MOOR JOVANOVSKI
Mann, echt jetzt!
Wie der Blick nach innen stark macht
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Lektorat: Hauke Burgarth, Pohlheim
DTP: Burkhard Lieverkus
Verwendete Schrift: Scala Pro, Scala Sans Pro Gesamtherstellung: Finidr, s.r.o.
Printed in Czech Republic
ISBN 978-3-7615-6895-8 Print
ISBN 978-3-7615-6896-5 E-Book
www.neukirchener-verlage.de
Inhalt
Im gleichen Boot? 7
Teil 1: Mann sein – von der Verwundung zur Stabilität 13
1. Hand aufs Herz 13
2. Die Masken, die ich trage 31
3. Die Wunden, die ich habe 47
Wundtyp „Lüge“ 52
Wundtyp „Angst“ 54
Wundtyp „Wut“ 55
Wundtyp „Scham“ 56
4 . Der Vater, der mir fehlt 69
5. Der Freund, den ich brauche 75
6. Der Mann, der ich sein will 81
Teil 2: Ehemann sein – vom Egoismus zur Partnerschaft 87
7. Die Frau, die ich ehre, ist die Frau, die ich begehre 87
8. Die Frau, die ich fördere 97
9. Die Frau, auf die ich höre 101
Teil 3: Vater sein – vom Überwacher zum Möglichmacher 111
10. Der Vater, der den Weg kennt 111
11. Der Vater, der den Weg bahnt 127
12. Der Vater, der ich sein will 1 45
Epilog – Keep it real 159
Dank 163
Teil 1: Mann sein –
von der Verwundung zur Stabilität
„Die wichtigste Ressource für dein Leben ist dein Herz – pass also gut drauf auf!“
(„Die Sprüche“ nach König Salomo, Kapitel 4, Vers 23)
1. Hand aufs Herz
Nicht das Bankkonto, sondern das Herz ist die wichtigste Ressource im Leben.
Ich empfinde diese Behauptung als herausfordernd. Wenn ich ehrlich bin, dann sind mir finanzielle Ressourcen lieber als philosophische Sprüche. Vielleicht denke ich so, weil es mir als Mann realistischer erscheint, etwas durch Finanzen zu bewegen, als über Lebensweisheiten nachzudenken. Das ist sicher etwas verkürzt, weil es im Leben selbstverständlich mehr gibt als das Materielle. Aber es ist doch so, dass ich mich als Mann im Leben stark über Materialismus definiere: mein Wohlergehen, meinen Erfolg, mein Ansehen, meine Sicherheiten, meine Perspektiven, meine Erfolge. Ich möchte, dass man sieht und erkennt, wofür ich stehe und was ich erreiche. Das fühlt
sich für mich wesentlich mehr nach Mannsein an, als nur die richtige Rhetorik zu haben.
Wenn ich aber weiterhin ehrlich sein soll, dann muss ich mir eingestehen, dass ich mir zwischendurch schon die Frage stelle, ob mein Mannsein tatsächlich nur dafür da ist, dass es in meinem Leben materiell stimmt. Gibt es nicht auch in mir die Sehnsucht nach dem berühmten „Es muss noch mehr geben im Leben“?
Ich habe die Erfahrung gemacht und mache sie immer wieder, dass mich die Frage umtreibt: „War das alles!?“ Auch ich f ühle mich manchmal nur getrieben, habe den Eindruck, dass ich alles nur mache, um zu funktionieren.
Es gibt diese Sehnsucht nach einem tieferen Sinn und einem höheren Ziel. Für mich ist dies keine permanente Sehnsucht, sondern eine immer wiederkehrende Frage, die mich begleitet. Je länger ich unterwegs bin, desto klarer wird mir, dass es nicht um das Erreichen eines finalen Zieles geht, das mir das Gefühl gibt, angekommen zu sein. Es geht vielmehr darum, dass ich sicher sein will, dass das, was ich tue und bin, auch tatsächlich damit übereinstimmt, wer ich sein soll und darf. Okay, das ist jetzt auch irgendwie philosophisch. Aber ich möchte eben keine Kopie von jemandem sein und mein Leben auch nicht ohne einen Sinn verbringen. Ich will mich nicht nur für meinen Arbeitgeber oder ein Unternehmen aufreiben und meine Rente als das ultimative Ziel sehen. Es muss einen Platz im Leben geben, der nur für mich reserviert ist. Einen Ort, an dem ich der sein kann, der ich so gerne sein möchte. Wenn ich diesen Gedanken mehr Raum gebe, dann verstehe ich, dass mein Bankkonto mir darauf tatsächlich keine Antwort geben kann – ich muss vielmehr mein Herz fragen. Mit dem Herzen ist es so eine Sache. Als Mann bin ich von Haus aus nicht sonderlich geübt im Umgang mit den Themen
des Herzens. Nicht selten mache ich die Erfahrung, dass wir Männer unseren Emotionen gespalten gegenüberstehen. Wir meinen, dass wir einfach aus unserem Denken heraus handeln. Vernünftig. Verstandesorientiert. Dass wir überlegt und damit auch überlegen handeln … Sorry, wenn ich hier mal Klartext schreibe: Wenn du das denkst, dann machst du dir etwas vor! Oft ist es doch so, dass wir unsere Entscheidungen so fällen, dass sie sich gut (aufgepasst!) anfühlen. Meistens ist das Bauchgefühl der entscheidende Punkt. Auch bei uns Männern. Deswegen ist paradox, wenn wir als Männer uns scheinbar nur auf das Rationale fixieren.
