CHANGES. Berliner Festspiele 2012–2021

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CH-CH-CH-CH-CHANGES Thomas Oberender

Die Berliner Festspiele waren von Beginn an Berlins Hauptanlaufstelle für zu Kompliziertes, zu Großes, zu Teures, zu Nischenhaftes, zu Waghalsiges und zu Nervenaufreibendes. Sie konnten mit ihren Festivals, Ausstellungen, Programmreihen und Wettbewerben im Tagesgeschäft bedeutsame Maßstäbe setzen und manch eine Weltkarriere ebnen bzw. Bruchlandung überstehen. Nahezu alle Kunst- und Kultursparten bedienend, erforschend, gleichermaßen repräsentativ und eigenwillig denkend, entging den Berliner Festwochen und den Folgeformaten der Berliner Festspiele kaum eine international bedeutsame Veranstaltung. Hervorgegangen aus der Tradition verschiedener Sommerfestspiele, aber auch aus der kulturpolitischen Konkurrenz zu sozialistischen Institutionen und Gruppierungen, die ebenfalls 1951 die „Weltfestspiele“ nach Ostberlin holten und 26.000 Jugendliche aus aller Welt einluden, dauerte es nicht lange, bis die Berliner Festwochen mit ihren sich bald verselbstständigenden Theater-, Musik- und Ausstellungsprogrammen ein ganzes Kalenderjahr füllten. Nicht alles ist Ausnahme im Jahresprogramm von heute – vieles ist im Gegenteil eine Form von intelligenter Wiederkehr: Da sind die großen, internationalen Orchester mit ihrem spezifischen Klang und Programm im jährlichen Musikfest Berlin, die freien und festen Ensembles der deutschsprachigen Theaterwelt beim Theatertreffen. Die zyklischen Formate der Berliner Festspiele sind wiederkehrende Inseln einer vertieften Auseinandersetzung mit bestimmten Fragestellungen – der Bedeutung der Zeit in der Musik, der Rolle des Orchesters als eines Apparats oder Instruments in der Geschichte sich wandelnder Erfahrungsräume von Klang und Gemeinschaft. Nicht alles ist Disruption in diesem hektischen Geschäft der ständigen Produktion von Neuem und Bedeutung, die den Kulturbetrieb prägen. Festspiele schaffen auch Schutzräume für unterschiedliche Formen des Widerstands: Er kann sich in Langsamkeit genauso ausdrücken wie im Drängen der Avantgarde. Was ist Jazz? Das Verlassen des Skripts. Das kann Neue Musik genauso sein wie improvisierte Poesie. Doch vieles war in den letzten Jahren eben auch ein Schritt zur Seite: Marathonvorstellungen mit traditioneller Shanghai-Oper, eine queere Geschichte Amerikas im Feiern und Ernstnehmen der Gegenstimmen aus 100 Jahren Popmusik, die griechische Antike als Exzess einer Performance über 24 Stunden mit tanzenden, schreienden, singenden und schlafenden Performer*innen auf der Bühne des Hauses der Berliner Festspiele, und, mitten im Lockdown: die lebendige Zeitansage echter Menschen im Live-Stream oder Life-Stream. Festspiele waren der losgelassene Jazz von Anthony Braxton, Weltstars wie Ai Weiwei oder Yayoi Kusama und ihre bewusstseinserweiternden Entgrenzungs-Installationen im Gropius Bau und auch eine gemalte Neuschaffung der Welt im No-Limit-Nationaltheater Reinickendorf von Vegard Vinge und Ida Müller. Es war japanisches Nō -Theater in Hans Scharouns Philharmonie, Teodor Currentzis mit seinem ätherischen MusicAeterna-Chor und die neuen Kompositionen von Rebecca Saunders und ihren Zeremonien der menschlichen Stimme. Es waren die nächtlichen Erlebnisse

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