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KATHARINA WECK

Jenseits meiner Grenzen der weite Horizont

KATHARINA WECK

Jenseitsmeiner derGrenzen weite Horizont

Momente zum Innehalten und Kraftschöpfen

Für J. & L.D.

Weil es nicht vollkommen ist

Meinen sie, es sei kein Meisterwerk.

Die Welt ist auch nicht vollkommen

Und doch ist sie eines Meisters Werk.

Inhaltsverzeichnis

Leseprobe

Kapazität für Herzensgüte

Ich stehe am Tresen, ein Baby auf der Hüfte, ein Kind an der Hand, eins im Auto. Der Apotheker schaut auf meine Hände, sie sind rau und an mehreren Stellen schon ganz wund. »Haben sie viel Stress?«, fragt er. Ich nicke. »Sie müssen auf sich achten!«, sagt der Apotheker. Ich lächle. Kein Strahlelächeln, sondern eher höhnisch. Danke für den Rat; könnte ich, würde ich.

Beim Verlassen der Apotheke meldet sich eine Stimme. Sie war schon ganz leise, nur noch ein Wispern im Hintergrund, nun jedoch sagt sie sanft aber bestimmt: »Katharina, mein Schatz, natürlich kannst du Dinge ändern. Fang mit deinen Gedanken an. Was empfindest du gerade als schlimm in deinem Leben? Was stresst dich am meisten? Du darfst so Manches lassen, um andere Dinge, die unbedingt erledigt werden müssen, wieder mit einem weichen Herzen zu tun, ohne Groll!«

Ich schnalle die Kinder an, verteile Traubenzucker, schlichte Streit, und ehe ich den Zündschlüssel umgedreht habe, verschwinden die ersten angeblich so wichtigen To-dos von meiner Liste.

Der Autor Joachim Meyerhoff meinte in der NDR Talkshow zu seinem erlittenen Schlaganfall: »Jeder, der in seinem Leben mal einen Schicksalsschlag erlebt hat, kennt das Gefühl, dass der Schicksalsschlag sagt: ›Bis jetzt hast du dein Leben gesteuert, aber jetzt übernehme ich.‹«

2017 ist unser ältester Sohn, damals fünf Jahre alt, an Leukämie erkrankt. Es folgten zwei Jahre Chemotherapie, die nicht nur ihn fast kaputtgemacht hätten, sondern die ganze Familie. Sein eigenes Kind so leiden zu sehen, reißt einem das Herz heraus, und es bedarf viel Arbeit, es weich zu halten, um nicht zu verbittern. Wir haben Kinder sterben sehen, und wir wussten zwei Jahre nicht, ob unser eigenes Kind auch sterben wird. Bei all dem Leid haben wir angefangen, das Schöne im Hässlichen zu suchen. Haben lachend Pizza gegessen, in dem Wissen, dass der Platz unseres Sohn vielleicht bald nicht mehr besetzt sein wird.

Unser Sohn lebt, und dennoch ist ein Stück von ihm gegangen. Langsam ist er in einem Alter, wo er versteht, was damals mit ihm geschehen ist, und hat viele Fragen. Und es macht ihn wütend, dass sein Körper manchmal nicht so funktioniert, wie er sein Kopf das will.

Wenn er sich wieder einmal darüber ärgert, dass er beim Sport schnell erschöpft ist, erinnert es mich daran, dass wir zwischenzeitlich unser Leben nicht mehr in der Hand hatten. Das wir von Vormittag zu Nachmittag gelebt haben und nicht wussten, was am nächsten Tag auf uns niederschlagen wird.

Und doch gab es in dieser Zeit etwas Gutes. Die Menschlichkeit auf einer Kinderonkologie ist nahezu grenzenlos, und obwohl es dort so viel Leid gibt, gibt es ebenso viel Klarheit. Wenn man den Tod neben sich sitzen hat, wird einem bewusst, wie wertvoll dieses Leben ist. Plötzlich war es nicht mehr schwer, dass Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen.

So habe ich dem Schicksal ein Stück Leben abgeluchst, wieder ein Stück mehr Autonomie, selbst bestimmen, wo es hingeht. Indem ich

mich nämlich bewusst dafür entschied, nicht zu verbittern über unser Schicksal, sondern dankbar zu sein, für all die Menschen, die uns Essen vor die Tür gestellt haben und uns damit zeigten, dass wir nicht allein sind. Für die gute medizinische Versorgung in unserem Land, für das eigene Bett, für Netflix.

Wenn man den Tod neben sich sitzen hat, wird einem bewusst, wie wertvoll dieses Leben ist.

