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Leo rotes Kreuz auf weißem Grund

SUSANNE ROLL

Leo SUSANNE ROLL

Rotes Kreuz auf weißem Grund

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: XXX

Illustrationen: XXX

Lektorat: Anja Lerz, Moers

DTP: Breklumer Print-Service, www.breklumer-print-service.com

Verwendete Schriften: Pinto, Adobe Garamond Pro Gesamtherstellung: XXX

Printed in XXX

ISBN 978-3-7615-6892-7

www.neukirchener-verlage.de

INHALT

Leseprobe

PROLOG

Nebelschleier lagen über den sanften Hügeln der Lombardei. Ganz klar und frisch war die Luft. Wie ein heiliges Licht erschien die Sonne im blassen Dunst über den Feldern, den Bäumen und Sträuchern kurz vor Solferino und löste den Nebel auf. Solferino, ein Ort, in dem ich gestern noch in Frieden schlief und in welchem seit heute der Krieg wütet. Geräusche waren so unwirklich klar und laut; ein Husten, ein leise gesprochenes Gebet, ein letzter Befehl. Ich roch schwarze, dunkle Erde. Ein schöner Morgen hätte es sein können, wahrlich, ein Morgen, der zum Wandern einlüde, wären da nicht die Gegner in den Gräben auf der anderen Seite gewesen. Ich sah das Glänzen ihrer Bajonette, die ebenso ins Sonnenlicht eintauchten wie der nasse Glanz ihrer Tränen. Nur einen Steinwurf weit entfernt.

Mein Herz raste, meine Gedanken flohen. Was habe ich mir dabei nur gedacht? Zu Hause hätte es nun den Morgenkaffee gegeben, ein Croissant dazu - mit Butter und Marmelade. Liebende Worte einer liebenden Mutter, das Lachen und Necken meiner kleinen Schwester. Doch hier schmeckte ich nichts als Angst. Meine Finger umklammerten das Gewehr, tasteten nach dem Messer und der Pistole in meinem Gürtel.

Mein Blick fiel auf meine Stiefel und ich dachte, dass meine Mutter schimpfen würde, wäre ich mit diesem Dreck ins Haus gekommen. Ein kleiner Käfer krabbelte über mein linkes Bein, pures, unbeteiligtes Leben auf sechs Beinchen. Dann ging es los, ich hörte das Signal, Trompeten und Trommeln. Meine Muskeln spannten an, der Käfer verschwand ungerührt des Tumultes im dichten Gras. Wie gern hätte ich ihm folgen wollen. Die ersten Schüsse zerrissen die Stille des Morgens. Kanonenfeuer ganz in der Nähe. Rauch lag in der Luft.

Und dennoch … und dennoch … trotz alledem … es roch nach Sommer … 

WER IST HENRY DUNANT?

Das Papier entgleitet meinen Händen, davon werde ich wach. Ich setze mich auf, stütze mich auf den Lehnen meines Sessels ab. Ein schummriges, weiches Abendlicht fällt durch den Spalt der Vorhänge. Die Kerze ist halb heruntergebrannt. Ich muss beim Lesen der Aufzeichnungen meines Vaters eingeschlafen sein. Ruhig höre ich ihn atmen. Die Dunkelheit umschließt uns, nur das flackernde Licht einer fast niedergebrannten Kerze erhellt einen kleinen Ausschnitt des Raumes. Ich wache an Vaters Krankenbett.

Vorsichtig sammle ich die Papiere vom Boden auf. Ich will ihn nicht aufwecken. Es ist so wohltuend, dass er endlich einmal ohne Schmerzen schläft. In meinen Händen halte ich die Aufzeichnungen meines Vaters vom Sommer 1859. Es sind die Aufzeichnungen seines heimlichen Fortgangs aus dem elterlichen Haus, seiner Ausbildung in der Armee und der Schlacht bei Solferino, ein kleiner Ausschnitt seines so abenteuerlichen Lebens.

