SUSANNE ROLL
und das Geheimnis um den seltsamen Knopf
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© 2022 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn Koproduktion mit Camino im Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart
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Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.sonnhueter.com, unter Verwendung von Fotos © xxx
Illustrationen: © Susanne Roll
Lektorat: Anja Lerz, Moers
DTP: Breklumer Print-Service, www.breklumer-print-service.com
Verwendete Schriften: Pinto, Adobe Garamond Pro Gesamtherstellung: XXX Printed in XXX
ISBN 978-3-7615-XXX (Neukirchener Verlag)
ISBN 978-3-96157-182-6 (Camino)
www.neukirchener-verlage.de
Für meine Familie
Vielleicht findet ihr die ein oder andere Parallele.
Und für alle Kuscheltiere, die ihre Kinder genauso liebhaben, wie Charly und Fligi.
PROLOG







Ein gehöriger Knall reißt mich aus dem Spiel, dem Lachen und Scherzen mit Anne. Sie ist gerade dabei, mir die rote Jacke auszuziehen, die sie ganz allein für mich genäht hat. Eine kirschrote Jacke. Ich liebe sie sehr. Wen, fragt ihr – die Jacke oder Anne? Beide, ganz eindeutig. Meine liebe Anne denkt, dass es mir mit der Jacke und meinem dicken Plüschfell bei dem heißen Sommer viel zu warm wird. Sie kümmert sich rührend um mich, wie alle meine Kinder, die ich in meinem Teddybärendasein schon lieben und begleiten durfte.


Jetzt höre ich Hilde schreien, Kurt bremst, ich sehe, wie er gegenlenkt. Der Wohnwagen rauscht an uns vorbei, reißt von der Kupplung ab. Unser Auto gerät ins Schleudern, Annes Hände versuchen, mich zu halten. Ich spüre ihre Finger in meinem Fell, ihren Herzschlag. Panische Schreie, Hupen, quietschende Reifen, all das dringt durch das offene Fenster an meine Ohren. Ein weiterer Knall und heftiger Ruck und ich gehe koppheister. Ein LKW rammt den Campingwagen, der explodiert und in Flammen aufgeht. Ich sehe das Auto mit Anne, Hilde und

Kurt, das mit Schwung von der Straße rutscht und auf der Seite liegen bleibt. Der brennende Wagen nebenan. Bitte, bitte, lass ihnen nichts Schlimmes passiert sein. Unter einem Strauch liege ich nun und warte auf Rettung – Rettung für uns alle.

KAPITEL 1
AUF NACH ARLINGHAUSEN
Endlich geht es wieder los, endlich wieder Urlaub bei Oma Hilde! Ida hat es in den letzten Tagen schwer gehabt und noch schwerer ihre Mutter. Ida war hibbelig und ungeduldig und hat die letzten Tage bis zu den Sommerferien auf dem Familienplaner gewissenhaft abgehakt.
Im letzten Sommer, im ganzen letzten Jahr, hatte Ida Oma Hilde nicht besuchen dürfen: Corona, Pandemie, Weltuntergangsstimmung. Diese Worte begleiteten alle bereits seit anderthalb Jahren. Auch Weihnachten 2020 hatten Ida und ihre Mutter nicht in Arlinghausen feiern dürfen. Doch in diesem Jahr sieht das dank der Impfung anders aus. Hinzu kommt, dass die Coronazahlen sinken. Vielleicht liegt das an der warmen Jahreszeit? Für Ida ist das egal, Hauptsache, einem Besuch steht nichts mehr im Wege.
Der letzte Schultag war gekommen, der letzte Tag in der vierten Klasse, der letzte Tag in der Grundschule. Nach den Ferien würde Ida auf die weiterführende Schule in Bersenbrück gehen. Das ist aufregend, sicher, aber mehr Aufregung verspricht jetzt erst einmal der Urlaub bei Oma Hilde.
Ida stopft die Mappe mit ihren Zeugnissen ins Regal, pfeffert ihren Rucksack in die Ecke des Zimmers und zieht ihren Koffer unter dem Bett hervor. Kurz ruft sie ihre Mutter an, dass sie gut zu Hause angekommen ist und beginnt dann zu packen. Ihre Mutter ist bis heute Nachmittag in der Praxis. Normalerweise hat sie mittwochs frei, doch sie hat seit einem halben Jahr freiwillig den Impfdienst übernommen.
