgetragen und auch eingefordert wird. „Sterbehilfe“ werden wir weiterhin leisten, also Menschen begleiten, bis der natürliche Tod eintritt. Aber für „Suizidbeihilfe“ stehen wir nicht bereit.6 Wir wollen niemanden aktiv bei einer Selbsttötung unterstützen.

Im Frühjahr 2021 hatte der Dachverband aller kirchlich-diakonischen Einrichtungen, die Diakonie Deutschland eine bundesweite Diskussion zum assistierten Suizid in Kirche und Diakonie organisiert. Zehn sogenannte „Diakonische Kamingespräche zum assistierten Suizid“ 7 fanden digital statt, in denen die vielen unterschiedlichen Sichtweisen auf das Thema zu Wort kamen.

Diese Idee haben wir bei uns aufgegriffen und im Frühjahr 2022 mit unseren Mitarbeitenden unsere eigenen „Neukirchener Kamingespräche“ geführt. Wir haben dabei ohne Öffentlichkeit,8 also in einem geschützten Raum, ausführlich, intensiv und sehr emotional über Sterbehilfe und Suizidbeihilfe gesprochen. Kolleginnen9 aus der Seniorenhilfe und dem Hospizverein beschrieben ihre Erfahrungen mit Sterbewunsch und -hilfe in Pflegeeinrichtungen. Aus der stationären Jugendhilfe hörten wir, wie dort auf Selbstmordversuche reagiert wird und wie Kinder und Jugendliche davor geschützt werden können, gegen sich selbst gewalttätig zu werden. In den Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen ist „Assistenz“ eine wichtige Aufgabe; aber auch sie hat Grenzen, wie uns Mitarbeitende aus

6 Die beiden Begriffe bezeichnen also zwei völlig unterschiedliche Aufgaben und dürfen nicht verwechselt werden!

7 Alle „Diakonischen Kamingespräche“ wurden aufgezeichnet und können unter www.diakoniewissen.de/web/grp/assistierter-suizid (zuletzt abgerufen: 5.9.2022) angesehen werden.

8 Deshalb können sie, anders als die Kamingespräche der Diakonie Deutschland, nicht im Internet nachträglich verfolgt werden.

9 Eine kurze Anmerkung zum Gebrauch der weiblichen und männlichen Form: Um einer guten Lesbarkeit willen, werden die Formen in der Regel abwechselnd verwendet. An manchen Stellen erfordert der Kontext aber die Nennung beider Geschlechter oder eine umschreibende Form.

der Eingliederungshilfe schilderten.10 Immer wieder wurde deutlich, wie stark die Thematik „Suizidbeihilfe“ alle Mitarbeitenden bewegt, wie sie nach tragfähigen Lösungen ringen und dass sie es sich nicht einfach machen.

Letztlich waren wir in der überwältigenden Mehrheit darin einig: Wir wollen alle, die bei uns des Lebens müde werden, liebevoll und zugewandt begleiten, aber bei der Hilfe zu einer Selbsttötung müssen wir eine Grenze ziehen. Bei unserem letzten „Kamingespräch“ äußerten sich Vorstand und Aufsichtsratsvorsitzender. Wir fassten zusammen, was wir in den vorangegangenen Diskussionsrunden gehört hatten. Und wir gaben den Mitarbeitenden die verlässliche Zusage, dass sie im Neukirchener Erziehungsverein nicht an Suizidbeihilfe beteiligt werden. Eine eigene Ethikkommission arbeitet weiter, und die Seelsorge in unseren Einrichtungen wird verstärkt. Für diese wichtige Aufgabe nehmen wir auch Geld in die Hand und erweitern unseren Stellenplan.

An den Erträgen dieser Gespräche und anderer Diskussionsrunden möchte Ihnen dieses Buch Anteil geben und auch beschreiben, wie wir nun mit der neuen Gesetzgebung umgehen, die seit 2023 in Kraft ist. Ich richte mich an Menschen, die – ähnlich wie wir – um Suizidbeihilfe gebeten werden könnten und die sich im Vorfeld oder im Zusammenhang mit einer solchen Bitte damit befassen wollen. Ob sie selbst Angehörige sind oder in einer Pflegeeinrichtung mitarbeiten, ob sie sich im Besuchskreis einer Kirchengemeinde engagieren oder bisher wenig mit dem Thema zu tun hatten: Es ist gut, innerlich vorbereitet zu sein, schon bevor die Anfrage tatsächlich kommt. „Wie stehst du zur Suizidbeihilfe, und würdest du daran mitwirken?“ Je nachdem, in welchen Bereichen jemand sich engagiert, könnten auch Anfragen von Angehörigen kommen, die Rat suchen. Oder man erfährt von Familienkonflikten nach einer erfolgten Suizidassistenz. Für solche Situationen sind in diesem Buch hilfreiche Gedanken und Informationen zu finden.

Am Ende muss jeder Mensch eine eigene Haltung finden. Es ist ein Prozess des Abwägens, aber er läuft auf ein „Ja“ oder „Nein“ hinaus. Im privaten Bereich kann die Antwort auch „vielleicht“ heißen, jedoch nicht in einem diakonischen Unternehmen. Denn wir dürfen die Menschen, die zu uns kommen oder die bei uns arbeiten, nicht verunsichern. Sie sollen wissen, woran sie sind und dass sie bei uns keiner Willkür ausgesetzt sind.

10 Da zum Neukirchener Erziehungsverein keine ausgewiesene Psychiatrie gehört, ist dieser Bereich bei unseren Kamingesprächen nicht vertreten und kann daher auch in diesem erfahrungsbezogenen Buch nicht ausführlich behandelt werden.

Mein Ergebnis des intensiven Nachdenkens lautet: Ich kann mir privat und in meiner beruflichen Leitungsfunktion keine Beteiligung an einer Selbsttötung vorstellen. Jeder Mensch hat das Recht auf den eigenen Willen, auch auf den Willen zu sterben. Aber ich habe ebenso das Recht, diesen Willen zu hinterfragen und ihm nicht zu folgen. Ich bin mir bewusst: Ich werde nicht verhindern können, dass Menschen ihrem Leben mit ärztlicher, familiärer oder anderer Unterstützung ein Ende setzen. Aber ich selbst wirke nicht daran mit und werde niemanden damit beauftragen, das zu tun. Sollte jemand um assistierten Suizid bitten, dann werde ich versuchen, ihn von diesem Wunsch abzubringen. Denn ich sehe meine Aufgabe als Christin so: An der Seite der Menschen bleiben, sie nicht allein leiden lassen; ausharren und aushalten; Leid lindern und Geborgenheit schenken; und ich will Gott, der das Leben geschaffen hat und dem Tod die Macht gebrochen hat, viel zutrauen.