»Die Fähigkeit, Freude zu empfinden im tiefsten Leid und das Leben zu feiern wie es kommt, birgt eine unbändige Zufriedenheit. Diese Zufriedenheit spendet Kraft für das, was noch kommt. Zufriedenheit besänftigt den Zorn, lässt die Ohnmacht und Verbitterung über die eigene Handlungsunfähigkeit versinken und füllt das verkrampfte Herz mit Glück, sodass es warm wird und sich lösen kann. Und so entschied ich mich in Augenblicken der völligen Finsternis etwas zu finden, das schön ist, und es zu genießen, weil mir klar wurde, dass die Zeit mit den Menschen, die man liebt, mit den eigenen Kindern, endlich ist. Jetzt findet das Leben mit meiner Familie statt, schöne anstrengende Stunden, voller Sinn und Fülle.«

(Aus meinem Buch »Der Chemoritter am Küchentisch - Das Jahr, in dem unsere Familie Krebs bekam«, in dem ich über unseren Leidensweg berichte und lerne, wie man trotz täglichem Leid das Schöne im Hässlichen sehen kann.)

Die Erinnerung ist wieder da: Wir müssen so wenig. Ich bin nicht der Typ, der alles verkauft, aus der Gesellschaft aussteigt, um mit einem Merinopulli um die Hüften, mit Rucksack auf dem Rücken und den Kindern an der Hand um die Welt zu reisen. Das muss ich auch nicht. Um auszusteigen, muss ich nicht weggehen.

Ich mag unser Haus in Brandenburg, mag, dass es so alt, so muckelig und gemütlich ist. Ich will hier sein. Meinetwegen auch mit dieser Gesellschaft, aber ich will nicht überall »hier« rufen müssen, damit

Das bedeutet allerdings für mich und meinen Mann, dass es nie mit einem Abwasch getan ist, immer ist mindestens ein Kind unzufrieden. Ich weiß, dass die Kinder so lernen, mit Enttäuschungen umzugehen. Was mir aber nicht klar war, dass ich noch einmal ganz neu lernen musste, mit der Enttäuschung anderer umzugehen. Noch nie habe ich Menschen im meinem bisherigen Leben so oft enttäuscht wie in den letzten zehn Jahren, seit ich Mutter bin. Das ist gar nicht so leicht auszuhalten, würde ich doch gern alles immer möglich machen. Das würde aber niemandem guttun, und ich bin inzwischen

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froh, dass ich durch die Anzahl unserer Kinder gar keine andere Möglichkeit habe, als täglich Enttäuschungen auszuhalten. Heute ist es der Kleinste, der sich den Tag anders vorgestellt hat, mit mehr Freiraum als auf diesem engen Schiff möglich.

Mitten im Beruhigen und Bespaßen sehe ich ein ziemlich lässiges, etwa 16 Jahre altes Mädchen hinter uns sitzen. Einen Stöpsel im Ohr, ihre Trainingsjacke rutscht ihr locker über die eine Schulter, ihr Gesicht ist eingefroren. Ich kann ihren Blick nicht richtig deuten. Ist sie gelangweilt oder vielleicht sogar genervt von uns? Kurz bin ich

irritiert, denn im nächsten Moment treffen sich unserer Blicke und ich meine, Sympathie zu erkennen. Ihr schräges Lächeln bestätigt meine Annahme. Ich laufe mit Sashi an der Hand den Gang auf und ab. Die ganze Fahrt über lächelt sie uns immer wieder an und hebt unermüdlich Sashis Spielzeug auf.

Ihre Mutter, die vom Aussehen eher ihre Schwester sein könnte, tut es ihr gleich. Einfach so. Ich erzähle das, weil es uns selten so geht. Unsere Familie ist immer laut und unruhig, und das wird überwiegend als störend empfunden. Diese beiden Menschen nehmen uns an, wie wir sind, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Sie erwarten nicht, dass unsere Jungs leise sind, dass sie diese ganzen oberflächlichen Floskeln draufhaben, die vermitteln sollen, wie gut erzogen sie sind (und wenn die Floskeln fehlen, wird schnell angenommen, dass die Kinder ungezogen sind). Allein bei dem Wort »ungezogen« läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, denn ich weiß genau, dass die unsere Jungs in der Schule laut und selbstbewusst sind und ebenso andere Mitschüler unterstützen, wenn sie Hilfe brauchen. Das geht nämlich zusammen. Wenn ich die verstaubt und längst überholten gesellschaftlichen Vorstellungen von Kindererziehung, die immer noch in zu vielen Köpfen spuken, außenvorlasse, dann bin ich stolz auf die Charaktermischung der Jungs: wild und empathisch. Wunderbar.

Mehr und mehr macht sich eine Entspannung in mir breit. Wir dürfen hier sein, wie wir sind. Schon kann ich das Gequengel des Kleinen besser aushalten, kann sehen, dass er niemanden nerven will, sondern seinem Alters entsprechend ungefiltert seine Gefühle preisgibt. Unser Sechsjähriger fragte vor Kurzem bei einem Waldspaziergang: »Papa, mir ist kalt, kann ich auf deine Schultern?« »Klar, aber dort oben wird dir nicht wärmer!«, antwortete mein Mann. Unser Sohn sagte daraufhin: »Papa, wenn man einen Ort hat, an dem man sich angenommen fühlt, dann kommt die Wärme automatisch!«

Der muffige Schiffsrumpf fängt ein wenig an zu strahlen, es scheint so, als hätte er beheizte Wände. Die Wärme breitet sich überall in mir aus. Ich versuche, unsere Familie mit den Augen der netten 16-jährigen zu sehen. Drei kleine Jungs mit blonden Haaren, braunen Augen und Schalk im Nacken. Nicht mehr und auch nicht weniger.

