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Das Buch

Immer schon hatte er das Kleine geliebt, hatte im Einweckglas ein Ameisenvolk gezüchtet, die Pantoffeltierchen und Amöben aus einem Tropfen Pfützenwasser unter dem Mikroskop betrachtet oder Hunderte junger Spinnen bestaunt, die in der Balkenecke der Wohnstube geschlüpft waren. Eine Vogelfeder, ein kleiner Knopf, die tanzenden Staubkörnchen auf dem Dachboden – sie waren ihm wie Schätze erschienen, während sie den anderen wertlos vorkamen. Vielleicht war es dumm, über diese Kleinigkeiten zu staunen. Dann wollte er nie klug werden. Vielleicht war es aber auch seine Aufgabe, diese Wunder zu entdecken und andere Menschen zum Staunen zu bringen.

Für Wilson Bentley ist jede Schneeflocke einzigartig in ihrer atemberaubenden Schönheit. Manche halten ihn deswegen für einen Spinner. Doch für Mina, die ihn und seine Arbeit mehr und mehr bewundert, wird er zum Reiseführer in eine andere Welt.

»Titus Müller zeichnet Bentleys jahrzehntelangen Weg bis zur wissenschaftlichen Wertschätzung sorgsam recherchiert nach und bettet diesen behutsam in eine schneeflockenzarte Liebesgeschichte ein.«

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Der Autor

Titus Müller, geboren 1977, studierte Literatur, Geschichtswissenschaften und Publizistik. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift »Federwelt« und veröffentlichte seither mehr als ein Dutzend Romane. Er lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN -Clubs und wurde u. a. mit dem C.S.-Lewis-Preis und dem Homer-Preis ausgezeichnet. Seine Trilogie um »Die fremde Spionin« brachte ihn auf die SPIEGEL -Bestsellerliste und wird auch von Geheimdienstinsidern gelobt.

Lieferbare Titel

978-3-453-43776-0 – Nachtauge

978-3-453-43827-9 – Die Todgeweihte

978-3-453-47137-5 – Der Kalligraph des Bischofs

978-3-453-43930-6 – Der Tag X

978-3-453-42265-0 – Die Jesuitin von Lissabon

978-3-453-44125-5 – Die fremde Spionin

978-3-453-44126-2 – Das zweite Geheimnis

978-3-453-44127-9 – Der letzte Auftrag

TITUS MÜLLER DER SCHNEE­

KRISTALLFORSCHER

Erzählung

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor.

Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Penguin Random House Verlagsgruppe FSC ® N001967

Neuausgabe 09/2024

© 2013 by Titus Müller

Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe by adeo Verlag in der Gerth Medien GmbH, Aßlar

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Gaeb & Eggers.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock/Sterryk und TWIN DESIGN STUDIO

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN : 978-3-453-42964-2

www.heyne.de

Der Wind trieb den Neuschnee wie Flaumfedern über die weißen Hänge. In Kesseln häufte er ihn an, formte Dünen und verwehte sie wieder, streute die Kristalle in die Ritzen der Baumrinde und brachte sie zu zartem Klirren. Während Wilson durch den nächtlichen Wald stapfte, floss der Schnee von den breiten Schneeschuhen ab. Das

Netz aus Lederstreifen knirschte bei jedem Schritt und verhinderte, dass er einsank.

An einer Gruppe von Ahornbäumen ging er in die Hocke und setzte das Joch und die schweren Eimer ab. Er trat an den ersten Baum heran, zog den Zinndeckel vom Gefäß und sah hinein. Es war zur Hälfte gefüllt. Ein süßer Duft stieg ihm in die Nase. Das dünne Rohr, das im Baum steckte, tropfte nicht mehr, jetzt herrschte Frost, da hörten die Bäume auf, ihren Saft hinauf in die Knospen zu schicken. Aber tagsüber

war es warm gewesen und einiges war in das Gefäß gelaufen. Er hob es vom Haken und entleerte es in den rechten Eimer. Ein zum Eisklumpen gefrorenes Stück Baumsaft plumpste mit dem Flüssigen hinein. Er hängte das Gefäß wieder ein und schob den Deckel darauf, damit kein Schnee hineinfiel und auch sonst nichts den kostbaren Zuckerahornsaft verunreinigte.

Dann ging er zum nächsten Baum.

Die Ruhe des Waldes senkte sich tief in sein Herz. Wilson staunte über den Frieden, den er empfand. Er lief auf einer glitzernden Woge von Schneekristallen und sammelte den Saft von Bäumen, die das Erwachen des Frühlings gespürt hatten. In diesem Hain waren die haushohen Geschöpfe älter als er, mancher Baum wuchs bereits 300 oder 400 Jahre lang und beherbergte Insekten, Vögel, Mäuse und Eichhörnchen.