Mein Vater war damals noch ein Junge, fast 16 Jahre alt, nur wenige Monate älter als ich jetzt. Und dennoch wollte er nichts mehr in seinem Leben als Glanz und Glorie zu erlangen im Krieg gegen den Feind, in einer Schlacht für das Vaterland. Wie oft hatte er mir von seinem Entschluss erzählt, Napoleon III. zu unterstützen, sich ihm anzuschließen, so wie es einst sein eigener

Vater getan hatte. Anstelle seines Vaters, also meines Großvaters, wollte nun er in den neuen Krieg ziehen. Mein Großvater war auch mit Napoleon III. im Krieg gewesen, er hatte nur wenige Jahre zuvor, nämlich 1853, auf der Krim gegen Russland gekämpft und war dort schwer verwundet worden. Er war in ein Lazarett gekommen und hatte Glück im Unglück gehabt. Miss Florence Nightingale, war dort oberste Pflegerin gewesen und hatte meinen Großvater gesundgepflegt. Er hatte seine Beine verloren, einen Arm und den halben Verstand. Aber mit einem Orden der Tapferkeit kam er zurück nach Hause, denn er hatte sich selbstlos und mutig einem Geschütz in den Lauf geworfen und so das treue Pferd Napoleons mitsamt seinem Reiter gerettet. Mein Vater Emile war zu diesem Zeitpunkt erst zehn Jahre alt gewesen, als mein Großvater hochgelobt und ausgestattet mit einer lebenslangen Rente, zurückkehrte nach Paris. Er lebte zwar, doch sein geschundener Körper diente ihm mehr schlecht als recht. Immer öfter tauchte sein Geist ab und ging auf Wanderschaft. In seinen wenigen wachen Momenten schrie er Befehle in den Raum, als wäre er noch in der Schlacht, griff immer wieder mit der ihm verbliebenen Hand in die Luft nach seinem unsichtbaren Gewehr, er duckte sich im Bett, schmiss sich hin und her und rief: „An die Waffen, Brüder, gegen den Feind, zusammen, nur so werden wir siegreich sein.“

Ich weiß, dass das meinen Vater in seinen jungen Jahren sehr geprägt hat. Die Schlacht auf der Krim war lange Zeit Thema in der Familie, in der Stadt, in den Zeitungen der ganzen Welt. Auch wir lernten später darüber eine Menge auf dem Gymnasium. Unser Geschichtslehrer, Monsieur Carjon, konnte gar nicht genug bekommen, uns Jungen immer wieder die glorreichen Taten Napoleons III. vor Augen zu führen. Und manchmal erzählte

er so eindrücklich, dass wir alle dachten, er sei selbst dabei gewesen. Wer weiß, vielleicht glaube er es sogar selbst, obwohl er nie eine Waffe in der Hand, geschweige denn eine abgefeuert hatte. An das Leid, das diese Schlacht verursachte, verschwendete Monsieur Carjon schlichtweg keinen Gedanken. Und auch mein eigener Vater sah sich als Junge in seinen Tagträumen damals eher als Held daherkommen. Wie sein Vater zuvor wollte er die Chance bekommen, siegreich für sein Land zu sein, sich einen Orden zu verdienen, sein Vaterland und seine Familie stolz zu machen. Natürlich wollte er nicht als verwundeter Soldat zurückkehren, der seinen eigenen Namen nicht mehr kannte, der weder Beine noch Arme hatte und gefesselt ans Bett seine letzten Tage verlebte. Er wollte siegreich und glorreich heimkehren, als angesehener junger Mann, der Ruhmestaten vollbracht hatte. Er vergaß dabei nur, dass das Leben sich selten an die eigenen Wünsche hält und dass in den Krieg zu reiten nicht gleichbedeutend war, einen Sieg zu erringen, sei es einer für das Vaterland oder ein persönlicher.

So zumindest sah es in den Gedanken des jungen Emile aus, als er im Sommer 1859 eines Nachts aus dem Hause schlich, um sich dem Heer der Franzosen anzuschließen, das in die Lombardei zog. Der Erzfeind war Österreich. Und Napoleon III. unterstützte die Italiener in ihrem Bemühen, die Lombardei von ihnen zu befreien.