Mein Dank gilt allen, die diejenigen retten, schützen und begleiten, die über Suizid nachdenken oder ihn vollziehen wollen, oder die ihnen Wege zum Leben aufzeigen. Feuerwehr, Rettungsdienste und Polizei, Pflegeheime und Kliniken leisten dabei erhebliches, und auch die Telefonseelsorge, Beratungsstellen und andere Seelsorgedienste. Viele dieser Angebote werden allein von Ehrenamtlichen gestemmt! Dieser vorbeugende Einsatz ist zwar hoch angesehen, aber immer noch viel zu schlecht finanziert. Die Gesellschaft verlässt sich darauf, dass es engagierte Menschen gibt, die dies in ihrer Freizeit tun. Wenn die breite Diskussion um den assistierten Suizid das Ergebnis hätte, dass endlich auch der Lebensschutz aufgewertet wird, wäre das eine gute Entwicklung!

3 Begriffsklärung und höchstrichterliches Urteil

Wer in Deutschland einem anderen Menschen beim Sterben half, befand sich lange Zeit in einer rechtlichen Grauzone. Machten sich Ärztinnen und Ärzte schuldig, wenn sie einem schwerkranken Menschen starke Schmerzmittel gaben, deren Nebenwirkungen sich dann aber als so stark erwiesen, dass er oder sie daran starb? Wenn Patientinnen und Patienten verfügt hatten, dass sie keine lebenserhaltenden Maßnahmen wünschen, handelten Ärzte und Ärztinnen dann korrekt, wenn sie diese unterließen, oder wären sie in jedem Fall verpflichtet, ein Leben zu retten, auch gegen den Willen der Betroffenen?

Solche Fragen wurden in Deutschland noch diskutiert, als in der Schweiz längst Suizidhilfevereine wie „Dignitas“ aktiv waren. In Belgien und den Niederlanden war bereits die „Tötung auf Verlangen“ möglich, mittlerweile auch für Kinder und Jugendliche. In Deutschland aber bewegten sich bis 2015 alle, die einem Menschen auf dessen Wunsch hin aktiv beim Sterben halfen, in unsicheren Bahnen und mussten strafrechtliche Verfolgung fürchten. 2015 regelte der Deutsche Bundestag, nach einem intensiven Diskussions- und Vorbereitungsprozess, die Gesetzeslage neu. Grundsätzlich werden vier verschiedenen Formen der Sterbehilfe unterschieden:

1. Aktive Sterbehilfe

Diese wird unter Anderem „Töten auf Verlangen“ genannt und bedeutet: Jemand möchte sterben und bittet einen anderen Menschen, eine Giftspritze zu setzen. Dies ist in Deutschland verboten und im Strafgesetzbuch § 216 geregelt. Die Regelung kommt auch dann zur Anwendung, wenn es sich nicht um medizinisches Fachpersonal handelt, sondern etwa eine Internetbekanntschaft, mit der Kontakt aufgenommen wurde, um von dem anderen Menschen getötet zu werden. Selbst wenn der Wunsch klar dokumentiert ist, darf er nicht vollzogen werden.

2. Passive Sterbehilfe

Hierbei handelt es sich um das Unterlassen oder den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen. Eine Ärztin oder ein Arzt stellt fest, dass ein Mensch nur noch durch Beatmung und künstliche Ernährung lebendig erhalten wird, ohne dass eine Besserung erwartet werden kann. Dann können „die Maschinen abgestellt werden“ – wie es umgangssprachlich genannt wird – ohne dass die Ärztin oder der Arzt sich strafbar machen würde. Der kranke Mensch stirbt dann auf natürlichem Wege. Passive Sterbehilfe hängt eng mit der modernen „Gerätemedizin“ zusammen. Diese ist ein Segen, wenn jemand nach einem schweren Unfall oder einem Schlaganfall künstlich am Leben erhalten werden kann, bis sich der Zustand bessert. Es liegen aber auch Menschen quälend lange und ohne jede Aussicht auf Gesundung an solchen Maschinen. Wenn Ärztinnen und Ärzte die künstliche Beatmung abschalten, kamen sie früher mit dem Gesetz in Konflikt. Mittlerweile ist hier Rechtssicherheit geschaffen und eine medizinisch nicht mehr erfolgversprechende Behandlung kann straffrei beendet werden. Hilfreich sind dabei eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht, die heute viele Menschen ausgefüllt und

hinterlegt haben. Sie legt den Patientenwillen dar und erleichtert es nicht nur dem Klinikpersonal, sondern auch den Angehörigen, im Sinne des betroffenen Menschen zu entscheiden.11

3. Indirekte Sterbehilfe

Auch diese Form der Sterbehilfe hängt mit der modernen Medizin zusammen. Es wurden Medikamente entwickelt, die selbst die stärksten Schmerzen lindern oder abstellen können. Sie sind überaus hilfreich etwa bei Tumorerkrankungen. Diese Medikamente haben aber so extreme Nebenwirkungen, dass der Patient bzw. die Patientin durch sie zu Tode kommen kann. In Abwägung der Risiken können solche Medikamente eingesetzt werden, um das Leiden erträglich zu machen – wohl wissend, dass das Sterben dadurch beschleunigt werden kann. Eine besondere Form dieser Sterbehilfe ist die „palliative Sedierung“12. Sie wird in Krankenhäusern und Hospizen, aber auch in Pflegeheimen angewandt, um Menschen einen schmerzhaften Todeskampf zu ersparen.