Der Hauptgrund hierfür ist für mich zum einen die eigene Biografie und zum anderen eine traditionelle Rollenaufteilung. Immer noch gilt für viele das ungeschriebene Gesetz: Mannsein heißt, keine Gefühle zu zeigen. Für mich liegt das auch daran, dass es an Leitbildern fehlt. Als junger Mensch kommt man kaum in Kontakt mit Männern, die Gefühle zeigen.
Wir Männer müssen immer alles im Griff haben! Da ist für Emotionen kein Platz. Es geht darum, keine Schwäche zu zeigen und auf alles eine Antwort zu haben. Emotionen wie Angst, Traurigkeit, Ärger, Stolz, Hilflosigkeit, Scham oder Schuld dürfen nicht gezeigt werden. Das ist nur ein Klischee, doch ich bin sicher, dass es weit verbreitet ist und viele Männer dieses Bild von Männlichkeit in sich tragen
Und weil es irgendwie „verboten“ scheint, Gefühle zu haben, fällt uns Männern der Zugang zur eigenen Gefühlswelt, sprich zum Herzen als Ressource, schwer. Sogar so schwer, dass wir diesen Bereich ganz ausblenden. Instinktiv vermeiden wir Männer dann, über uns zu sprechen, und reden dafür umso mehr über andere und anderes: über den Chef, die Kollegen, die Frau, das Unternehmen oder die Kinder. Und dies
geschieht dann meistens eher abstrakt und theoretisch, weil man keine Emotionen zeigen will.
Irgendwie landen wir als Männer automatisch bei dieser Ablenkungsstrategie. Es fällt bereits schwer, als Mann so etwas zuzugeben, doch wenn wir einmal Frauen dazu befragen, w ie ausgeprägt sie die Emotionalität von uns Männern erleben, dann ist das schon eine (negative) Offenbarung.
Dieses „Gefühlsverbot“ verfestigt sich dann auch in der Selbstbetrachtung. Klar fühlt der Mann irgendetwas, aber wenn es nicht zweckdienlich scheint, dann wird es beiseitegeschoben. Dann redet man eben nicht über seine Gefühle, weil sie nicht hilfreich zu sein scheinen oder einen sogar noch stärker verunsichern, dabei können und müssen die eigenen Gefühle von uns Männern unbedingt erfasst werden. Denn Emotionen sind Informationsquellen – wichtiger als das Internet. Gefühle sind wichtig, um die eigenen Grenzen auszuloten und zu erkennen, was man kann und möchte. Wonach man sich sehnt. Meine Gefühle sagen mir nämlich etwas Konkretes über mein Leben: Das meine ich mit Informationen. Diesen Zugang müssen wir uns als Männer erarbeiten. Ich bin sicher, dass es damit beginnt, dass wir die eigene innere Welt, unser Herz, betrachten – als die wichtigste Ressource.
Als Mann denke ich normalerweise: „Wenn ich fachlich kompetent bin, dann bin ich innerlich auf Kurs.“ Nach dem Motto: Wer seinen Job beherrscht, beherrscht auch sein Leben. Aber fachliche Kompetenz, kann auch zu einer Maske werden, hinter der du dich sehr gut verstecken kannst. Dann handelst du getreu dem Motto: Je mehr ich weiß, desto weniger errege ich den Verdacht, dass ich eine Not oder eine Unsicherheit habe.
Ich finde, wir Männer müssen uns überwinden, diese und andere Masken abzulegen und einen Blick in unsere innere
Welt riskieren. Dies ist ein bewusster Entschluss, die antrainierte Abwehr, sich seinen Gefühlen nicht stellen zu wollen (oder zu können), zu durchbrechen. Dazu ist Mut nötig, damit wir das Risiko eingehen, uns unseren eigenen Gefühlen zu stellen, die wir normalerweise eher beiseiteschieben wollen.