Als er alle Gefäße entleert hatte, hockte er sich unter das Joch und stemmte die beiden Eimer in die Höhe. Sie waren voll, es war Zeit, den Rückweg zum Zuckerhaus anzutreten. Vor Kälte waren ihm die Finger taub geworden, trotz der Handschuhe, und er freute sich darauf, sie am Holzfeuer zu wärmen. Das Zuckerhaus kam bald am Waldrand in Sicht, eine Bretterbude im Schnee, aus deren Abzug es dampfte. Und doch ein

heimeliger Ort, eine Zuflucht, die er liebte. Innen gab es Platz und Wärme wie in der Wohnstube zu Hause.

Als er mit dem Fuß die Tür aufschob und seitwärts, um nicht mit dem Joch anzustoßen, den beheizten Raum betrat, ertönte drinnen ein Schrei.

Mina Seeley sah ihn mit großen, angstgeweiteten Augen an.

„Was tun Sie hier?“, fragte er.

„Ich …“ Sie schnappte nach Luft, als wäre er ein Geist.

„Haben Sie sich wegen mir so erschreckt?“ Er setzte das Joch ab. „Sie sind die neue Lehrerin, richtig?“ Jeder in Jericho wusste, wer sie war. Die Frage war lediglich ein unbeholfener Versuch, höflich zu sein.

Allmählich gewann sie ihre Fassung zurück. „Mina Seeley.“ Sie reichte ihm die Hand.

„Wilson Bentley.“

„Ich wollte mich nur aufwärmen.“ Verlegen strich sie sich über das braune Baumwollkleid. Sie trug ein eher unauffälliges Korsett, das ihre Taille zwar betonte, aber nicht übermäßig einschnürte. Es gefiel ihm.

In den Kesseln kochte der Saft der Zuckerahornbäume und verströmte Karamellduft. „Sie haben Holz nachgelegt?“ Eine junge Frau aus der Stadt, die sich

um die Kessel kümmerte. Das hätte er nicht erwartet.

Sie lächelte. „Hier riecht es so gut.“

Wilson schnallte die Schneeschuhe ab und stellte sie neben die Tür.

„Man hat mich vor Ihnen gewarnt“, sagte sie.

„Weshalb? Weil ich verrückt bin?“ Er sah nach den Kesseln und rührte prüfend um. Er wägte die Art ab, wie die Blasen zerplatzten, und begutachtete die bernsteinartige Farbe und die Konsistenz. Im linken Kessel war der Sirup bald genügend angedickt. In einer halben Stunde würde er ihn vom Feuer nehmen und den neu gesammelten Saft aufsetzen können. Der Saft verdarb so schnell wie Milch, er musste zügig ausgekocht werden. „Und das haben Sie geglaubt?“

Das Haar fiel ihr in dünnen blonden Strähnen auf die Schultern. Ihre großen Augen waren ihm schon neulich im Country Store aufgefallen. Mais, Mehl und Butter hatte sie eingekauft, und es hatte einen kurzen Blickwechsel gegeben, er hatte noch lange daran denken müssen, diese Augen vergaß man nicht so leicht.

„Was die Leute eben so reden“, entgegnete sie.

Mina war kaum älter als er, dreiundzwanzig vielleicht oder vierundzwanzig. Sie musste ein kluger

Kopf sein, vielleicht verstand sie als Lehrerin, was er tat, und verhöhnte ihn nicht. „Es ist die Wahrheit“, sagte er. „Ich sammle Schneeflocken.“

Sie knöpfte ihren Mantel zu. „Ich glaube, ich gehe jetzt besser.“

„Sie halten mich für einen Spinner.“

Mina hielt in der Bewegung inne, als müsste sie nachdenken. Dann nickte sie. „Wenn ich ehrlich bin, ja.“ Sie sah ihm in die Augen. „Wenn jemand Spielzeug sammelt oder geschnitzte Tiere oder Musiknoten, das kann ich verstehen. Aber Schneeflocken sind etwas … bizarr, wenn Sie mir das Wort verzeihen.“

„Ich sammle sie nicht in Einweckgläsern. Ich fotografiere sie.“

„Hat man mir gesagt. Trotzdem sehe ich keinen Sinn darin. Ich will Ihnen nichts vormachen.“

„Haben Sie schon mal die mikrografische Aufnahme einer Schneeflocke gesehen?“

Sie runzelte die Stirn.

„Sehen Sie? Sie lachen über etwas, das Sie nicht kennen.“

„Jeder kennt Schnee.“ Es klang trotzig, wie sie das sagte.

„Im Gegenteil. Niemand kennt ihn. Wissen Sie, wie

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