4. Assistierter Suizid

Diese Frage nach der „Beihilfe zur Selbsttötung“ ist unabhängig von der modernen Medizin und quasi so alt wie die Menschheit. Sie war 2015 der Hauptdiskussionspunkt im Deutschen Bundestag: In welchem Maße dürfen Menschen anderen dabei behilflich sein, sich selbst das Leben zu nehmen? Wie ist es zu bewerten, wenn ein Verwandter oder eine Freundin dies tut? Hier ist davon auszugehen, dass es bei der einmaligen Suizidhilfe bleibt, als eine Art „letzter Freundschaftsdienst“. Wie aber wären Pflegekräfte und Ärzteschaft zu beurteilen, wenn sie zwar selten, aber doch mehrfach in ihrem Berufsleben ein todbringendes Medikament anreichen? Und wie ist es bei Vereinen, deren klares Ziel es ist, regelmäßig Suizidassistenz zu leisten und die dafür werben wollen? Dem Deutschen Bundestag lagen 2015 vier parteiübergreifende Gesetzentwürfe vor, die intensiv diskutiert wurden. Zur Überraschung aller gab es dann aber gar keinen langwierigen Abstimmungsprozess zwischen den Entwürfen, sondern bereits bei der ersten Abstimmung erhielt einer der Vorschläge eine große Mehrheit

Der Bundestag stellte in § 217 des Strafgesetzbuchs die sogenannte „geschäftsmäßige Suizidassistenz“ unter Strafe.13 „Geschäftsmäßig“ bedeutet dabei aber nicht „kommerziell“, sondern meint „wiederholt“ oder „organisiert“. Wer also einmalig, etwa im Familien- oder Freundeskreis bei der Selbsttötung hilft, wird nicht bestraft. Wer dies aber regelmäßig tut, in

11 Unter www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/Christliche-Patientenvorsorge-2018.pdf (zuletzt abgerufen: 5.9.2022) finden Sie das Heft „Christliche Patientenvorsorge - Vorsorgevollmachten, Betreuungsverfügung, Patientenverfügung und Behandlungswünsche“ zum Download.

12 Siehe Kapitel 16.

13 § 217 des Strafgesetzbuchs in der Fassung von 2015: Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung

(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht.

einem Suizidhilfeverein oder in einer ärztlichen Praxis, wird strafrechtlich verfolgt und verurteilt.

Den Mitgliedern des Deutschen Bundestages ging es dabei um ein Schutzkonzept Es sollte sichergestellt werden, dass auf Kranke oder Alte kein Druck zum Sterben ausgeübt wird. Es sollte sich auch niemand an der Suizidbeihilfe bereichern können. Deshalb sollte sie nur in Einzelfällen straffrei sein, etwa wenn sie durch Menschen vollzogen wird, die dem Sterbewilligen persönlich nahestehen. Gegen diese Fassung des § 217 wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt. Unter anderem klagten Suizidhilfevereine, die sich in ihrem Recht eingeschränkt sahen. Es kamen aber auch Klagen aus der Ärzteschaft, weil sie verunsichert waren und Rechtssicherheit wollten: Ab wann handelten sie „geschäftsmäßig“? Wäre es schon verboten, wenn sie einmal in fünf Jahren Suizidbeihilfe leistet? Darüber hinaus klagten Menschen, die sich mit Hilfe anderer das Leben nehmen wollten, mit der Begründung: Wer in der eigenen Familie niemanden hat, der solche Rezepte ausstellen kann, kann nicht an todbringende Medikamente herankommen. Deshalb besteht das Recht auf Suizidassistenz für die meisten Menschen nur auf dem Papier. Der Deutsche Bundestag, so wurde argumentiert, hat solch hohe Hürden angesetzt, dass die wenigsten an Suizidbeihilfe gelangen können – es sei denn durch eine Fahrt in die Schweiz.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Klagen intensiv beraten, unter anderem mehrere Anhörungen durchgeführt und die Sichtweise von Patienten-, Behinderten- oder Pflegefachverbänden erfragt. Einbezogen wurde der europäische Blick, denn mehrere europäische Länder wie Österreich, Spanien oder Portugal haben in den vergangenen Jahren ihre Rechtsprechung zur Sterbehilfe, zum assistierten Suizid und zur Tötung auf Verlangen neu gefasst.14

Am 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht die bestehende Regelung aufgehoben Denn der § 217 fasse die Ermöglichung des assistierten Suizids so eng, dass er letztlich nicht umsetzbar sei. Wenn ein Mensch keine nahestehenden Personen kennt, die tödliche Medikamente besorgen können, ist er auf organisierte und damit auf „geschäftsmäßige“ Formen von Suizidhilfe angewiesen.15 Bemerkenswert ist die Begründung des Urteils durch den 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts! Bis dahin wurde in allen Urteilen zur Selbsttötung immer zusätzlich das Umfeld des Suizids mitbedacht und der Suizid nicht nur aus dem Blickwinkel des einzelnen Menschen, sondern auch mit den Auswirkungen auf die Gemeinschaft beurteilt. Deshalb wurden immer zusätzliche Schutzkonzepte eingefordert oder die Auswirkungen von Selbsttötungen auf andere berücksichtigt.

14 Einen Überblick bietet Ulrich H.J. Körtner, Suizidhilfe, in: Streitsache Assistierter Suizid, S. 99-101. 15 Der Text des Urteils ist veröffentlicht unter www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/02/rs20200226_2bvr23471 5.html (zuletzt abgerufen: 5.9.2022).

Das Bundesverfassungsgericht blendete 2020 nun aber das Umfeld und die gesellschaftlichen Folgen stark aus und betrachtete das Thema Suizidbeihilfe strikt aus der Sicht des einzelnen Menschen: Jeder Mensch hat das Recht, in freier Selbstbestimmung über den eigenen Tod zu bestimmen, wenn dieser Wunsch der freien Willensentscheidung entspringt und dauerhaft besteht. Falls jemand dazu Assistenz benötigt, darf der Staat dies nicht unmöglich machen, im Gegenteil: Der Staat muss freiwillige Hilfe zur Selbsttötung garantieren.

Das Bundesverfassungsgericht leitet dies ab aus einer Kombination der Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Diese Sichtweise wurde schon seit längerem an den Universitäten diskutiert, war aber bis dahin noch nicht von einem höchsten Gericht angewandt worden. Interessant ist: Dieser neuen Sicht auf die Selbsttötung hätte keine der vier Gesetzesvorlagen von 2015 standgehalten! Es ist also eine regelrechte Kehrtwende in der Beurteilung von Selbsttötung und Selbstbestimmung.