Veronika Smoor sagt in ihrem Buch »Hoffnung leuchtet«: »Wenn du mehr hast, als du brauchst, dann baue dir längere Tische und keine höheren Zäune.« Mich beschleicht das Gefühl, dass die beiden fremden Frauen mehr Geduld haben als mein Mann und ich gerade. Und statt genervt zu sein, dass wir uns als Familie in diesen engen Raum quetschen, laden sie uns mit ihrer Offenheit und Akzeptanz an ihren Tisch ein, der viel Platz hat.

Um sich angenommen zu fühlen, reicht manchmal schon das schiefe Lächeln eines Teenagers.

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Fürsorge am Gartenzaun

Manchmal habe ich das Gefühl, etwas Großes verrichten zu müssen, Dinge zu verändern, laut zu werden.

Ich sage meine Meinung und setze mich für andere ein, allerdings habe ich mich noch nie für meine Forderung nach einer besseren Welt irgendwo anketten lassen. So fühle ich mich im Alltag oftmals nutzlos, was bewege ich hier schon im Berliner Speckgürtel?

Der Alltag und mein Engagement fühlen sich fad und blass an. Dabei übersehe ich, dass ich jeden Tag Gemeinschaft lebe und diese Gemeinschaft aufgrund der verschiedenen Menschen bunt ist. Ich lebe sie mit unseren Kindern, mit den Nachbarn, Freunden, dem Kassierer im Discounter. Diese Gemeinschaft wird von Akzeptanz und Liebe geprägt. Natürlich empfinde ich zu dem Kassierer nicht dieselbe Zuneigung wie zu unseren Kindern, es gibt einen Unterschied zwischen Nächsten- und Mutterliebe. Doch fußen beide auf Herzenswärme. Ich muss keine Visionärin sein, um gute Gemeinschaft im Alltag zu leben. Dafür brauche ich weder Plakate noch ein Megafon. Ich brauche Respekt, Aufmerksamkeit, Zeit und Verzicht. Und das Wissen, dass jeder Mensch vor Gott gleich ist. Das im Hinterkopf zu haben, prägt den Umgang mit Menschen, denen ich regelmäßig begegne.

Unser Nachbar wählt die AfD, das hat er mir letztens am Gartenzaun erzählt, nachdem er sich wie immer liebevoll nach den Jungs erkundigt hat. Alles in mir hat sich sofort verkrampft. Will ich mit »so jemanden« etwas zu tun haben? Doch schon im selben Moment war mir klar, dass ich jetzt erst recht in Kontakt bleiben muss, um nachzufragen, warum er die AfD wählt. Und das habe ich auch direkt gemacht, nachgebohrt, zugehört, in die Diskussion gegangen. Das liegt mir eigentlich nicht, politische Diskussionen, und dennoch habe ich mich darauf eingelassen

Das war ein Moment, in dem ich mich in meinen Alltag für meine Überzeugungen habe anketten lassen, indem ich nicht weggelaufen bin und die Vorhänge zugezogen habe. Nicht in der großen weiten Welt, mit vielen Gleichgesinnten an der Seite, sondern in seinem privaten Umfeld den Mund aufzumachen ist nicht leicht, und gleichzeitig fühlt es sich echt an. Denn ich überzeuge andere nicht davon, Menschen zu respektieren, egal aus welchem Land sie kommen und an welchen Gott sie glauben, wenn ich sie missachte und genau das lebe, was ich so falsch finde. Nämlich Menschen auszuschließen. Viel wichtiger ist es hinzuhören, dem Gegenüber die Möglichkeit zu geben, zu erzählen, sich zu erklären.

Tomas Sjödin sagt: »Je mehr Menschen ich kennenlerne, desto öfter denke ich: Wenn alle Leute ihre Probleme in durchsichtigen Plastikbehältern bei sich tragen würden, würde keiner tauschen wollen. Jeder hat seine eigene Kiste, und nur wenn man sehr großen Abstand hält, kann man sich der Illusion hingeben, es gäbe Menschen, die es einfach immer nur guthaben.«

Einem Menschen zuzuhören kann bedeuten, ihn blühen zu lassen. Ich habe es oftmals in meinem Beruf erlebt, wie belebend es ist, gehört zu werden. Gar nicht in die Handlung zugehen, sondern nur zuzuhören, mit allen Sinnen da zu sein für einen Menschen, der sich schwach fühlt und sich mitteilen möchte.

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