Die Maske der Fachlichkeit kann eine Hürde sein. Vielleicht besteht unsere Maske aber auch aus Angst, keine Schwäche zeigen zu dürfen, oder wir tragen eine Maske aus Zynismus und Überheblichkeit, mit der wir unsere eigenen Minderwertigkeitsgefühle kaschieren wollen.
Auch vor diesem Hintergrund finde ich es interessant, dass König Salomo keine Silbe über Status, Besitz und Ansehen verliert. Dies sind nämlich typisch männliche Masken. Das ist irgendwie entwaffnend. Es geht ihm nur um die innere Welt. Und wenn ich mir die Klischees ansehe, die mich als Mann davon abhalten, mein Herz in den Fokus zu nehmen, dann glaube ich auch, dass es diese gewisse Angst gibt, die Männer davon abhält, einen Blick in ihr eigenes Herz zu riskieren. Denn es gibt dort auch Schatten und Wunden.
Jeder hat irgendwann und irgendwie Dunkles und Verletzendes im Leben erfahren. Und vielleicht erscheint es dann leichter, sich ins Klischee „Männer zeigen keine Gefühle“ zu flüchten, als sich mit ihnen konfrontiert zu sehen oder diese Bereiche genauer anzusehen.
Jedes Ereignis im Leben hinterlässt seine Spuren. Deine eigene Biografie ist geprägt von Geschichten und Erlebnissen, die sich auf dein späteres Denken und Handeln auswirken. Da sind sowohl gute als auch schlechte Erfahrungen, die du sozusagen innerlich abgespeichert hast und die auch Spuren in deinem Herzen hinterlassen haben.
Hier werden Erfahrungen und Emotionen abgespeichert, auf die du zurückgreifst, um dein Handeln zu definieren. Hier
legst du dich fest, welche Ziele und Werte du hast und verfolgen möchtest. Das Herz, von dem König Salomo spricht, ist demnach kein unbeschriebenes Blatt oder gar eine neutrale Zone. Dieses Herz ist wie eine zentrale Schaltstelle für deine persönliche Lebensgestaltung.
Ich habe beispielsweise durch meine Biografie früh abgespeichert, dass man unversehens von heute auf Morgen alles verlieren kann. Durch den Verlust meiner Kernfamilie fiel ich viel zu früh aus dem „warmen Nest“ und landete nach Erfahrungen mit Drogen und Frauen in einem völligen Durcheinander.
Im Alter von siebzehn Jahren musste ich die Scheidung meiner Eltern erleben. Schon vorher trennten sich die Wege zu meinem Vater auf dramatische Weise. An einem Abend im Dezember 1993 klingelte es an unserer Wohnungstür. Mein Vater öffnete die Tür und blieb wie angewurzelt stehen. Ich kam in den Hausflur und im gleichen Augenblick klickten die Handschellen.
Mein Vater wurde vor meinen Augen und denen meiner Geschwister verhaftet und abgeführt. Zwei Beamte blieben zurück und klärten meinen Bruder und mich über die Optionen auf, die wir nun hatten: betreutes Wohnen in einer Trägerschaft des Jugendamtes oder zu Verwandten gehen. An diesem Abend zerbrach meine Familie. An diesem Abend zerbrach mein Leben. In diesem Moment zerbrach ich.
Meine Mutter ging mit meiner jüngeren Schwester einen anderen Weg, als mein Bruder und ich ihn gehen mussten. Mein Vater war insgesamt acht Monate inhaftiert und danach verlor ich den Kontakt zu ihm komplett. Wie lange er insgesamt im Gefängnis saß, wollte ich nicht wissen und weiß es auch nicht.
Dass wir keinen Kontakt haben, ist bis heute so. Ich sah ihn das letzte Mal am Tag seiner Verhandlung kurz nach der Schei-
dung. Er kam mir in Handschellen im Gerichtsgebäude entgegen. Ich war an diesem Tag für eine Zeugenaussage geladen. Dies war sehr schwierig für mich. Erst durch die Verhandlung erfuhr ich von seinem Strafregister, das sich über etliche Jahre erstreckte. Als Kind konnte ich es mir nicht vorstellen, und als Teenager ahnte ich nichts davon.
Was ich hier erfuhr, ließ mich an der Person meines Vaters vollends zweifeln. Ich verlor nicht nur meine Familie, sondern auch mein Ideal von Vaterschaft. Damit fiel ich also nicht nur aus dem Nest, sondern ich schlug brutal auf dem Boden auf.