Wie wichtig den Richterinnen und Richtern dies war, zeigt sich in einer ungewöhnlichen Formulierung: Es gehe um einen Akt „autonomer Selbstbestimmung“. Nun ist „autonom“ die griechische Übersetzung des Wortes „selbstbestimmt“. Das Gericht spricht also von einer „selbstbestimmten Selbstbestimmung“.16

Das bedeutet nun in der Praxis: Jedem Menschen steht die Assistenz zum Suizid zu, unabhängig von Kranksein oder anderen Faktoren. Wer aus Angst vor einem möglichen künftigen Leiden sterben will17 , kann sich dabei helfen lassen, selbst wenn er oder sie kerngesund ist. Wer einem völlig gesunden Menschen hilft, das Leben definitiv zu beenden, wird nicht bestraft.

Es gibt jedoch keinen Zwang, Suizidbeihilfe zu leisten. Das hält das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich fest: Niemand kann zur Suizidassistenz genötigt werden kann.

Das Bundesverfassungsgericht gesteht dem Deutschen Bundestag ausdrücklich zu, rechtliche Rahmenbedingungen für den assistierten Suizid zu formulieren. Dabei hat das Gericht dem Bundestag aber enge Grenzen gesetzt. Er kann nur noch gesetzlich regeln: (1) Wie wird sichergestellt, dass es keine Beeinflussung oder gar Manipulation des Sterbewilligen gibt und wirklich eine freie Willensentscheidung vorliegt? Und (2): Wie kann geprüft werden, dass keine „Kurzschlusshandlung“ vorliegt und der Sterbewille dauerhaft und gefestigt besteht? Auch der Schutz vor Missbrauch kann geregelt werden, aber nur in den engen Grenzen des Gerichtsbeschlusses Es besteht also ein Rechtsanspruch auf Suizidbeihilfe, wenn der Sterbewunsch stabil und selbstbestimmt ist. Es geht folglich nicht allein um Schwerstkranke! Das ist oft zu hören: „Im Einzelfall ist der assistierte

16 Mehr dazu in Kapitel 5.

17 Der sog. „Präventivsuizid“, in Abgrenzung zum „Unerträglichkeitssuizid“ im Zusammenhang mit einer schweren Krankheit.

Suizid sicherlich sinnvoll, zum Beispiel bei sehr schweren Krankheiten.“ Solche Vorbedingungen schließt das Bundesverfassungsgericht aber nun aus, eben bis auf diese: den stabilen und selbstbestimmten Willen. Krankheit, Leiden oder Alter spielen keine Rolle.

Das Urteil hat völlig unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Die Klagenden haben das Urteil natürlich ausdrücklich begrüßt.

Suizidhilfevereine nahmen ihre Tätigkeit verstärkt auf. 2021 wurden rund 350 Suizidbeihilfen geleistet.18 Patienten-, Behinderten- und Pflegeorganisationen sowie die Wohlfahrtsverbände forderten eine rasche gesetzliche Regelung, die die Vorbeugung von Suiziden angemessen in Blick nimmt.

Der Deutsche Bundestag und die „Große Koalition“ aus CDU und SPD waren allerdings ab März 2020 intensiv mit der Bewältigung der Covid19Pandemie befasst, so dass für eine ausführliche Beratung einer neuen Gesetzeslage kein Raum war. Nach der Neuwahl im September 2021 und der Bildung der „Ampel“-Regierung aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP hat der Deutsche Bundestag im Frühsommer 2022 das Gesetzgebungsverfahren eröffnet und Anfang 2023 eine neue Gesetzgebung vorgelegt.

18 www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/sterbehilfe-deutschland-101.html (zuletzt abgerufen: 5.9.2022). Ob es sich um Präventiv- oder Unerträglichkeitssuizide handelt, ist nicht weiter erwähnt.

Betroffene

11 Die Angehörigen – wie geht´s ihnen?

Wenn in Fernsehreportagen oder in Zeitungsbeiträgen davon berichtet wird, wie es den Angehörigen nach dem assistierten Suizid eines nahen Familienmitglieds geht, kann leicht der Eindruck entstehen: Sie tragen diese Entscheidung nach einer längeren Zeit des Abwägens mehrheitlich mit und sind am Ende damit versöhnt.19 Suizidhilfevereine werben gelegentlich damit, dass es für die Angehörigen leichter sei, mit einem assistierten Suizid umzugehen als mit einer „harten“ Selbsttötung.

Studien aus der Schweiz zeigen aber, dass das Bild wesentlich vielfältiger ist und dass die Belastung für die Angehörigen sogar stark unterschätzt wird.20 Nach einer sogenannten „Freitod-Begleitung“ treten wesentlich häufiger psychische Störungen auf als nach einem natürlichen Tod.21 Jede vierte Person, die einen begleiteten Suizid miterlebt, leidet selbst ein Jahr später noch an einer seelischen Erkrankung. Diese Menschen stellen sich jedoch in der Regel keinem öffentlichen Interview mit einer Zeitung oder einem Fernsehsender. Deshalb sollte man durchaus kritisch auf die öffentliche Berichterstattung schauen und sich fragen, ob hier nicht eine Schieflage bzw. Engführung der Darstellungen besteht. Die wissenschaftlichen Untersuchungen sprechen jedenfalls eine andere Sprache als Homepages, auf denen Vereine für die Suizidassistenz werben.22

Und selbst wenn berichtet wird, dass Familienangehörige die Entscheidung mittragen können: Es sind längst nicht alle Familienmitglieder in die Überlegungen für eine Suizidbeihilfe eingeweiht. Und es ist wirklich nicht gesagt, dass tatsächlich alle dieselbe zustimmende Haltung zum assistierten Suizid haben. Die meisten der Angehörigen werden es wohl folgendermaßen erleben: Sie sind erst erschrocken, wenn sie vom Tod eines Familienmitglieds erfahren. Dann hören sie in ihre Trauer hinein, dass es eine Selbsttötung war, und zwar eine assistierte. Und schließlich erfahren sie, dass andere Angehörige diese bereits seit längerer Zeit mit überlegt und sogar mit organisiert haben. Es mag sein, dass das allseits auf Zustimmung trifft. Es ist aber mindestens ebenso gut möglich – und damit muss gerechnet werden! –,

19 Wie schon in der Reportage der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die in Kapitel 2 dargestellt wurde, beschrieben wurde.

20 Reinhold Lindner, digitaler Vortrag am 10. September 2021 beim Fachtag Suizidprävention der Diakonie Deutschland, https://youtu.be/RgDjuhr635Y (zuletzt abgerufen: 5.9.2022).