Mehr als 300.000 Soldaten standen sich letztlich in der Schlacht gegenüber: Italiener, Österreicher, Franzosen, aber auch Verbündete aus der Schweiz, aus Ungarn, Rumänien. Mehr als 40.000 von ihnen fielen an nur einem einzigen Tag. Und noch mehr von ihnen wurden verwundet. Einer davon war leider auch mein Vater.

In seinen Aufzeichnungen aus diesem Krieg schreibt er von seiner nächtlichen Flucht aus dem elterlichen Hause. Ende Mai 1859 fieberte mein Großvater schlimmer als sonst, und der Arzt gab ihn auf. Mein Vater Emile, zu diesem Zeitpunkt wie gesagt kaum 16 Jahre alt, sah es als seine Pflicht an, nun in seine Fußstapfen zu treten. Er hielt die Zeit für gekommen und schrieb einen Brief an seine Mutter, in welchem er ihr verspricht, zurückzukommen. Und nicht nur das, er wollte zurückkehren als gemachter Mann, als ebenjener Held, von dem er träumte, ein siegreicher Kämpfer eben.

Später lachte mein Vater immer, wenn er mir diese Stelle aus seinem Leben erzählte und fragte jedes Mal: „Kannst du ihn sehen, diesen Trottel, Leo? Diesen unglaublich dummen Jungen, der von der Welt nichts verstand und schon gar nicht vom Krieg? Der überromantisierte Vorstellungen vom Heldentum hatte? Siehst du ihn, mein Sohn? Wäre Dummheit ein Licht, er hätte gestrahlt wie die Sonne selbst!“

Mein Vater war damals zwei Jahre älter als ich heute, gab sich aber als noch älter aus, um ohne die Erlaubnis der Eltern in den Krieg ziehen zu dürfen, die er sonst benötigt hätte. Der junge Emile schlich sich also durch die Straßen von Paris und folgte dem Aufruf der Soldaten. Jeden Mann konnten sie gebrauchen. In Sammellagern wurden sie registriert, erhielten eine Mahlzeit, ihre Waffen, die Uniform.

Ja, Vater, ich sehe den Jungen genau vor mir, seine glänzenden Augen, als wäre es Weihnachten, als er seine Unterschrift unter die Einstellungspapiere setzte.

Ich betrachte das faltige Gesicht meines Vaters, das friedlich auf den Kissen ruht. Die Krankheit hat es gezeichnet und den-

noch ist es mir so lieb. Wie schön muss es gewesen sein, als es jung war und voller Mut und Träume.

Mein Vater hatte bereits in seinen jungen Jahren ein Talent, alles in Worten festzuhalten. Er schrieb Tagebuch, berichtete von dem, was er erlebte, was er sah, roch, hörte, fühlte. Und diese fortlaufenden Aufzeichnungen wiederum begleiteten mich von Kindesbeinen an. Erst erzählte er mir Geschichten daraus, nur kurze Passagen, als ich klein war. Wenn er von großen Reisen zurückkehrte, las er mir kurze Abschnitte aus den Reportagen vor, die er darüber schrieb, und ich hatte teil an seinen Abenteuern und Fahrten. Doch selbst gelesen habe ich sie nie, das hat er stets vermieden.

„Es ist alles ungefiltert und roh“, sagte er einmal, als ich danach fragte. „Vor allem meine Schreibereien aus den ersten Jahren. Lies lieber die Artikel in der Zeitung, die sind geglättet.“ Mittlerweile liegen die Geschehnisse von 1859 fast vierzig Jahre zurück. Aber in den letzten Tagen erzählt mein Vater immer wieder davon. Er scheint immer mehr in die Vergangenheit zurückzugleiten. Sie ist zum Teil präsenter als unsere gemeinsame Gegenwart. Ich weiß nicht, ob es das Fieber ist, das ihn quält, oder eine offene Rechnung, die er gern begleichen möchte. Also lese ich ihm aus seinen Aufzeichnungen vor, jetzt darf ich es, und helfe ihm, sich zu erinnern, so wie heute.