Die Maske, die ich anschließend aufsetzte, sollte jede Angst vor Verlust verbergen. Ich demonstrierte eine äußere Stärke, die ich innerlich gar nicht besaß. In mir gab es das tiefe Trauma des Verlierens. Dass einem von einem Moment auf den anderen alles genommen werden kann, brannte sich in meine Seele ein. Es war eine Angst vor der Willkür und Unberechenbarkeit des Lebens, das scheinbar keine Gnade kennt.
Mein Herz war weder eine Hilfe noch brachte es mir Stabilität. Ich hatte vielmehr das Gefühl, dass ich nur ins Leere g riff, wenn ich nach innerer Stärke und Selbstbewusstsein Ausschau hielt.
Dass König Salomo das Herz des Menschen mit einer wichtigen Ressource für sein Leben vergleicht, ist demnach herausfordernd und einladend zugleich. Denn es fordert mich dazu auf, zu meinen Gefühlen zu stehen, diese kennenzulernen und sie auch als Informationsquelle für meine Sehnsüchte zu betrachten. Dabei fallen mir auch Masken und Wunden auf, aber ich erkenne, dass eine Pflege meiner inneren Welt unumgänglich und sogar heilsam ist.
Es ist kein Geheimnis, dass man das Leben nicht beeinflussen kann. Es geschehen Dinge und es ereignen sich Begebenheiten, mit denen man einfach umgehen muss.
Einiges kann man planen, vieles geschieht einfach. Ich kann meinem Berufswunsch nachgehen und dann geht die Firma pleite und ich stehe auf der Straße. Oder ich wünsche mir ein Kind mit meiner Frau und wir bekommen entweder Drillinge oder gar keines. Kurzum: Man macht Pläne und dann geschieht das Leben! Deswegen müssen wir darauf achten, was Spuren in unserem Herzen hinterlassen darf.
Das war und ist der Grund, warum mich die Weisheit von König Salomo gepackt hat. Das Besondere für mich ist daran, dass in der Einleitung zu diesem Buch ein Vater mit seinem Sohn spricht.
Das hat mich richtig fasziniert: ein Vater, der voller Interesse und Fürsorge für seinen Sohn ist, der ihn auf scheinbar alle T hemen des Lebens vorbereiten will und ihm mit Rat und Tat zur Seite steht!
Ich spürte beim Lesen, wie sich eine innere Leere in mir zu füllen begann. Das berührte mich dermaßen stark, dass ich beim Lesen dieses Buches öfter weinen musste. Das Erlebnis, dass ein Vater seinem Sohn so zugewandt sein kann, überwältigte mich. Im Alter von 21 Jahren las ich zum ersten Mal diese Worte und sie eroberten mich.
Für mich ist es deshalb unerlässlich, in meine innere Welt zu schauen. Ich habe gelernt, dass hier tatsächlich die wichtigsten Informationen über mich und für mich liegen. Es ist nicht immer leicht, mich darauf einzulassen, weil ich gerne Arbeit und Verantwortungen vorschiebe.
Ich brauche immer wieder eine Erinnerung, meine Emotionen nicht zu übersehen. Auch wegen meiner Biografie fiel es mir nicht immer leicht, diesen Blick zu riskieren. Als ich auf die Weisheit von König Salomo im Buch der Sprüche stieß, war dies für mich die ständige Erinnerung, mein Herz nicht zu ignorieren, sondern es zu pflegen.
Es gibt viele Redewendungen, die deutlich machen, dass das „Herz“ zentral für meine Lebensgestaltung ist.
Man spricht von einem „gebrochenen Herzen“, wenn es im Leben traurig wird. Es gibt die Aufforderung „Hand aufs Herz“, wenn man einen ehrlichen Moment mit jemandem erleben möchte. Man hat ein „schweres Herz“, wenn man sich Sorgen um Menschen oder Ereignisse macht. Das Herz kann aber auch „vor Freude springen“, weil man glücklich ist, oder es „rast“, weil man sich auf etwas im Leben freut. Ich finde, es ist einfach das richtige Bild, wenn man die eigene, innere Welt beschreiben will. Es ist sehr klug, sein Herz in den Fokus zu nehmen. Was König Salomo hier empfiehlt, ist tatsächlich sehr gut.
Es gibt einiges, was ich in meinem Leben wie selbstverständlich pflege. Und ich tue es deshalb, weil es einen Wert für mich hat und ich mir etwas davon verspreche. Also pflege ich es. Auch wenn es für mich nicht um eine Karriere als Sportler geht, bin ich persönlich sehr sportlich und bewahre mir das. Für mich ist es wichtig, weil ich es als verantwortungsvoll empfinde, gesund zu leben.