21 Ulrike Borst, Urs Hepp: Die Leiden der Angehörigen. Suizidalität und Suizid in der systemischen Therapie, in: PiD – Psychotherapie im Dialog 2012.

22 Dass bei den Vereinen immer auch Geld im Spiel ist, wurde im letzten Kapitel berichtet.

dass es für Ärger, Spannungen und ausgewachsenen Streit in der Familie sorgen wird.

Es kann zu unüberwindlichen Zerwürfnissen führen. Man stelle sich vor: Die eine Schwester wirft der anderen lautstark vor, den Tod der Mutter heimlich hinter ihrem Rücken geplant zu haben, und schreit sie an: „Du bist schuld daran, dass Mutti nicht mehr lebt! Du hast sie nicht beschützt! Wie konntest du nur!!“ Ich habe eine vergleichbare Szene einmal am offenen Grab erlebt. Dann braucht es sehr lange, bis ein solcher Riss gekittet ist – wenn überhaupt.

Durch Suizidbeihilfe wird auch das Verhältnis zwischen den Generationen auf eine harte Probe gestellt. Enkelkinder haben oft eine besonders intensive Beziehung zu ihren Großeltern. Wie werden sie reagieren, wenn sie vom plötzlichen Tod des Opas erfahren und davon, dass die eigenen Eltern daran mitgewirkt, es ihnen aber verheimlicht haben? Zu erwarten ist: Das wird sie seelisch tief verletzen, selbst wenn der Verstand diesen Schritt gerne verstehen möchte.

Aus meiner seelsorgerlichen Erfahrung weiß ich leider zu gut, dass ein Suizid fast immer den familiären Zusammenhalt auf eine harte Probe stellt. Denn um mit dem schrecklichen Ereignis umgehen zu können, stellen sich die Angehörigen zwangsläufig Fragen wie: „Wer hat etwas von den Sterbeplänen geahnt? Wer hätte es verhindern können? Wer war schuld?!“ Ich habe mehrere Familien zerbrechen sehen, weil diese bedrückenden Fragen nicht auszuhalten waren.

Bei einem assistierten Suizid sind einige dieser Fragen zwar sehr klar zu beantworten: Der verstorbene Mensch hat es so gewollt, und der- oder diejenige aus der Familie hat es gewusst. Aber es werden dennoch nicht alle Familienangehörigen und nicht alle in Nachbarschaft und Freundeskreis die Entscheidung des Helfers bzw. der Helferin mittragen können. „Hättest du den Vater nicht abhalten können“, wird gefragt werden, und: „Warum hast du uns nicht einbezogen?“ So wird im Nachhinein dann das Vertrauensverhältnis zum verstorbenen Menschen erschüttert: „Warum hat unsere Mutter meinem Bruder vertraut, mir aber nicht?“ „Warum hat der Opa meine Cousine informiert, mich aber nicht?!“ Das kann im Nachhinein einen dunklen Schatten auf das gesamte gemeinsame Leben werfen: „Ich war wohl nicht so wichtig, als dass ich in diese Entscheidung einbezogen worden wäre. Meine Meinung hat anscheinend niemanden interessiert.“ Dass dies belastend ist, erschließt sich von selbst. Man sollte nicht damit rechnen, dass der Sterbewille eines Menschen tatsächlich überall verstanden und nachvollzogen werden wird.

Noch dramatischer wird es vermutlich, wenn es nicht um den Suizid eines alten oder kranken Menschen geht, bei dem alle damit rechnen mussten, dass das Leben bald zu Ende geht, sondern um die unterstützte Selbsttötung eines gesunden oder jungen Menschen. Das Bundesverfassungsgericht lässt dies ja ausdrücklich zu. Eine solche Todesart kann niemand letztlich nachvollziehen. Dies zu verkraften, wird sicherlich für die Angehörigen noch viel schwerer sein als bei einem harten Suizid. Dass jemand völlig verzweifelt am Bahngleis steht, ist schon eine schlimme Vorstellung. Aber kaum zu ertragen ist sicherlich das, was nun möglich ist: Ein gesunder Mensch geht planvoll zu einer staatlich angebotenen Beratung, bekommt von Fachleuten einen stabilen Sterbewillen bestätigt und tödliche Medikamente vermittelt, ohne dass die Familie oder Freunde eine winzige Chance hätten, einzugreifen. Und sollte jemand aus der Verwandtschaft von den Plänen dieses gesunden oder jungen Menschen gewusst haben, ohne die anderen zu informieren und ohne fachliche Hilfe zu organisieren, dann wird der Familienfrieden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit darüber zerbrechen.

Und so gilt hier: Die Selbstbestimmung des oder der Einzelnen ist über das eigene Leben und Sterben hinaus fest verbunden mit einer Gemeinschaft. Es darf nicht naiv erwartet werden, dass eine Entscheidung von allen mitgetragen werden kann, und sei sie noch so selbstbestimmt.

Solche familiären Auseinandersetzungen werden sich künftig darüber hinaus auf Beerdigungen auswirken. Bisher haben Bestattungsunternehmen sowie Pfarrerinnen und Pfarrer wenig Erfahrungen darin, Familien nach einem assistierten Suizid zu begleiten. Für die Vorbereitung und die Durchführung einer solchen Beerdigung wird dann noch viel mehr Einführungsvermögen nötig sein als ohnehin. Zu Trauer und Ängsten, die mit jedem Sterben eines lieben Menschen verbunden sind, kommen dann noch die unterschiedlichen Haltungen zu dieser Todesart und verwirrend aufeinanderprallende Gefühlswelten. Das alles muss gleichermaßen wahrgenommen und verarbeitet werden. Hier kommt der begleitenden Nachsorge eine große Rolle zu – damit die Angehörigen, die noch lange darunter leiden werden, nicht alleine bleiben.