1. Juni 1859

Mein zweiter Tag im Ausbildungslager brach an. Gestern war nur ein großes Ankommen aller Freiwilligen, die das heimische Heer unterstützen wollten. Da waren zum Teil Jungen wie ich, die sich das erste Mal meldeten, die in allem neu und unbedarft waren, dann waren da die Reservisten, die schon einmal eine

Ausbildung bekommen hatten, aber noch nie in einer Schlacht waren und dann gab es noch die alten Haudegen, die Berufssoldaten, die Schlachten erlebt und überlebt hatten. Man sah es ihnen an, allein wie sie durch das Lager gingen. Sie wirkten irgendwie größer, strenger, unantastbar.

Ich war groß für mein Alter, deswegen war es nicht schwer, für mich eine passende Hose zum Uniformrock zu finden.

Jean-Jacques neben mir war winzig und wurde ein ums andere Mal gefragt, ob er wirklich schon 16 sei. 18 sei er, antwortete er dann, nur eben klein gewachsen. „Gar nicht gewachsen, wie mir scheint“, sagte der Kommandant, nickte ihm aber zu und schickte ihn ins Zelt zu den anderen.

„Krempel deine Hosenbeine um“, rief der Kommandant ihm hinterher, „genauso wie die Ärmel hoch, im wahrsten Sinne des Wortes!“ Er lachte lange und heiser über diesen Witz.

Wir gesellten uns zu den anderen Freiwilligen, die sich für das Heer gemeldet hatten. Es gab warmen Eintopf mit Baguette. Mutter, ich dachte an dich, einmal mehr, als ich dieses Essen sah. Wie viel besser war es doch bei dir zu Haus am runden Tisch!

Sag dem Vater, das Essen hier ist genauso bitter wie seins auf der Krim, doch ich werde nicht schwach daran werden … 

Eine Weile lese ich so vor mich hin, überfliege die Zeilen seiner klaren Handschrift mit den Augen, rieche und schmecke fast den Eintopf. Es ist für mich ein Privileg, dass ich diese Aufzeichnungen nun in meinen Händen halten und Vaters Worte lesen darf. Entweder er hält mich für alt genug oder für reif genug – viel-

leicht beides, oder keines. Es ist manchmal schwer zu erkennen, welche Gründe er hat.

Das Lesen ist so ganz anders, als ihn davon reden zu hören und noch einmal ganz anders, als über die Zeit in unseren Geschichtsbüchern zu lesen. Monsieur Carjon ließ in seinem Unterricht niemals eine Kritik zu, keinen Zweifel an der Richtigkeit aller Handlungen, und vor allem lobte er den Sieg, denn darauf käme es doch an, allein ein Sieg zählte. Mit meinen zwei besten Freunden und Schulkameraden saß ich nach solchen Lobeshymnen spät nachmittags oft noch am Seineufer und diskutierte die unerhörte Meinung vieler anderer, die gegen den Krieg argumentierten, ihn sogar verurteilten. Die neunte Klasse, in die ich ging, bestand aus Jungen, die vornehmlich aus höhergestellten Elternhäusern stammten, aus militärischen Familien, zum Teil Adel und auch obere Mittelklasse. Sie alle waren reiche Jungen, die keinen Mangel in ihrem Leben hatten erleiden müssen. Wir alle würden studieren, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Ich selbst gehörte auch zu diesen wohlhabenden Jungen und hatte sicher nichts zu erleiden, und doch war ich geprägt durch die Berichte meines Vaters, die so ganz anders waren als die Erzählungen unseres Lehrers: Da stand sachliche Berichterstattung neben Urteil und Meinung. Mein Vater ließ es sich nie nehmen, das auszusprechen, was andere nicht einmal zu denken wagten. Vielleicht waren seine Reportagen deshalb genauso gefürchtet wie beliebt.