Ida bewundert das. Sie und ihre Mutter wohnen zu zweit und helfen sich in allem gegenseitig.
„Hab dich auch lieb und bis nachher dann“, sagt Ida ins Handy und legt auf. Dann dreht sie die Musik ganz laut und läuft singend und pfeifend durch das Haus, um ihre Sachen zusammenzusuchen. Morgen früh geht es los, dann ist sie endlich wieder bei Oma Hilde.
Oma Hilde ist einfach cool. Sie ist nicht die typische alte Omi. Nun, genau genommen doch und auch wieder nicht. Auch Oma Hilde backt Kuchen, auch Oma Hilde erzählt von früher und Ida liebt beides – den Kuchen und die Geschichten. Doch Oma Hilde hat eine ganz eigene Art dabei, praktisch, tatkräftig und energisch. Das hat zur Folge, dass auch einmal ein Kuchen misslingt. Dann kocht sie kurzerhand Vanillesoße und ertränkt den Kuchen darin, sodass man die verkohlten Stellen weder sieht noch schmeckt. Oder sie geht kurzerhand zu Tante Beate und stibitzt von dort den richtig leckeren Kuchen. So geht es eben auch.
Ida läuft in den Keller und kramt nach ihren Gummistiefeln. Es sind zwar Sommerferien, aber bei Oma Hilde auf dem Hof wird sie die definitiv brauchen. Auch ein warmes Sweatshirt packt sie ein, man weiß ja nie, was Oma Hilde so vorhat. Dann noch T-Shirts, Hosen – kurze und lange – Sandalen, Sneakers, ihren Badeanzug und Sonnencreme. Nach einer halben Stunde
ist sie fertig und zieht den Reißverschluss ihres Koffers zu. Obendrauf setzt sie Fligitigi, ihr kleines Bärchen, das sie seit ihrer Geburt hat, und das auf gar keinen Fall den Urlaub in Arlinghausen verpassen darf. Fligi ist immer dabei!
Ida marschiert in die Küche, schnappt sich ein Glas aus dem Schrank und hält es unter den Wasserhahn. In großen Zügen trinkt sie. Draußen ist es über 30 Grad warm, eindeutig zu heiß, um großartig herumzulaufen. Sie zieht „Die unendliche Geschichte“ aus dem Bücherregal, klettert in die Hängematte, die zwischen zwei Kirschbäume gespannt ist, und beginnt zu lesen.
Von Zeit zu Zeit blickt sie in den klaren Himmel und wünscht sich auch den Glücksdrachen Fuchur, mit dem sie durch die Wolken fliegen kann. ‚Wie toll muss es sein‘, denkt Ida, ‚mit ihm zusammen in Phantásien die kindliche Kaiserin zu retten.‘
Plötzlich schreckt sie hoch. Sie hört Mamas Auto. Endlich! Ida springt aus der Hängematte und läuft ihr entgegen. Idas Mutter hat prallgefüllte Einkaufstaschen in den Händen.
„Komm, Ida, nimm mir das schnell ab“, sagt sie, während sie ihrer Tochter eine rosa Tasche reicht, „ich habe Eis mitgebracht.“
Ida greift nach der Tasche und läuft über die Terrasse in die Küche. Königsrolle, lecker! Oma Hilde nennt sie immer Eis nach Fürst-Pückler-Art.
Sie kramt in den Schränken nach zwei Schalen, schneidet zwei dicke Scheiben Eis ab und stopft den Rest ins Gefrierfach. Ihre Mutter räumt inzwischen die Einkäufe in den Schrank und zieht dann ihre Schuhe aus.
Gemeinsam setzen sie sich unter das Sonnendach auf die Terrasse und genießen das Eis. Während ihre Mutter gleichmäßig von allen drei Sorten isst, höhlt Ida ihr Eis aus. Erst isst sie Erdbeere, das ganz innen in der Rolle liegt, dann kommt Vanille und
zum Schluss bleibt noch Schokolade mit den kleinen Sahnetupfen und den Streuseln übrig. Das sieht dann in ihrer Schale aus wie eine kleine Eisbrücke und ist einfach genial lecker.
„Ich muss dich wohl nicht fragen, ob du deinen Koffer schon gepackt hast, oder?“, schmunzelt Mama.
Ida lacht. „Schon seit zwei Stunden fertig“, erwidert sie.