Ich pflege und bewahre meinen Körper, weil ich ihn als Quelle für meine Gesundheit ansehe. Deswegen ist es für mich selbstverständlich, gut darauf zu achten, wie ich mich ernähre und bewege und welchen Lebensrhythmus ich habe. Mein Körper ist die Quelle für meine gesamte Gesundheit. Wenn ich das auf meine innere Welt übertrage, dann will ich mein Herz damit fit halten.
So habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, eine sogenannte „Hand aufs Herz“-Zeit in meinem Leben zu etablieren, um die „Fitness“ meines Herzens zu gewährleisten.
Genauso wie ich meine Sportzeiten einplane, plane ich auch diese Zeit in besonderer Weise. Eine Zeit, in der ich bewusst
den Zugang zu meinem Herzen suche, um hier die Ressourcen zu finden, die ich für meine Lebensgestaltung brauche. Ich durchbreche damit mit einem festen Entschluss die antrainierte Abwehr gegen Emotionen.
Konkret sieht der Fitnessplan für mein Herz so aus, dass ich mich entschieden habe, jeweils zum Anfang des letzten Quartales eines Jahres eine innere Inventur vorzunehmen. Während dieser Zeit lege ich meine „Hand aufs Herz“ und habe ehrliche Momente mit mir selbst. Ich tue das bewusst nicht zum Jahresende, denn ich will nicht in das neue Jahr stolpern.
Ich möchte durch diese Inventur einen Handlungsspielraum gewinnen, durch den ich schon Kurs für das neue Jahr im alten Jahr aufnehmen kann. Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn ich schon im September oder Oktober eines Jahres den „Lackmustest“ meines Herzens mache, dass ich mit einer kontinuierlichen Fitness unterwegs sein kann.
Mein Fitnessprogramm habe ich folgendermaßen aufgestellt: Ich klinke mich für 36 Stunden aus meinem Alltag aus und ziehe mich an einen Ort zurück, an dem ich alles ausschalte und mich digital isoliere: kein Handy, kein Computer. Mit meiner Frau spreche ich ab, wie ich zu erreichen bin, und dann verschwinde ich von der Bildfläche.
Ein sehr guter Freund von mir stellt mir hierfür sein Gästezimmer unter dem Dach seines Hauses zur Verfügung. Das Zimmer ist sehr einfach und schön eingerichtet: Ein Bett unter der Dachschräge und daneben steht ein Schreibtisch am Fenster. Dann gibt es noch einen Sessel und einen Schrank an der gegenüberliegenden Wand. Die Schlichtheit des Zimmers entschleunigt mich zudem. Ich bin bereits äußerlich unter dem Einfluss, dass man nicht viel zum Leben braucht.
Das hilft mir, aus dem Hamsterrad auszusteigen, in dem ich mich nicht selten nach Monaten des Arbeitens und Schaf-
fens befinde. Zudem wohnt mein Freund in einem Weinanbaugebiet, das zu langen Spaziergängen einlädt. Ich reise morgens an und bleibe bis zum Abend des darauffolgenden Tages. Damit sind die Rahmenbedingungen für meine nächsten Übungen geschaffen.
Wenn ich hier ankomme, dann habe ich nur meine Bibel und ein Notizbuch dabei. In diesen zwei Tagen faste ich auch, um mich innerlich noch besser auszurichten. Durch das Fasten verzichte ich auf etwas Lebensnotwendiges, um mich besser auf mein Herz fokussieren zu können. Das mag vielleicht radikal klingen, aber ich habe in der Bibel vom Fasten gelesen, dass es eine Haltung des Betens ist. Für mich ist es eine sehr pragmatische Einstellung zum Beten, das ansonsten abstrakt sein kann. So merke ich bei jedem Hungergefühl, dass es eine innere Welt gibt, um die ich mich in den nächsten anderthalb Tagen kümmern möchte.
Wie gesagt hat sich mein Herz im Laufe der hinter mir liegenden Monate an viele Dinge gehängt. Es wurde von vielen Gedanken beansprucht.
Mein Herz hat viel durchgemacht: Ich habe mich gefreut und geärgert, habe mich gesorgt, fühlte mich glücklich, war guter Dinge oder verzweifelt, habe Enttäuschungen erlebt und auch Kränkungen, manchmal habe ich sogar gehasst und war verbittert, war neidisch oder begierig, war zornig und hegte böse Absichten, war einfach nur überglücklich oder fühlte mich unbesiegbar. Mein Herz musste viel ertragen und auch erleiden. Jetzt widme ich meine ganze Aufmerksamkeit nur ihm.