Zwei Gedanken zum Schluss dieses Kapitels: Häufig bitten die alten Eltern ihre erwachsenen Kinder darum, sie bei der Selbsttötung zu unterstützen.23 Aber ist ein erwachsenes Kind wirklich verpflichtet, den Eltern jeden Wunsch zu erfüllen? Für ein kleines Kind gab es keine andere Wahl, da war der Wille der Eltern quasi Gesetz. Aber ein

23 Jürgen Wiebicke berichtet in seinem Buch „Sieben Heringe. Meine Mutter, das Schweigen der Kriegskinder und das Sprechen vor dem Sterben“ (Köln, 3. Auflage 2021, S. 45-49) eindrücklich davon, wie er mit sich gerungen hat, ob er seinem Vater diesen Wunsch erfüllen soll, und ihn schließlich ablehnt – wodurch sein Vater noch viele weitere Lebensjahre geschenkt bekommt.

erwachsener Mensch kann durchaus „Nein“ sagen zu einem Wunsch der Eltern, wenn er der eigenen Überzeugung widerspricht. Ebenso wenig wie die Assistenz in der Eingliederungshilfe24 nicht bedeutet, alles mitmachen zu müssen, so kann auch ein erwachsen gewordenes Kind den Eltern den Wunsch nach Suizidhilfe absprechen – etwa in dem Wissen, dass dieser Wunsch die Familie möglicherweise zerreißen wird. Für die Seelsorge gilt ähnliches: Seelsorge bedeutet wohl, einen Menschen bedingungslos anzunehmen – aber nicht alle Gedanken und Pläne kritiklos mitzutragen. Menschen, die sterben wollen, brauchen ein kritisches Gegenüber, das mit ihnen nach anderen Wegen sucht.25

Und: Jene Einrichtungen, die sich aktiv an Suizidassistenz beteiligen wollen, sollten sich meiner Ansicht nach dabei aber nicht gegen die Angehörigen stellen. Wenn ein Pflegeheim Suizidassistenz leistet, wäre es meines Erachtens eine wesentliche Voraussetzung, dass die engsten Angehörigen eingeweiht sind. Falls die Familie nichts ahnt oder die Bitte um assistierten Suizid vielleicht selbst schon abgelehnt hat, kann ich nur davon abraten, gegen den erklärten Willen der Angehörigen oder in deren Unkenntnis die Suizidassistenz zu organisieren. Denn eine enge, vertrauensvolle Kooperation mit den Familien gehört doch aus gutem Grund zu den wichtigen Merkmalen eines guten Pflegeheims. Wenn Angehörige fürchten müssen, dass hinter ihrem Rücken einem geliebten Menschen beim Sterben geholfen wird, ist dieses Vertrauen auch über die betroffene Familie hinaus sehr schnell verspielt. Ohne Offenheit und Klarheit wird es nicht gehen. Zu Heimlichkeiten sollte sich ein Pflegeheim nicht hinreißen lassen.

24 Siehe Kapitel 14.

25 Ulrich H.J. Körtner, Suizidhilfe, in: Streitsache Assistierter Suizid, S. 106-107.

Ausblicke

23 Wir bleiben etwas schuldig

Im ersten Kapitel habe ich davon gesprochen, dass uns die Frage nach dem assistierten Suizid in ein Dilemma führt. Wir müssen uns entscheiden, aber jede Entscheidung birgt Anteile von Fehlentscheidungen in sich. Das bedeutet zudem: Jede Entscheidung trägt Anteile von Schuld in sich. Denn ganz gleich wie wir uns entscheiden, bleiben wir Menschen etwas schuldig. Nun reden wir nicht gerne von „Schuld“, weil wir dann, wie bei einem Verkehrsunfall, gleich an die Schuldfrage, an Entschädigungszahlung, Bußgeld oder Gerichtsverfahren denken. Andere denken bei „Schuld“ an Kirche und Beichte, was ihnen fremd vorkommt. Ich rede aber hier nicht von „Schuld“ als religiösem Begriff, der sich auf das Verhältnis von Gott und Menschen bezieht und dann noch mit dem schwierigen Begriff der „Sünde“ zusammengedacht wird. Ich rede auch nicht vom Rechtsbegriff der Juristen. Sondern ganz nüchtern und ganz zwischenmenschlich: Ich rede darüber, dass wir mit unserer Entscheidung in jedem Fall anderen Menschen gegenüber etwas schuldig bleiben werden.

Wie bei dem Mann, der vor vielen Jahren in meiner Nachbarschaft lebte und an einer Krebserkrankung im Mund-Rachen-Raum litt. Lange kämpfte er tapfer gegen die Erkrankung an mit Operation, Bestrahlung und Chemotherapie. Schließlich wurde klar: Er konnte nicht mehr gesundwerden. Im Gegenteil, der Krebs war so weit fortgeschritten, dass er in absehbarer Zeit daran sterben würde. Und er wusste genau: Diese letzten Wochen würden sehr schwer werden. Denn es waren nicht nur Schmerzen zu erwarten. Die Geschwüre im Mund würden zunehmend unerträglicher riechen. Diese Belastung wollte er sich und seinen Lieben ersparen. „Bitte kürzt mir diese letzte Phase ab!“, war sein Wunsch. Damals ging das nicht. Heute wäre das möglich. Was täte ich, würde ich –jenseits meines dienstlichen Umfelds – im privaten Raum gefragt, von jemandem wie diesem früheren Nachbarn?

Ein solcher Wunsch geht zu Herzen, und wer nicht ganz hartherzig oder gleichgültig ist, wird sorgfältig darüber nachdenken. Dennoch muss ein barmherziger, mitfühlender Mensch die Folgen einer Entscheidung bedenken. So entsteht das Dilemma: Egal wie jemand sich zu dieser Bitte verhält, er wird etwas schuldig bleiben. Wer „Nein“ sagt, wird den Erkrankten leiden sehen und sich schuldig fühlen, ihm nicht geholfen zu haben. Wer „Ja“ sagt, wird möglicherweise selbst lange daran leiden, wird manche der anderen Angehörigen verstören und kann nicht ausschließen, dass weitere Menschen zur Selbsttötung ermutigt werden. Aus einem solchen Dilemma kommen wir nicht heraus, und wir werden immer selbst daran leiden, dass eine Situation sich nicht wirklich gut lösen lässt. „So oder so wird der Mensch schuldig“, schrieb Dietrich Bonhoeffer. Seine Gedanken stammen aus einer anderen Zeit und einem anderen Zusammenhang. Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) war evangelischer Theologe in der Zeit des Nationalsozialismus und aktiv im Widerstand