„Hab ich mir gedacht. Und Fligi sitzt obendrauf und wartet darauf, die Reise anzutreten!“
„Natürlich“, sagt Ida, „ohne ihn geht es doch nicht!“
Mama schmunzelt immer noch, dann bekommt ihr Gesicht so einen wehmütigen Blick und Ida kann erraten, dass sie an ihr eigenes Kuscheltier aus ihrer Kindheit denken muss: Charly, den Teddybären.
Ida weiß, dass ihre Mutter mit Omas Hilfe eigens für Charly eine rote Jacke genäht hatte. Die Jacke wurde nach dem schweren Unfall mit dem Campingwagen halb verkohlt gefunden, Charly aber nicht. Da war Idas Mutter so alt wie Ida jetzt. Ida kann gut nachvollziehen, wie sich ihre Mutter gefühlt haben musste, als Charly so plötzlich weg war. Sie ist überzeugt, sie selbst würde einfach tot umfallen, wenn Fligi etwas zustoßen sollte.
Erst hatten alle probiert, die Legende aufrechtzuerhalten, dass Charly einfach auf Wanderschaft gegangen sei. Die rote Jacke wurde in Ehren gehalten und oft dachten sich Oma Hilde und Anne Geschichten aus, wo Charly wohl überall hinreiste. Doch dann, ein Jahr nach dem Unfall, stand Anne mit der roten Jacke plötzlich vor Opa Kurt und hat genickt. Das war der Zeitpunkt für den endgültigen Abschied:
Opa Kurt baute eine kleine Schachtel aus Holz und schrieb Charlys Namen darauf. Oma Hilde legte ehrfurchtsvoll weiche
Watte hinein und obendrauf die Jacke. Zusammen haben sie
dann alles unter der großen Kastanie auf dem Hof vergraben.
Opa Kurt sprach ein paar Worte und Oma Hilde sang ein Lied, während Anne still vor sich hin weinte. Lange hatte da ein selbstgemachtes kleines Kreuz gestanden, mit Charlys Namen darauf, bis es verwittert war.
Manchmal aber muss Anne auch heute noch an ihn denken, dann erzählt sie Ida Geschichten von ihm. Und auch Oma erzählt Geschichten, denn der Teddy war schon lange in Familienbesitz. Schon Ururoma Käthe hat ihn gehabt. Er war ein sogenanntes Steiff-Tier. Ein Teddy mit einem Knopf im Ohr. Auch Fligi hat so einen Knopf und das typische Fähnchen im Ohr.
„Möchtest du auch noch ein Stück?“, fragt Ida ihre Mutter und deutet auf die leere Schale.
„Na klar“, erwidert Anne schmunzelnd.
„Ein Stück ist kein Stück“, sagen beide und lachen.
„Wir kennen uns einfach zu gut“, meint Anne. Sie genießen das zweite Stück und machen Pläne für die Ferien.
„Morgen fahre ich dich zu Oma und Tante Beate und Onkel Jürgen“, sagt Idas Mutter, „da bleibst du zwei Wochen. Danach habe ich zwei Wochen Urlaub und wir können zusammen sieben Tage an die Nordsee fahren. Dazwischen bleibt eine Woche für deine Freunde, zum Baden und Spielen und anschließend hat Papa eine Woche frei und möchte, dass du zu ihm kommst. Einverstanden?“
„Klar“, meint Ida, „langweilig wird mir dabei garantiert nicht.“
Abends liegt Ida im Bett. Sie schaut durchs offene Fenster auf den Sternenhimmel. Fligi sitzt auf ihrem Bauch und schaut ebenfalls hinaus. Sie konnte ihn einfach nicht allein auf dem
Koffer sitzen lassen, sie würde morgen früh schon daran denken, ihn mitzunehmen, da ist sie sich sicher.
Warme Sommerluft liegt über dem Garten und ihrem Bett, sie braucht gar keine Decke. Die Grillen zirpen. Heute stört sie das alles nicht, sie freut sich viel zu sehr auf morgen. Endlich würde sie alle wiedersehen. Auf dem Hof gibt es so viel zu tun, so viel zu entdecken. Ihr Onkel ist Lohnunternehmer und hat einen riesigen Fuhrpark an Maschinen. Mindestens zwölf Trecker in den unterschiedlichsten Größen und Ausstattungen, mit und ohne Frontlader, dazu kommen der Häcksler, der Rübenroder, die riesigen Güllefässer mit Schleppschläuchen, Anhänger, Rundballenpressen und ein Fasttrac, dessen Felgen so groß sind, dass Ida locker aufrecht in ihnen stehen kann.