Dabei staune ich immer, welche eigentlich unvereinbaren Dinge in meinem Herzen Platz haben. Wie kann ich jemanden von Herzen lieben und zugleich jemand anderen verachten? Wie kann ich mich über das Glück des einen freuen und 23
wie kann mir das Schicksal des anderen gleichgültig sein? Wie kann ich jemandem Erfolg gönnen und zugleich einen anderen Menschen beneiden?
Ich erkenne dabei immer, dass ich mein Herz als Quelle nicht nur ziemlich beanspruche, sondern zudem auch krass verschmutzen kann. Aus diesem Grund will ich mich mit Gott in dieser Zeit synchronisieren.
Ich glaube, dass Gott als Schöpfer des Menschen das Herz des Menschen am besten kennt. Mir war das eine lange Zeit fremd, so zu denken. Aber ich habe auch einsehen müssen, dass der Mensch nicht das Maß der Dinge sein kann. Dazu sind Menschen viel zu unterschiedlich und eben nicht perfekt.
Auch wenn es mir als aufgeklärter Mensch viel einfacher erschien, nicht über Gott oder andere höhere Wesen zu philosophieren, kam ich an meine Grenzen. Für mich war es immer wichtig zu wissen, dass es eine übergeordnete Wahrheit geben musste. Etwas, das für alle und alles galt. Der Mensch versagt in dieser Rolle. Deswegen war Gott so notwendig. Er stand weit über dem Menschen und war ihm doch so nah.
In diesem „Synchronisationsvorgang“ erhielt ich „Zugriff“ auf Gottes Herz. Ich glaube, dass seine Vollkommenheit meine Unvollkommenheit überschreibt. So erlebe ich es zumindest.
Und weil wir gerade beim Thema „Hand aufs Herz“ sind: Das ist nicht immer leicht, denn man muss sich eingestehen, dass man in sich Dinge trägt, die alles andere als rühmlich und förderlich sind.
Dass ich für einiges in meinem Leben wirklich Vergebung brauche, ist kein frommes Gequatsche und basiert auch nicht auf einem überzüchteten Über-Ich. Manchmal habe ich völlig zu recht ein schlechtes Gewissen und brauche jemanden, der mir bestimmte Dinge verzeiht.
Hierzu soll meine Inventur dienen, und ich gehe dabei wie folgt vor: Ich setze mich auf den Stuhl am Schreibtisch, der neben dem Bett steht. Ich beginne die Inventur bei meiner Ehe. Ich lege meinen Ehering aufs Bett und nehme mein Notizbuch zur Hand. Ich mache diese symbolische Handlung sehr bewusst: Ich lege etwas ab und betrachte es mit einer gewissen Distanz.
Dann beginne ich, meine Gedanken zu Papier zu bringen, während ich auf dem Stuhl vor dem Bett sitze und meinen Ehering betrachte. Mir hilft das Schreiben, um mich innerlich zu sortieren.
Ich denke über meine Frau nach und wie sie mich glücklich macht. Ich halte mir unsere gemeinsamen Erlebnisse vor Augen. Ich denke an unsere Sexualität und überlege, ob sie damit glücklich ist. Dann stelle ich mir die gleiche Frage für mich. Anschließend reflektiere ich über unsere Kommunikation: Tauschen wir nur Informationen aus oder kenne ich noch ihre Träume und Wünsche? Dann weiter: Wie streiten wir? Sind wir bei der Sache oder verlieren wir den Respekt voreinander, wenn es kontrovers wird. Wie sieht unsere gemeinsame Freizeit aus (und haben wir diese überhaupt)? Wie und wann haben wir gemeinsam Spaß und erleben einfach nur die Leichtigkeit einer romantischen Beziehung, die unsere Ehe auch sein sollte?
Dann frage ich mich, wie sie mich erlebt: Bin ich liebevoll? Behandle ich sie würdevoll? Gebe ich ihr das Gefühl, dass sie für mich der wichtigste Mensch ist? Höre ich ihr zu? Bin ich für sie da? Interessiere ich mich für sie? Kenne ich ihre Sorgen? Weiß ich, wie es bei ihr auf der Arbeit läuft? Weiß ich, wie sie ihre Beziehung zu unseren Kindern erlebt? Wie geht es ihr mit ihren Freundinnen und Freunden?
Danach denke ich über unsere vergangenen Konflikte nach: Bin ich noch gekränkt? Habe ich sie gekränkt? Muss ich noch
etwas klären oder steht noch eine Entschuldigung von meiner Seite her aus? Auch denke ich an unseren gemeinsamen Glauben: Beten wir zusammen? Reden wir über Gott und das, was er für uns bedeutet? Sprechen wir auch unsere Fragen und Ängste aus?
Auf diese Weise gehe ich grundlegend die Qualität unserer Beziehung und Kommunikation durch und halte fest, was gut ist, und genauso das, was ich ausbauen sollte. Das ist anstrengend und erfordert sehr viel Ehrlichkeit.