Bei diesen Gedanken betrachte ich wieder sein Gesicht. Plötzlich wird er unruhig, bewegt die Hände auf und ab, sie streichen übers Bettlaken, versuchen etwas zu greifen. Ich stehe auf und beuge mich über ihn, hauche ihm einen Kuss auf die feuchte Stirn. Wieder ist da Fieber in ihm, das nicht aus seinem Kör-

per hinausfindet. Als hätte Mutter es gespürt, steht sie mit einer Schüssel Wasser in der offenen Tür. „Soll ich dich ablösen, mein Sohn?“, fragt sie mit sanfter Stimme.

Ich schüttle den Kopf und nehme ihr Schüssel und Lappen ab. Ich tauche ihn in das klare, kühle Wasser, wringe ihn aus und benetze die Stirn meines Vaters, seine Wangen, sein geliebtes Gesicht.

„Leo“, flüstert er, lächelt dabei. „Danke, mein Sohn!“

Seine Hand versucht, die meine zu ergreifen, ich komme ihm zuvor und halte sie ganz fest.

„Alles wird gut, Vater“, sage ich. „Du hast alle Kämpfe gewonnen, diesen wirst du auch gewinnen.“

Wieder lächelt er. „Es ist keine Schande, am Ende seines Lebens gegen den Tod zu verlieren. Er ist wie ein Freund, der kommt und mich in ein neues Abenteuer führt. Was ich darüber wohl alles zu berichten hätte!“

Mutter dreht sich um und schließt sachte die Tür hinter sich.

„Gegen den Tod verlieren wir irgendwann alle, da hast du recht“, sage ich leise, „aber die Krankheit, Vater, die muss nicht gewinnen!“ Wieder benetze ich seine Stirn. „Du bist noch lange nicht so alt, dass du schon gehen darfst“, füge ich sanft hinzu.

Plötzlich wird sein Blick ganz klar und seine Hand, die meine umschließt, hat Kraft. „Du bist jetzt 14, mein Sohn“, sagt er. „Ich kann dir nur noch wenig zeigen oder beibringen, was du nicht schon weißt. Du bist intelligent und stehst auf eigenen Füßen. Nach der Schule wirst du studieren und etwas Wunderbares aus deinem Laben machen. Und du schreibst so fabelhaft. Deine Worte, mein Sohn, lassen Dinge lebendig werden, sie schicken die Fantasie in unerreichte Fernen. Du hast ein noch größeres Talent als ich, in kunstvollen Sätzen Kunstvolles zu erschaffen. Nur

einen Gefallen musst du mir noch tun, bevor das Ende kommt.

Finde Henry Dunant für mich. Ich habe nie Gelegenheit gehabt, mich bei ihm für mein wundervolles Leben zu bedanken.“

Sein Blick schweift über sein rechtes Bein, dann über den Stumpf, der ihm vom linken geblieben ist. Dort, wo es hätte sein müssen, fällt das Laken flach über die Matratze. Vaters Blick gleitet weiter zur Wand, wo seine Krücken und der Rollstuhl stehen.

„In meiner schlimmsten Zeit, dachte ich, ich sei ein Krüppel, dem es niemals vergönnt sein wird, ein erfülltes Leben zu haben“, sagt er leise. Der Blick seiner dunklen Augen bohrt sich in meine. „Ich dachte, ich müsste leiden und sterben wie mein eigener Vater. Doch nie habe ich mich so sehr in etwas geirrt. Mein Leben war nicht nur erfüllt, es hat das Beste hervorgebracht, was ein Vater sich wünschen kann, dich, Leo.“

Er schaut mich eindringlich an, mit klarem Blick und Liebe darin, die mich sprachlos macht. Dann sinkt sein Kopf auf die Kissen zurück, seine Hand erschlafft, und im Nu ist er wieder eingeschlafen.

„Henry Dunant“, denke ich. „Wer ist Henry Dunant?“

Nachruf in der Zeitschrift „Wortgewandt“ vom 1. November 1910

Friedensstifter Dunant stirbt, nicht aber seine Idee

Am 30. Oktober stirbt einer der bedeutendsten Friedenstifter unserer Zeit: Jean-Henri Dunant. Seit seinen schrecklichen Erlebnissen in der Schlacht von Solferino war es ihm ein Anliegen, Frieden nicht nur zu denken, sondern ihn aktiv zu leben. Sein ganzes Leben stellte er in den Dienst der Friedenserziehung, verbreitete diesen Gedanken in der ganzen Welt.

