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KATRIN WEIDEMANN

Morgen-Momente

KATRIN WEIDEMANN

Morgen Momente

99 Impulse für einen guten Tag

Ein Jahreszeitenbegleiter

FRÜHLING Leseprobe

WUNDERBAR VERWANDELT

Vor drei Jahren war er noch ein schlichter Auspufftopf. In seinem ersten Leben röhrte er voller Abgase über die Straßen Italiens. Ruß und Dreck und harte Aufsetzer auf dem Asphalt haben Spuren hinterlassen.

Jetzt in seinem zweiten Leben ist der Auspufftopf ein Flamingo. Durch unser Wohnzimmerfenster sehe ich ihn auf der Terrasse stehen. Zwei lange

Beine aus Baustahl tragen den rostigen Körper. Auf dem elegant geschwungenen Hals aus Auspuffrohr thront ein schmaler Kopf mit einem Blechschnabel. Beilag-Scheiben sind die Augen.

Ich staune immer wieder neu über die wunderbare Verwandlung. Aus Schrott hat der Künstler Roberto Cipollone einen fragilen Vogel zusammengeschweißt. Ich kann genau erkennen, dass das mal ein Auspuff war – das Alte ist noch sichtbar. Aber auch etwas völlig Neues, ein auf langen Beinen staksender Flamingo.

Ich bewundere den sicheren Blick, mit dem der Künstler die Schönheit einer neuen Kreatur dort erkannt hat, wo andere nur Schrott sehen.

„Sieh doch, ich mache alles neu“, steht in der Bibel (Offenbarung 21,5). Wenn schon ein handwerklich geschickter Künstler in verbeultem Schrott etwas Neues, Schönes und Wertvolles erkennen kann, wie viel mehr gilt das für Gott. Er sieht bereits frische Möglichkeiten und Ideen für mein Leben, wo ich gerade noch den Rost und die Beulen des vergangenen Jahres betrachte.

Mit Gottes freundlichem Blick und dem Flamingo vor Augen starte ich vergnügt und zuversichtlich in das neue Jahr.

SOMMER Leseprobe

WAS WIR ALLES ANHABEN

„Bei Tante Inge ist es so schön.“ Klara seufzt tief. Da genießen wir noch die letzten Sonnenstrahlen auf der Terrasse und während es langsam dunkel wird, kuschelt sich Klara in den Liegestuhl und erzählt mit verträumten Augen von den letzten Tagen. Eine ganze Woche lang durfte sie Ferien bei Tante Inge machen. Jetzt ist sie wieder zu Hause – und noch immer ganz erfüllt von all dem, was sie erlebt hat. „Jeden Abend hat sie mir mindestens drei Geschichten vorgelesen.“ – „Und beim Pfannkuchenbacken haben wir gesungen.“ – „Und wenn wir im Wohnzimmer saßen, hatten wir gar nichts an.“ –

Wie bitte?

Klara gähnt genüsslich. „Nein, gar nichts an: Keinen Fernseher. Kein Video. Keinen Computer. Nur die kleine Leselampe war an. Wegen der Geschichte.“

Ich gestehe: Es kommt auch bei mir selten vor, dass ich mal „nichts anhabe“.

In die Stille höre. Auf den eigenen Herzschlag. Oder die Stimme einer Lieblingstante.

„Weniger ist mehr“, rät die gerne. Unsere Klara hat sie damit überzeugt.

Und mich auch.

DIE ALTE BIBEL

Wir sitzen beim Traugespräch: das junge Paar, das in zwei Monaten heiraten will. Und ich, die Pfarrerin, die sie trauen darf. Es gibt vieles zu planen: die Lieder auswählen, die Traufragen, die Fürbitten. Schließlich geht es um den Trauspruch. Ob sie denn eine Bibel haben, damit wir einen passenden Vers aussuchen können, frage ich.

Die beiden zögern. Hat er nicht noch eine Bibel aus der Konfirmandenzeit? Aber wo die ist ...

Da steht die Frau plötzlich auf, geht zum Bücherregal und zieht nach einigem Suchen einen schwarzen Band heraus, in alten, verblichenen Buchstaben geschrieben. „Von meinen Urgroßeltern“, meint sie und pustet die dünne Staubschicht vom Rücken. „Diese Bibel haben wir. Aber sie ist uralt. Ich weiß nicht, ob die heute noch gilt?“

Ich kann sie beruhigen. Gott hat uns auch heute noch etwas zu sagen. Die Bibel ist sein „Brief“ - 76 -

an jeden Menschen: Er schreibt uns, was wir tun können, damit unser Leben gelingt. Vor 2000 Jahren und früher ist dieser Brief von Menschen aufgeschrieben worden. Und muss seitdem für jede Generation immer wieder neu übersetzt werden.

Darum gibt es moderne Bibelausgaben, in zeitgemäßer Sprache. Damit wir Gottes Brief heute verstehen.

Das hat auch das Brautpaar entdeckt. Nach 14 Tagen rufen die beiden noch einmal an: Ja, wir haben einen Vers gefunden, erklären sie. Wir haben lange gesucht, geblättert, gelesen, diskutiert – und uns jetzt auf ein Segenswort für unsere Ehe geeinigt.

Die Bibel – sie birgt viele Schätze. Sie lassen sich entdecken – probieren Sie,s aus!

CEZANNES LEITER

Staunend stehen meine Freundin und ich in dem kleinen Museum. Hier, mitten in der Provence, hat der Maler Paul Cezanne also gelebt, in seinem Atelier sind weltbekannte Bilder entstanden.

