

Inhalt / Content
21 Linien, die zusammenlaufen: Toyin Ojih Odutolas U22 – Adijatu Straße /
Converging Lines: Toyin Ojih Odutola’s U22 – Adijatu Straße
Emily Finkelstein
Toyin Ojih Odutola: Von der Möglichkeit anderer Welten /
Other Worlds Are Possible
Leigh Raiford
Fordert man von einer Arbeit ausschließlich Klarheit, zerstört man sie. Das Geheimnisvolle muss bewahrt werden. /
The sole demand for clarity kills the work. You’ve got to hold the mystery. Sam Bardaouil im Gespräch mit / in Conversation with Toyin Ojih Odutola


Toyin Ojih Odutola: Von der Möglichkeit anderer Welten /
Other Worlds Are Possible
Leigh Raiford
Die Figur ist direkt vor uns – überlebensgroß. Und doch bleibt sie schwer fassbar, unlesbar. Ihr Gesicht liegt im Schatten. Die Haut schimmert, wie ein sich stetig wandelndes Prisma aus Brauntönen und stählernem Veilchenblau, durchbrochen von schwarzem Stoff, der den Unterleib bedeckt, und einem blutroten Handschuh am Handgelenk. Der rechte Arm streckt sich nach oben, und verschwindet hinter einem Kopf mit kurzen Haaren – oder vielleicht gar keinem Haar?
Der nackte, muskulöse Oberkörper ist uns zugewandt, doch bleibt unklar, ob es sich hier um Brüste oder Brustmuskeln handelt. Die Figur ruht zum Teil auf einer glänzenden Oberfläche, die das Licht bricht und reflektiert – eine Oberfläche, die Tiefe erzeugt und mit der Perspektive spielt. Ihr Winkel ist bewusst mehrdeutig angelegt: Lehnt die Figur an einer Wand? Liegt sie auf dem Boden? Oder schlüpft sie durch ein Portal? Die Figur teilt sich die Leinwand mit Schatten – oder sind es Geister? – die von den Rändern des Bildes hereindrängen und sich zur Mitte hin in dunklen Abstraktionen verdichten. Der Titel der Zeichnung, I Wish You Rest (Nature Girl), gibt eine vage Richtung vor, einen Hinweis auf Thema und Geschichte. Und doch bleibt vieles an diesem Bild im Ungewissen –geheimnisvoll, offen.
The figure is right in front of us, and it is larger than life. Yet the figure is elusive, unreadable. The face is shrouded in shadow. The skin is a moving prism of browns and steely periwinkle, punctuated by black fabric that covers their groin and a gauntlet on their wrist the colour of fresh blood. The right arm stretches up and behind a head with short hair (or perhaps no hair). The bare, muscular torso opens up to us, but it is unclear if those are breasts or pectorals. The figure partially reclines on an opulent surface that both reflects and refracts light, at once adding depth to the image and unsettling our perspective. Indeed, the angle of the surface is ambiguous: is the figure leaning against a wall, lying on a floor
Leigh Raiford
lichen und dem Nicht-Menschlichen zu verbinden und Freude zu empfinden, auch wenn sie inmitten von Kriegen leben oder mit Einsamkeit und gesellschaftlicher Entfremdung zu kämpfen haben.
Diese Serien sind eine Weiterentwicklung des für Ojih Odutolas Praxis mittlerweile charakteristischen Worldbuildings und kritischen Fabulierens. Mehr noch, diese intensiv recherchierten Erzählungen sind mitreißend, immersiv und träumerisch. Sie werden durch neuere Experimente mit Ton und Text bereichert. Dies ist eine Praxis des ständigen Ausprobierens, Ausdehnens und Imaginierens. Und das ist es auch, was so viele zu Ojih Odutolas Kunstwerken hinzieht: nicht nur ihre einzigartige Schönheit, sondern auch ihre Fähigkeit, uns in Erstaunen zu versetzen.
Ojih Odutolas Schaffen stellt die Kategorie ‚Black Art‘, in die es oft eingeordnet wird, grundlegend in Frage. Der Begriff ‚Black Art‘ entstand in der Mitte des 20. Jahrhunderts, um auf Werke von Künstler*innen aufmerksam zu machen, die aufgrund ihrer Hautfarbe systematisch aus Kunsträumen und kunsthistorischen Kanons ausgeschlossen worden waren. Diese Bezeichnung suggeriert, dass das, was das Werk zusammenhält, weder das Material noch die Form oder gar das Thema ist, sondern die Erfahrung der Ausgrenzung. ‚Black Art‘ erwies sich als bequeme Kategorie, verkürzter Rahmen und ja, als abgedroschenes Marketinginstrument. Die konventionelle Kunstgeschichte möchte uns glauben machen, dass Blackness ein selbstverständliches Erklärungsinstrument sei. Doch wie wir alle wissen und wie uns Ojih Odutolas Arbeit vor Augen führt, ist Blackness sehr vielschichtig. Und als solches lässt sie sich nicht auf die vereinfachte Kategorie der ‚Identität‘ reduzieren oder für ein phantasieloses Publikum ‚lesbar‘ machen.
Die Liste der Krisen, unter denen wir heute leiden, lässt sich um eine Krise der Vorstellungskraft ergänzen. Überall auf der Welt haben das Scheitern der neoliberalen Politik und die Angst vor multikulturellen Demokratien zu einer Rückkehr zum Faschismus geführt. Der Faschismus bietet eine Welt
exclusion. “Black Art” proved a convenient category, a shortcut frame, and yes, a hackneyed marketing tool. Conventional art history would have us believe that “Black” is a self-evident explanatory tool. But blackness, as we all know and as Ojih Odutola’s work shows us, contains multitudes. And as such, it cannot be reduced to the simplified category of “identity” or made to be “legible” for unimaginative audiences.
Indeed, add to the list of crises we are suffering in our contemporary moment a crisis of imagination. Across the globe, the failure of neoliberal policies and the fear of multiracial democracies have led to a turn back(wards) towards fascism. Fascism offers a world of simple solutions, strongman leadership, corporate governance that emphasises efficiency over care. It is a turn inward. Fascism demands certainty and conformity. It desires reliably rigid narratives of history, of the family, of the body politic, of the individual body. Aesthetically, fascism abhors fluidity, ambiguity, creativity. Fascism insists on hard lines, harder divisions, hardened people.
What if instead we embraced Ojih Odutola’s aqueous dreamscapes, mercurial bodies and evocative opacities as an invitation to imagine new ways of being? In this space, another world is not only possible; it is already here.
der einfachen Lösungen, der starken Führung, der Unternehmensführung, die die Effizienz über die Fürsorge stellt. Er ist eine Abkehr nach innen. Der Faschismus verlangt Sicherheit und Konformität. Er verlangt nach verlässlichen, starren Erzählungen über die Geschichte, die Familie, den politischen Körper und den individuellen Körper. Ästhetisch gesehen verabscheut der Faschismus das Fluide, die Ambiguität, die Kreativität. Er besteht auf harten Grenzen, härteren Abgrenzungen, verhärteten Menschen.
Was wäre, wenn wir uns stattdessen auf Ojih Odutolas aquatische Traumlandschaften, quecksilbrige Körper und beschwörende Undurchsichtigkeiten einlassen würden, um uns neue Möglichkeiten des Seins vorzustellen? In diesem Raum ist eine andere Welt nicht nur möglich, sie ist bereits da.