Es kommt also nicht selten vor, dass ich manche Antworten nochmals überdenke, weil ich mich dabei ertappe, wie ich mir bestimmte Dinge schönreden will. Aber ich ermahne mich dabei auf eine gute Weise, denn ich will mir keine Masken basteln, sondern ich möchte die Quelle meines Herzens säubern. Danach entscheide ich, ob ich eine Pause brauche oder ob ich noch Kondition für die anderen Herzensthemen habe.
So breite ich im Lauf der Stunden meine ganzen Themen vor mir auf der Matratze aus: Ich lege meinen Pastorenausweis aufs Bett und analysiere meine Berufung und meine Arbeit; ich lege die Bibel aufs Bett und analysiere meine Gottesbeziehung; ich lege mein Portemonnaie aufs Bett und analysiere meinen Umgang mit Finanzen; ich stelle meine Schuhe aufs Bett und analysiere meinen Lebensstil; ich lege mein Handy (es ist ausgeschaltet) aufs Bett und analysiere meinen Umgang mit den digitalen Medien und den Einsatz meiner Arbeitszeit; ich lege ein Handtuch aufs Bett und analysiere meine Freizeitaktivitäten; ich lege ein Foto meiner Kinder aufs Bett und analysiere mein Vatersein und ich lege meine Hausschlüssel aufs Bett und analysiere meine Kernfamilie und meinen Freundeskreis.
Ich bleibe in dieser Rhythmik: Symbol ablegen, nachdenken und schreiben. Ab und zu verlasse ich das Zimmer und mache einen kurzen Spaziergang, um wieder mental zu
Kraft zu kommen und auch bestimmte Gedanken weiter zuzulassen.
Wenn ich alles durchgearbeitet habe, lege ich mich früher als sonst ins Bett. Das geschieht ganz automatisch, denn diese innerliche Inventur ist tatsächlich auch körperlich anstrengend.
Ich lese dann in der Bibel. Hier lese ich einen Teil der Bibel, der mich besonders interessiert. Ich lese deshalb in der Bibel, weil ich die Bibel als ein unabhängiges Buch kennengelernt habe. Sie beinhaltet Themen des Lebens, die sich in keinerlei gesellschaftlichem Mainstream befinden müssen. Das ist herrlich befreiend. Es gibt Wahrheiten und Begebenheiten zum Lesen, die mich tief beeindrucken und meinen Horizont weiten. Und ich bin nicht selten überrascht, wie das, was ich da gerade lese, nahezu perfekt in meine aktuelle Lebenswirklichkeit passt. Wenn ich es nicht schaffe, alles zu lesen, was ich mir vorgenommen habe, plane ich den Rest für den kommenden Tag ein.
Dann genieße ich den Moment, für nichts und niemanden verantwortlich zu sein, und schlafe irgendwann darüber ein. Für mich ist es wichtig, dass ich vorher keinen Wecker gestellt habe. Ich will einfach dann aufwachen, wenn ich aufwachen soll. Und es ist erstaunlich, wie gut das tut: Sich den Beginn und den Abschluss des Tages nur vom Sonnenlicht vorgeben zu lassen! So schwinge ich einfach mit der Schöpfungsordnung mit – das ist zumindest mein Gefühl dabei!
A m nächsten Morgen überfliege ich dann meine Notizen und mache mich auf den Weg zu einem langen Spaziergang. Auf diesem Spaziergang bin ich betend unterwegs. Damit meine ich, dass ich mich über alles, worüber ich in den letzten 24 Stunden nachgedacht und geschrieben habe, mit Gott unterhalte.
Ich spreche tatsächlich beim Spazierengehen laut vor mich hin. Mir fallen dann auch Bibelzitate ein, die ich entweder am gestrigen Tag oder schon vor Längerem gelesen oder gehört habe. So denke ich über meine Analysen vom Vortag nach.
Und dann übe ich mich im Schweigen. Das fällt mir besonders schwer, weil ich viel über das Reden analysiere. Aber gerade deswegen ist Schweigen für mich wichtig, denn es gibt Momente, da geht es nicht ums Analysieren, sondern ums Zuhören. Ich versuche dann, die nächste halbe Stunde nicht zu reden, sondern zu hören. Ich höre in mich hinein. Höre auf Ideen oder Gedanken, die mir in den Sinn kommen.
Manchmal höre ich auch auf die Dinge, die in der Natur sind: auf Vogelgesang. Auf das Rauschen des Windes. Auf das Knirschen unter meinen Füßen. Auch auf bestimmte Gerüche will ich mich fokussieren. Ich staune, dass ich mit bestimmten Gerüchen auch Gefühle generieren kann.