Jeder wohldenkende Mann, jede wohldenkende Frau kann nicht anders, als seine Bemühungen zu unterstützen, in Taten und Worten, denn die Humanität und die Zivilisation verlangen gebieterisch danach, sein Erbe fortzuführen.

So bleibt nicht nur eine schlimme Erinnerung an Solferino, sondern gleichzeitig eine wunderbare Erinnerung an einen grandiosen Mann mit grandiosen Visionen.

Man wird sich an Sie erinnern, Henry. Nicht nur in diesem Jahrhundert, sondern darüber hinaus. Es wird Bücher über Sie geben, wer weiß, vielleicht sogar Filme. Und immer wird der Gedanke an Frieden den Gedanken an Krieg überdauern.

Danke, Henry Dunant, für dieses wundervolle Vermächtnis!

ANHANG 1: KURZBIOGRAPHIE:

HENRY

DUNANT

mit fiktiven Einschüben über Emile und Leo

1828 Henry wird am 8. Mai in Genf (Schweiz) geboren als Jean-Henri Dunant.

1837-1848 Henry hilft seiner Mutter bei Armen- und Krankenbesuchen. Mit Freunden organisiert er Wohltätigkeitsveranstaltungen und sammelt Spenden. Er geht am Calvin-Kolleg zur Schule.

1843 Emile wird geboren

1849 Henry beginnt eine Banklehre.

1852 Napoleon III. wird Kaiser in Frankreich.

1853-1859 Algerien ist seit 1830 von Frankreich besetzt.  Henry versucht dort, sich eine Existenz als Kaufmann aufzubauen.

1854-1856 Im Krimkrieg siegt Napoleon III. gegen Russland. Florence Nightingale pflegt hier die Verletzten. Emiles Vater wird im Krimkrieg schwer verwundet und von Florence Nightingale gepflegt.

1859 Henry hat finanzielle Probleme. Er reist Napoleon III. hinterher, um bei ihm vorzusprechen. Dabei wird er Zeuge der Schlacht bei Solferino. Dort kämpfen am 24. Juni Franzosen zusammen mit

Italienern gegen Österreich um die Herrschaft in der Lombardei. 300.000 Soldaten treffen aufeinander. 40.000 Soldaten sterben an einem Tag. Viele Verwundete leiden medizinisch unversorgt auf dem Schlachtfeld. Spontan hilft Henry den Verwundeten beider Kriegsparteien und richtet ein neutrales Lazarett ein. Am. 9. Juli startet er einen Aufruf in der Zeitung für Spenden für die Verwundeten von Solferino.

1859 Hier begegnet Henry fiktiv Emile (16), dem Vater von Leo. 1860-1862 Henry schreibt sein kleines Buch: „Eine Erinnerung an Solferino“, in dem er die Kriegsgräuel schildert. Er findet aber wenig Unterstützung bei der Publikation. Die Druckkosten für die Erstauflage bezahlt er selbst. Die „Gemeinnützige Gesellschaft“ von Genf nimmt ihn auf und verbreitet seine Idee einer neutralen Hilfsorganisation.

1862 Emile (19) wird Journalist

1863 Zusammen mit Gleichgesinnten gründet Henry das Internationale Hilfskomitee für Verwundete. Aus dieser Gruppe geht das „Internationale Komitee des Roten Kreuzes“ hervor. Die fünf Gründer des Roten Kreuzes sind: Gustave Moynier, Dr. Théodore Maunoir, Henry Dunant, General Guillaume Dufour und Dr. Louis Appia. Gründungsdatum ist der 9. Februar, Gründungsort ist Genf. Als Fahne wählen die Gründer die Schweizer

Nationalflagge in umgekehrter Farbgebung, ein rotes Kreuz auf weißem Grund. Am 26. Oktober präsentiert Henry seine Ideen vor den Vertretern verschiedener Staaten.