Sie muss daran denken, dass sie auch manchmal die Presse bedienen darf, wenn ihr Onkel sie mit aufs Feld nimmt. Er hat dann immer eine Kühlbox mit Getränken und Keksen, Obst und Broten dabei. Das ist das Größte für Ida. Wenn er viel Zeit für sie hat, fährt er mit ihr zum Einkaufen, natürlich mit einem Trecker ihrer Wahl. Sie darf sich dann immer etwas Leckeres aussuchen, und die Getränkekisten werden kurzerhand in den Frontlader gestellt. Das ist absolut cool. Sogar zur Eisdiele sind sie schon mit einem Trecker gefahren. Er hat den halben Parkplatz in Beschlag genommen.
Ihre Tante versorgt Ida mit den besten Leckereien, die man sich vorstellen kann. Sie darf sich aussuchen, was Beate kocht, seien es nun Pfannkuchen, Nudelauflauf mit Tomatensoße oder Rouladen mit Rotkohl – alles lecker.
Mal ist sie mit Jürgen auf dem Feld unterwegs, mal mit Beate bei den Kindern, also Idas Cousins und Cousinen, die alle aber schon erwachsen sind und zum Teil bereits eigene Kinder haben,
und dann natürlich mit Oma Hilde, mit der es so viel zu entdecken gibt.
‚Ach, meine Omi‘, denkt Ida, ‚ich freue mich schon auf deine Hühner, auf die Kaninchen, die Enten und natürlich Lotta.‘
Lotta ist die Hofhündin, die auf alle und alles aufpasst. Auch auf den riesigen Garten, den Oma Hilde mit Hacke und Harke, Spaten und Schaufel bewirtschaftet, freut sich Ida. „Das ist mein gesundes Schlaraffenland“, sagt Oma dazu.
Ida ist gerne mit Oma Hilde im Garten, weil sie so viel naschen darf, wie sie möchte. Karotten werden direkt aus dem Boden gezogen, kurz an der Schürze abgeputzt und weggemümmelt. Erdbeeren werden von der Staude gegessen, Brombeeren vom Strauch. Oma Hilde hat sogar eigens für Ida eine Sorte angepflanzt, die keine Dornen hat.
Sie ackern, hacken, harken, rupfen Unkraut und ernten. Sie füttern die Hühner, sammeln die Eier, misten den Kaninchenstall aus oder gehen eine Runde mit Lotta durch den Wald. Da sammeln sie im Herbst die Pilze, bauen aus Zweigen und Blättern ein kleines Schiffchen und lassen es im nahen Bach segeln, laufen im Sommer über feuchte Wiesen und flechten Kränze aus Butterblumen.
An all das muss Ida denken. Sie hat dort schon so viel Schönes erlebt. Abends gibt es heißen Kakao oder Eis (natürlich nach Fürst-Pückler-Art), je nachdem wie das Wetter ist, da gibt es die kühle Brause im Garten oder eine warme Badewanne mit viel Schaum, da gibt es gefrorene Himbeeren mit heißem Vanillepudding, es gibt den Nähkasten und natürlich das Knopfglas. Ach, das Knopfglas. Ida kann es kaum abwarten, wieder damit zu spielen. Oma Hilde wirft nie einen Knopf weg. Wenn an neuen Kleidungsstücken Ersatzknöpfe sind, schneidet sie sie vorsich-
tig ab und legt sie zu den anderen Knöpfen ins Knopfglas: Da gibt es runde, längliche, viereckige, dreieckige, welche aus Holz, aus Metall, aus Kunststoff, Perlmutt, welche mit Stoff überzogen, melierte oder blanke, rote, grüne, braune, schwarze, kleine, mittlere, große, welche mit zwei Löchern und vieren oder nur einem – einfach alles. Sie klimpern so herrlich, wenn man sie auf den Boden gießt. Mit ihnen kann man die schönsten Dinge bauen. Da entstehen Straßen, Weiden, ja ganze Länder. Da gibt es den Einhornwald oder das silberne Meer, den verwunschenen Turm oder die schwarze Wüste. Alles ist möglich.
Ida atmet vor Glück tief ein und wieder aus. Über ein Jahr lang durfte sie dort nicht sein. Jetzt ist es aber sowas von an der Zeit. Idas Augen fallen zu und ihre Hand rutscht von ihrem Bauch. Fligi kuschelt sich in sie hinein. Auch er freut sich auf Oma Hilde.