Toyin Ojih Odutola, Agitated Accountant, 2024–2025, Pastellkreide und Kohle auf Holzplatte / pastel and charcoal on board, 51 × 40,5 cm (ohne Rahmen / without frame), Courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York, NY

Toyin Ojih Odutola, Birmingham (right), 2015, vierfarbige Lithografie mit Blattgold / four-colour lithograph with gold leaf, 61 × 42 cm
(ohne Rahmen / without frame), Ed. 200, AP 4/5, Courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York, NY

Toyin Ojih Odutola, Secret Society of Seafarers, 2017, Kohle auf Holzplatte / charcoal on board, 102 × 76 cm (ohne Rahmen / without frame), Courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York, NY



Toyin Ojih Odutola, Routine Inspection II, 2019, Pastellkreide und Kohle auf Leinen auf Dibondplatte / pastel and charcoal on linen over Dibond panel, 213,5 × 127 cm (ohne Rahmen / without frame),
Courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York, NY

Toyin Ojih Odutola, The Teacup (Study), 2020 – 2025, Buntstift und Graphit auf Dura-Lar Zeichenfolie / coloured pencil and graphite on Dura-Lar sheet, 30,5 × 23 cm (ohne Rahmen / without frame), Courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York, NY



Toyin Ojih Odutola, Ààlà (Accidental Boundary), 2022 – 2023, Pastellkreide und Kohle auf Gesso-grundiertem Leinen auf Dibondplatte / pastel and charcoal on gessoed linen over Dibond panel, 48,5 × 61 cm (ohne Rahmen / without frame), Courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York, NY

Toyin Ojih Odutola, Portals (ibi mẹta / three places), 2022 – 2023, Pastellkreide, Kohle und Graphit auf Gesso-grundiertem Leinen auf Dibondplatte / pastel, charcoal and graphite on gessoed linen over Dibond panel, 183 × 106,5 cm (ohne Rahmen / without frame), Privatsammlung / private collection


Toyin Ojih Odutola, Of Another Kind, 2022 – 2025, Pastellkreide und Kohle auf Papier / pastel and charcoal on paper, 228,5 × 106,5 cm (ohne Rahmen / without frame), Courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York, NY




Toyin Ojih Odutola, Zweitracht, 2024 – 2025, Pastellkreide und Kohle auf Gesso-grundiertem Leinen / pastel and charcoal on gessoed linen, 183 × 129 cm (ohne Rahmen / without frame), Courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York, NY

auf
(
Toyin Ojih Odutola, Not At All, 2024 – 2025, Kohle und Graphit
Papier / charcoal and graphite on paper, 106,5 × 230 cm
ohne Rahmen / without frame), Courtesy of the artist and Jack Shainman Gallery, New York, NY