1864 Zwölf Staaten unterschreiben das „Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten auf dem Feld“. Damit erkennen sie die Neutralität des Roten Kreuzes an. Die Genfer Konvention garantiert dem Roten Kreuz im Kriegsfall neutralen Schutz. Erstunterzeichner sind Baden, Belgien, Dänemark, Frankreich, Hessen, Italien, Niederlande, Portugal, Preußen, die Schweiz, Spanien und Württemberg. Weitere Staaten treten später bei.

1867 Ein Streit zwischen den anderen Gründungsmitgliedern und Henry eskaliert. Henry muss das Rote Kreuz verlassen, da er den anderen in seinen Ansichten zu radikal ist. Er zieht nach Paris. Dort lebt er in ärmlichen Verhältnissen. Auf der Pariser Weltausstellung erhält er eine Goldmedaille als Anerkennung für seine Verdienste.

1867 Emile (24) freundet sich mit Georg Baumberger an, er berichtet über das Attentat auf Bismarck und die Wiedereröffnung der Frankfurter Zeitung 1870/1871 Ausbruch des Krieges zwischen Frankreich unter Napoleon III. und Preußen unter Bismarck. Während des Krieges gründet Henry eine neue Organisation, die „Allgemeine Fürsorgegesellschaft“ und

kurz darauf eine „Allgemeine Allianz für Ordnung und Zivilisation“. Die Preußen besiegen Frankreich. Kaiser Napoleon III. wird in der Schlacht von Sedan gefangen genommen. Am 4. September wird er als Kaiser abgesetzt. Bismarck gründet 1871 das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm I.

1871 Emile (28) schreibt über Florence Nightingale, über die Schlacht von Sedan und den Friedensvertrag im Spiegelsaal von Versailles.

1874 Henry reist umher und lebt an verschiedenen Orten. In Deutschland, Italien, Griechenland und England gerät der Gründer des Roten Kreuzes in Vergessenheit.

1877 Emile (34) interviewt Margarete Steiff

1881 Leo wird geboren

1887 Henry zieht zurück in die Schweiz. Er lebt in der Ortschaft Heiden im Kanton Appenzell. Von seinen Verwandten erhält er finanzielle Unterstützung

1888 Henry organisiert mit 60 Jahren den Aufbau einer Sektion des Roten Kreuzes in Heiden zusammen mit dem Ehepaar Sonderegger.

1889 Leo (7) besucht die Pariser Weltausstellung (Eiffelturm wird eingeweiht) Nelly Bly umrundet die Welt in 72 Tagen (Vorbild von Clarisse) 1895/1896 Alfred Nobel, der Erfinder des Dynamits, schreibt sein Testament. Den größten Teil seines Vermögens übergibt er zur Verwaltung

an eine Stiftung. Aus den Zinserträgen sollen hochdotierte Preise für Bemühungen um das Wohl der Menschheit vergeben werden. Der Nobelpreis wird geschaffen.

1895 Emile (52) ist schwerkrank. Leo (14) erfüllt seinen Wunsch und sucht nach Henry Dunant. Er besucht Georg Baumberger und lernt Clarisse (fast 16) kennen. Emile stirbt im Kreise seiner Familie.

1895 Ein Artikel von Georg Baumberger erscheint in einer großen Zeitung über Henry und alle erinnern sich wieder an ihn und seine Verdienste.

1896 Erster eigener Artikel von Leo (15) über den Absturz von Otto Lilienthal

1901 Am 10. Dezember wird der erste Friedensnobelpreis an Henry Dunant und Frédéric Passy verliehen. Sein Preisgeld stiftet Henry dem Roten Kreuz.