gegen Hitler. Er war eingeweiht in die Attentatspläne, die einige ranghohe Militärs um Graf von Stauffenberg entwickelt hatten. Bonhoeffer hat sehr intensiv darum gerungen, ob er diese Pläne gutheißen soll oder nicht. Denn geplant wurde die Tötung eines Menschen und damit der klare Verstoß gegen das Gebot „Du sollst nicht töten“. Dieses Gebot wollte Bonhoeffer auf keinen Fall vorschnell beiseiteschieben. Zugleich verfolgten die Verschwörer das Ziel, unmittelbar nach dem Tod Hitlers den Krieg zu beenden. Das hätte sehr vielen Menschen das Leben gerettet. Bonhoeffer musste also diesen einen Toten gegen viele Tote abwägen und erkannte: „So oder so wird der Mensch schuldig.“ Und er schrieb weiter: „… und so oder so kann er allein von der göttlichen Gnade und der Vergebung leben.“26 Mir helfen beide Gedanken von Bonhoeffer heute im Blick auf das Dilemma des assistierten Suizids. „So oder so wird der Mensch schuldig.“ Wer die Suizidbeihilfe in solch belastenden Momenten ablehnt, bleibt etwas schuldig, weil er den Wunsch eines Menschen nicht erfüllen kann, so nachvollziehbar und selbstbestimmt er sein mag. Wer sich entscheidet, sich in einem Grenzfall an der Suizidbeihilfe zu beteiligen, macht sich mitschuldig am Sterben eines Menschen und an den Folgen, die jeder Suizid für andere Menschen hat. In dieser Abwägung würde ich mich wohl nicht nur in der Verantwortung für ein diakonisches Unternehmen, sondern auch als Privatmensch dafür entscheiden, eine Selbsttötung nicht zu unterstützen.

„…so oder so kann er allein von der göttlichen Gnade und der Vergebung leben“. Es mag sein, dass ich mich für meine Entscheidung vor meinem Schöpfer zu verantworten habe. Dann vertraue ich darauf, dass er mir vergebend begegnet, weil er weiß: Ich habe nicht leichtfertig entschieden, sondern in einem schwierigen Dilemma eine Position finden müssen.

Das Eingeständnis, dass in jedem Fall „Versagen“ und „Etwas-schuldigbleiben“ im Spiel sind, wird vielen Menschen befremdlich erscheinen. Ich halte es aber für geboten, sich das deutlich zu machen und darüber demütig zu werden. Denn es geht hier nicht nur um Selbst- oder Fremdbestimmung. Es geht nicht um Recht haben oder bekommen. Sondern es geht um den Tod von Menschen: von alten oder kranken, aber auch von jungen, gesunden Menschen. Da können wir nicht zurückhaltend genug sein.

Über „schuldig werden“ rede ich ausdrücklich nicht in Blick auf diejenigen, die sich selbst das Leben nehmen. Sie tragen keine Schuld! Denn ihr Schritt erfolgt aus tiefer Verzweiflung heraus. Diese Verzweiflung kommt manchmal daher im Gewand von „Mut“ oder „Konsequent-sein“. Aber letztlich sterben sie aus eigener Hand doch im Zustand der Hoffnungslosigkeit27, denn sie können für ihr Leben keinen Sinn und keine Rettung mehr sehen. Deshalb ist hier keine wie auch immer geartete Beurteilung, erst recht keine Verurteilung angebracht, sondern

26 Dietrich Bonhoeffer, Ethik.

27 So definiert der Duden „Verzweiflung“.

Verständnis, Zuwendung und die Bereitschaft, ihre Verzweiflung mit ihnen auszuhalten.

Ich rede auch nicht von „schuldig werden“ derer, die sich beim Suizid helfen lassen. Denn ihr Schritt erfolgt letztlich aus tiefer Verzweiflung heraus. Diese Verzweiflung kommt manchmal daher im Gewand des „selbstbestimmten Handelns“. Aber letztlich sterben auch sie im Zustand von Hoffnungslosigkeit, weil sie für ihr Leben keinen Sinn mehr sehen können. Dieser Gedankengang wird sicherlich bei vielen einen „Einspruch!“ hervorrufen. Denn sie fühlen sich durchaus selbstbestimmt, wenn sie sich für das Sterben entscheiden. Aber es ist doch unstrittig: Wer nicht mehr leben will, hat keine Hoffnung mehr für das eigene Leben. Und das ist „Hoffnungslosigkeit“.

Aber ich bin überzeugt– und das wird sicherlich Einsprüche hervorrufen: Wer jemanden bei der Selbsttötung unterstützt, bleibt etlichen Menschen etwas schuldig.

Den Angehörigen, die nicht eingeweiht waren und die diesen Schritt nicht mittragen können. Sie sehen im Nachhinein ihre scheinbar so vertrauensvolle Beziehung zum verstorbenen Menschen überschattet. Je enger dieses Verhältnis, desto schwerer wiegt der Vertrauensbruch. Diese Bitterkeit wird dann zeitlebens die Erinnerung bestimmen. Das muss sich auch derjenige anlasten, der beim Suizid mitgewirkt hat.

Eine Suizidassistenz bleibt jenen Menschen etwas schuldig, die sich durch diesen Suizid ermutigt fühlen, ihrem eigenen Leben ebenfalls ein Ende zu setzen. Dieser „Werther-Effekt“28 ist schon bei eigenhändigen Suiziden sehr belastend. Ich habe es als Gemeindepfarrerin leider miterleben müssen, wie eine „Suizid-Welle“ durch den Ort ging und fünf Menschen starben, nachdem einer den Anfang gemacht hatte. Ebenso viele Familien sowie ungezählte Freundinnen und Freunde wurden in tiefe Trauer gestürzt. Solch einen „Werther-Effekt“ werden wir künftig bei assistierten Suiziden erleben! Menschen, die noch hätten leben und – mit der passenden Unterstützung – wieder eine gute Zeit hätten haben können, stürben vor der Zeit. Kann eine Freitod-Begleitperson es wirklich aushalten, eine Sterbewelle mit ausgelöst zu haben? Dies ist einer der Gründe, warum ich für unsere Senioreneinrichtungen keine

Dienstanweisung für Suizidassistenz unterschreiben werde: Weil meine Kolleginnen, Kollegen und ich nicht wollen, dass eine solche Welle durch unsere Senioreneinrichtungen geht. Wir werden es nicht verhindern können, dass Menschen in unseren Häusern sich eigenhändig oder assistiert das Leben nehmen und dies dann weitere Suizide nach sich zieht. Aber es soll nicht unsere Beteiligung sein, die das verursacht hat. Wir wollen im Gegenteil so viele Suizide wie möglich verhindern, um mehr Menschen zu schützen. Zeitverzögert wird möglicherweise jemand, der Suizidbegleitung übt, sich selbst gegenüber schuldig! Denn es könnte sein, dass ein scheinbar stabiler Sterbewille sich im Nachhinein als Irrtum herausstellt. Die Mitarbeitenden in den Pflegeheimen schilderten die große Sorge, dass sie