Auch die Wärme der Sonne in meinem Gesicht oder, je nach Wetter, der Regen, der Feuchtigkeit auf meiner Haut hinterlässt, löst etwas in mir aus. Ich will sozusagen durch alle K anäle meiner Sinne etwas fühlen. Diese Gefühle lösen in mir
Ruhe, Geborgenheit, Glück und Verbundenheit mit Gott aus. Ich höre ihm mit all meinen Sinnen zu.
Danach mache ich mich auf den Rückweg, wenn ich merke, dass ich innerlich alles durchgebetet und durchgespürt habe. Wieder schaue ich bewusst nicht auf meine Uhr. Mein Gefühl soll mich leiten, damit ich weiß, wann es Zeit ist, zu gehen. Ich merke mir Impulse und Gedanken, die ich beim Zuhören wahrgenommen habe. Ich bin sicher, auf diese Weise Gott gehört zu haben.
Möglicherweise ist dies dem ein oder anderen zu mystisch, wenn ich das so schreibe, aber ich erlebe dadurch auch eine innere Reinigung meines Herzens und meiner Gedanken.
In diesem Hören erlebe ich ebenfalls, wo und warum ich Vergebung nötig habe. Ich entschuldige mich bei Gott. Denn dann weiß ich auch, bei welchen Menschen ich mich noch entschuldigen muss. Das ist für mich eine Buße, die mich wirklich frei macht. Und das will ich sein: frei. Frei von meinem Versagen und frei von Fehlern, die mich belasten.
Wenn ich dann wieder in meinem Zimmer angekommen bin, packe ich meine Sachen. Ich warte, bis es beginnt zu dämmern. Ich lasse mich bewusst wieder vom natürlichen Tagesverlauf bestimmen. Es kann sein, dass ich mich bis dahin etwas langweile, aber selbst das tut mir tatsächlich gut. Wenn es dann dunkel wird, verabschiede ich mich von meinem Freund und fahre nach Hause.
Hier komme ich dann mit meiner Frau ins Gespräch. Wir haben uns diesen Abend reserviert. Mit ihr reflektiere ich alle Bereiche meines Herzens und wir sprechen sehr vertrauensvoll und offen.
Sie ist einer der ersten Menschen, bei denen ich mich entschuldige. Das ist dann der letzte Schritt meines Ehrlichseins mit mir selbst. Da muss ich dann schon mal meinen Stolz runterschlucken (aus verschiedenen Gründen). Aber das ist eine Qualität unserer Ehebeziehung, die wir uns über die Jahre erarbeitet haben und die unsere Ehe sehr stabil sein lässt. Zugleich haben wir ein großes Vertrauen zueinander und deswegen auch eine Leichtigkeit, die uns glücklich macht.
Wenn wir an Themen kommen, die wir nicht allein überwinden können, dann suchen wir meinen väterlichen Freund und Mentor auf, dem wir beide stark vertrauen. Er berät uns mit viel Liebe und Respekt. Das motiviert mich und uns, nötige Veränderungen anzugehen. Je nach Thema suche ich ihn auch zuerst auf, um eine Sicherheit im Umgang mit bestimmten Themen zu haben. Denn ich habe auch die Erfahrung ge-
macht, dass es Verunsicherung in meiner Ehe auslöst, wenn ich über meine unfertigen Gedanken spreche. Wenn ich dann meine Gedanken und Gefühle besser auf den Punkt bringen kann, thematisiere ich sie mit meiner Frau.
Wenn du dein Herz pflegst, weil es deine wichtigste Ressource ist, dann kommst du tatsächlich weiter. Nicht nur, dass du eine Inventur machst: Du wirst auch noch fähig, zu deiner inneren Welt eine gesunde Beziehung zu haben. Dann verunsichern dich Emotionen nicht mehr, sondern sie werden zu einem wichtigen Bestandteil deines Lebens. So stolperst du nicht mehr über dich selbst oder bist blockiert.
Du kennst deine Schattenseiten und auch deine Stärken und kannst sehr viel besser damit und mit deinen Mitmenschen umgehen. Das bedeutet nicht, dass du keine Fehler mehr machst, aber du wirst fehlerfreundlicher, weil es menschlich ist. So muss es sein. Und der goldene Satz dazu lautet:
„Ein gepflegtes Herz bringt Klarheit und Stärke.“
Wenn ich mein Herz bei dieser Inventur sehr genau betrachte, fällt mir etwas auf, das ich im Folgenden ansprechen möchte: Ich trage äußerliche Masken, weil ich innerlich Wunden davongetragen habe.