1901 Leo (20) schreibt an Henry, gratuliert ihm zu seinem Lebenswerk und dem Nobelpreis, er hat zusammen mit Clarisse (21) eine eigene Zeitung gegründet

1910 Am 30. Oktober stirbt Henry Dunant in Heiden im Kanton Appenzell

1910 Leo (29) und Clarisse (31), mittlerweile verheiratet, verfassen einen Nachruf in ihrer Zeitung „Wortgewandt“ auf Henry Dunant

Wichtige Menschen in dieser Zeit, die auch im Buch vorkommen

Florence Nightingale (* 1820  1910) war eine britische Krankenschwester, und Begründerin der modernen westlichen Krankenpflege. Sie reformierte das Sanitätswesen und die Gesundheitsfürsorge in Großbritannien und Britisch-Indien. Bekannt wurde sie unter anderem als die „Dame mit der Lampe“, die im Krimkrieg ab 1854 die Lazarette mit strengen Hygienemaßnahmen versah und die Pflege der Verwundeten in Kriegszeiten revolutionierte.

Margarete Steiff (* 1847  1909) war die Gründerin der Spielwarenfabrik Margarete Steiff. Sie wurde bekannt durch das „Elefäntle“, ursprünglich ein Nadelkissen, das den Kindern aber als Spielzeug diente. Aufgrund der hohen Nachfrage, nähte sie hunderte von Mustertieren und wurde zur „Mutter aller Kuscheltiere“. Am bekanntesten ist wohl der Teddybär. Trotz ihrer Behinderung (sie saß im Rollstuhl) war sie eine erfolgreiche Geschäftsfrau.

Nellie Bly (* 1820  1910)

war eine Journalistin aus Amerika, die vor allem für ihre Weltreise bekannt wurde, die sie in etwas mehr als 72 Tagen absolvierte. Sie recherchierte gründlich und erlebte Situationen am eigenen Leib, um darüber besser berichten zu können. Ihre Reportagen und Erlebnisberichte verkörperten den Ton der damaligen Zeit und waren sehr spannend geschrieben.

Bertha von Suttner (* 1843  1914) war eine Friedensforscherin und Schriftstellerin aus Österreich. Sie setzte sich Zeit ihres Lebens für humanitäre Lebensweisen ein, war gegen Tierversuche und stärkte die Rechte der Frauen. 1905 wurde sie als erste Frau mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Georg Baumberger (* 1855  1931) war ein Journalist und Schriftsteller aus der Schweiz, der Reiseberichte verfasste, aber auch über volkskundliche, religiöse und politische Themen schrieb. Er war von 1886-1904 Chefredakteur der Zeitung „die Ostschweiz“ in St. Gallen, in der er auch 1895 seinen Artikel über Henry Dunant verfasste und ihn so aus der Vergessenheit holte.

Alfred Nobel (* 1833  1896) war ein Chemiker und Erfinder aus Schweden, der über 350 Patente anmeldete. Unter anderem hat er das Dynamit erfunden und eine Stiftung gegründet, die seit 1901 die Nobelpreise verleiht. Henry Dunant erhielt den ersten Nobelpreis für sein Werk 1901.

Kaiser Napoleon III. von Frankreich (* 1808  1873) war französischer Staatspräsident und späterer Kaiser von Frankreich (ab 1852). Er kämpfte zusammen mit England 1854 auf der Krim gegen Russland und gewann. Ebenso befehligte er die Truppen bei der Schlacht von Solferino 1859. Als einer der ersten unterschrieb er 1864 das Genfer Abkommen (später das Rote Kreuz) zur Verbesserung des Loses und Pflege der Verwundeten in Kriegsgebieten.

Wilhelm I. (* 1797  1888) war ab 1861 König von Preußen. Später (1871) nach der siegreichen Schlacht bei Sedan gegen die Franzosen, wurde er im Spiegelsaal von Versailles zum ersten deutschen Kaiser ausgerufen. Napoleon III. musste nach seiner Niederlage ins Exil gehen, während Wilhelm I. mit seinem Reichskanzler Otto von Bismarck zusammen die politischen Geschicke des Deutschen Reiches bestimmte und auch ganz Europa prägte.

Otto von Bismarck (* 1815  1898) war ein deutscher Staatsmann und Politiker. Er war unter König Wilhelm I. in Preußen Ministerpräsident und Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes und später erster deutscher Reichskanzler. Er hat maßgeblich nach dem Sieg gegen die Franzosen (1871) die Gründung des Deutschen Reiches vorangetrieben und den modernen Sozialstaat Deutschland entscheidend geprägt.

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