Siehe Kapitel 6.

fehlinformiert und eventuell sogar missbraucht werden und dann einem Menschen ein todbringendes Medikament überreichen könnten, der eigentlich doch nur unter dem Druck der Familie die Suizidassistenz erbeten hat. Wer könnte mit solch einer Schuld leben? Für mich ist dies ein gewichtiger Grund, in den Einrichtungen des Neukirchener Erziehungsvereins die aktive Beteiligung an Suizidhilfe auszuschließen. Angebracht ist die Frage, ob diejenigen Schuld auf sich laden, die für sich selbst viele Jahre im Voraus, also „vorbeugend“ den Anspruch auf Suizidbeihilfe fordern. Bei einer Diskussion sagte ein junger Mann „Wenn ich selbst mal sterben will, dann will ich mir keine Gedanken machen, ob ich damit vielleicht irgendwelchen Kindern und Jugendlichen schade!“ Das ist eine Einstellung, die ich als sehr problematisch empfinde, weil sie nur auf sich selbst sieht, aber nicht auf die Folgen für andere. Ein Mensch, der über sein Lebensende nachdenkt, hört nicht auf, ein Mensch zu sein, der Verantwortung für andere hat.29 Diese Verantwortung für andere rundheraus abzulehnen, und zwar nicht in einem unmittelbaren Zustand von Verzweiflung, sondern sehr bewusst im langfristigen, rein gedanklichen Vorgriff: Das ist aus meiner Sicht eine zweifelhafte, ja möglicherweise sogar hartherzige Haltung. Rein selbstbezogen dürfen wir aber mit dieser Frage von Leben und Tod nicht umgehen! Zu unserem Menschsein gehört, dass wir die Folgen unseres Handelns wachsam zur Kenntnis nehmen und anderen Menschen nicht vorschnell Schaden zufügen.

Ich denke an eine junge Frau in einer unserer Jugendwohngruppen. Sie ist von ihrem Vater und ihrem Bruder vergewaltigt worden. Sie wird, das ist zu befürchten, niemals eine unbeschwerte Liebesbeziehung führen können. Oft genug will sie ihrem Leben ein Ende setzen, und es braucht viel Vertrauen, Geduld und Rückenstärkung, damit sie Selbstbewusstsein gewinnt und ihrem Leben etwas zutraut. Wenn sie nun hört, dass jemand den eigenen Tod plant nur für den Fall, dass er im Alter krank wird – was lebt dieser Erwachsene dieser jungen Frau vor? Vermittelt er ihr nicht, dass ihr Leben mit ihren Problemen und Belastungen tatsächlich sinnlos ist und sie mit ihren schlimmen Erfahrungen besser tot wäre? Auf keinen Fall vermittelt er ihr, dass das Leben es wert ist, darum zu kämpfen. Immer wieder ist die Rede von Menschen, die einen sogenannten „Bilanzsuizid“ begehen wollen. Davon spricht man, wenn ein Mensch sein Leben Revue passieren lässt und zu der Erkenntnis kommt: „Nun habe ich alles erreicht. Nun will ich gehen.“ Ich denke: Wenn wir einem völlig gesunden Menschen die Mitwirkung am „Bilanzsuizid“ verweigern, bleiben wir ihm nichts schuldig. Denn wer so wach plant und entscheidet, ist in der Lage, sich den Suizid selbst organisieren. Es ist zudem in der Fachwelt umstritten,30 ob der Bilanzsuizid nicht in Wirklichkeit aus einer unerkannten, quasi „getarnten“ Form der Depression heraus erwogen

29 Solidarität bis zum Ende. Position des Synodalrats der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn zu pastoralen Fragen rund um den assistierten Suizid, 2018.

30 Reinhold Lindner, digitaler Vortrag am 10. September 2021 beim Fachtag Suizidprävention der Diakonie Deutschland, https://youtu.be/RgDjuhr635Y (zuletzt abgerufen: 6.9.2022).

wird, etwa auf der Schwelle zum Ruhestand. Das heißt: In Wahrheit sieht dieser sterbewillige Mensch keine Zukunft mehr für das eigene Leben und kann sich überhaupt nicht mehr vorstellen, dass es erfüllt weitergehen kann. Das sind doch deutliche Kennzeichen einer Depression. Die angemessene Reaktion ist hier also nicht, den Suizid mit vorzubereiten, sondern diesem Menschen den Weg zu einer fachärztlichen Beratung zu bahnen.

Bitter bleibt es aber, von einem schwerstkranken Menschen um Beihilfe zum Sterben gebeten zu werden und dies nach innerem Abwägen abzulehnen. Dann verweigere ich ihm die Möglichkeit, nicht weiter zu leiden. Das ist eine belastende Entscheidung, und ich werde mit einem „Nein“ schuldig an einem schwer leidenden Menschen. Zugleich weiß ich, dass ich den Schutz anderer Menschen mitdenken muss. Ich würde folglich dem einzelnen Sterbewilligen etwas schuldig bleiben, um nicht wiederum an anderen Menschen schuldig zu werden. Für mich ist damit aber die Verpflichtung verbunden, den leidenden Menschen nicht alleine zurückzulassen. Im privaten Umfeld heißt das: Da bleiben, sich Zeit nehmen, anderes zurückstellen, die engsten Angehörigen unterstützen. In unseren Einrichtungen bedeutet das: Wir verstärken die Seelsorge für Sterbende und ihre Angehörigen, und wir arbeiten eng und verlässlich mit Hospizvereinen zusammen. Es ist aus meiner Sicht jetzt, wo in Deutschland wohl mehr und mehr assistierte Suizide geschehen werden, gerade die Aufgabe von christlichen Seniorenheimen, Krankenhäusern und Hospizen, Gegenmodelle zum assistierten Suizid stark zu machen und fürsorgende und aushaltende Begleitung so weit wie möglich zu garantieren. Damit die Menschen, denen wir aus guten Gründen keine Suizidassistenz anbieten können, dennoch nicht alleine sind, keine unnötigen Schmerzen haben und sich nicht von Gott und den Menschen verlassen fühlen müssen.

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