In diesem Arbeitsraum steht wie ein riesiges A eine meterhohe Holzleiter; sie reicht bis zur Zimmerdecke. „Mit solchen Leitern“, erklärt die Führerin, „pflückten die Bauern der Gegend früher die Oliven von den Sträuchern. Cezanne aber nutzte sie für seine Malerei.“

Sie zeigt zuerst auf eine Schale mit Äpfeln auf der Kommode neben der Leiter. Ob wir die sehen?

Dann präsentiert sie uns eines von Cezannes Gemälden dieser Apfelschale. Wir staunen: Das Bild zeigt die Schale von oben – aus der Vogelperspektive.

Immer und immer wieder muss der Maler auf die Leiter gestiegen sein, um die Früchte von oben zu betrachten. Und die Mühe des ständigen Raufkletterns hat sich gelohnt: Von hier oben

hat er etwas erkannt, was sich ihm aus der Nähe nicht erschlossen hat. Das Geheimnis mancher seiner Bilder – es steckt in der Leiter und dem himmelhohen neuen Blick auf die Dinge.

Zu Hause habe ich keinen Platz für eine so große Leiter. Aber ein Foto von Cezannes Atelier habe ich mir auf den Schreibtisch gestellt. Es erinnert mich daran, dass ich mit etwas Abstand einen neuen Blick auf Altbekanntes bekomme. Denn vom Himmel aus gesehen zeigt sich das Wesen von Dingen und Menschen, so wie sie gedacht sind, wohl leichter.

HERBST Leseprobe

NIEMAND WIRD JE VERGESSEN

In dem Pflegeheim, wo ich Besuche mache, erlebe ich immer wieder Situationen wie diese:

„Weißt du, wer ich bin?“, fragt die Frau den alten Mann. Er sieht sie nachdenklich an. „Im Moment nicht richtig“, antwortet er. „Aber ich habe so ein warmes Gefühl, als würde ich Sie schon lange kennen. Sie lächeln so lieb. Sind Sie neu hier, Schwester?“

„Ist schon gut, Vater“, sagt die Frau, ergreift seine Hand und legt sie an ihre Wange.

Manchmal beschleicht mich selbst die Angst vor dieser Krankheit. Dass ich vieles von dem, was mir heute wichtig ist, worauf ich stolz bin, einmal nicht mehr können werde, es vergesse.

Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ich auch dann nicht vergessen bin. „All eure Namen sind im Himmel aufgeschrieben“, heißt es in der Bibel über uns Menschen.

Bei Gott habe ich einen Namen, der nicht im Nebel der Zeit vergeht. Das, was meine Persönlichkeit ausmacht – in Gottes Gedächtnis ist und bleibt es bewahrt.

„All eure Namen sind im Himmel aufgeschrieben“

(vgl. Lukas 10,20).

Niemand wird je vergessen.

NICHTS UNVERSUCHT LASSEN

Es gibt Tage, wo alles schiefzulaufen scheint. Und Zeiten im Leben, wo ich meine, mein Päckchen an Sorgen und Problemen sei übervoll – mehr schaffe ich nicht.

Ein weiser Afrikaner wurde einmal gefragt, wie er denn mit Schwierigkeiten, mit Sorgen und Ängsten im Leben fertigwerde. Er sagte:

Wenn Schwierigkeiten und Sorgen auftauchen, versuche ich zuerst, sie zu umgehen.

Wenn sie sich nicht umgehen lassen, versuche ich, unter ihnen durchzukriechen.

Und wenn mir das nicht gelingt, probiere ich, sie zu überspringen.

Geht auch das nicht, dann gehe ich mitten durch sie durch.

Ich verstehe ihn gut.

Liebend gern würde ich manche Probleme einfach ignorieren, sie irgendwie umgehen – wie der weise Mann aus Afrika.

Leseprobe

FRINGSEN

Der Winter war kalt und Brennmaterial knapp. Noch in der Erinnerung fröstelt es die alte Dame. 1946 hat sie als Kind in Köln eisige Wochen erlebt.

Ihre Heimatstadt lag fast völlig in Trümmern. Ihre Familie hatte sich notdürftig in den Ruinen eingerichtet. Und dann kam der frostige Winter. „Uns fehlte alles“, erzählt sie, „vor allem Essen und eine Heizung. Viele Menschen sind damals erfroren.“

In ihrer Not haben sich viele Kölner das Notwendigste genommen, wo immer sie es entdeckt haben. Vor allem Kohle zum Heizen.

Die haben sie aus Lastwagen und Güterwaggons einfach geklaut.

„Und Frings gab seinen Segen dazu.“ Die alte Dame lächelt im Rückblick. Der damalige Erzbischof von Köln, Josef Kardinal Frings, erklärte in seiner Silvesterpredigt, dass in Zeiten großer Not der Einzelne das nehmen dürfe, was zum Erhalt - 208 -

seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig sei. Stehlen aus blanker Not, in Köln heißt das seitdem „fringsen“.

Das hat die alte Dame geprägt. „Hungern und frieren muss hier niemand mehr“, weiß sie. Aber Menschen brauchen mehr zum Überleben. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, zitiert sie ihren Lieblingsvers aus der Bibel (Matthäus 4,4).

Deshalb gibt sie, was sie für lebensnotwendig hält:

Verständnis, Zuwendung und Liebe. Begeistert erzählt sie, dass sie im Advent einen Nachmittag lang ihre Haustür aufgemacht hat. Überraschend viele Menschen sind zu ihr gekommen. Mit einem neckischen Lächeln ergänzt sie: „Am Ende habe ich denen immer gesagt: Kommen Sie ruhig wieder und nehmen Sie sich so viel von meiner Zeit, wie Sie brauchen. Fringsen Sie!“

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