Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass
In den meisten Gemeinden fehlen Angebote für armutsbetroffene Menschen. Warum das so ist.
Seite 8
«Ich fühle mich jetzt nicht mehr allein»
Auf seinem Sozialen Stadtrundgang durch Basel erzählt Tito Ries von seinem jahrelangen Kampf gegen Schulden, Depression und Alkoholsucht–und welche Wege aus der Schuldenspirale führen.
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Editorial
Migration und Mobilität
Ich kenne Salma Awad nicht, aber ich glaube, sie und ich, wir könnten uns gut verstehen, würden wir zusammen einen Tee trinken. Auf jeden Fall hätten wir schon zwei Themen, die uns beide interessieren: Velo fahren und Fussball. Bei allen Gemeinsamkeiten unterscheiden sich unsere Leben grundlegend: mein beschauliches Mittelstandsleben in der Schweiz und ihr von Krieg und Flucht geprägtes Leben im Exil in Ägypten, seit sie den Sudan wegen der Kämpfe verlassen musste.
Es würde mich auch interessieren, was Salma Awad dazu sagt, dass der Krieg in ihrem Land kaum Thema ist in meinem Land, weder in den Medien noch in der Politik. Die Menschen im Sudan hungern. Laut UNO gab es seit Kriegsbeginn im April 2023 zehntausende Tote und Verletzte. Zwölf Millionen Menschen sind auf der Flucht. Es ist die grösste humanitäre Krise der Welt. Mehr zu den Ursachen und über Salma Awads Liebe zum Velo lesen Sie ab Seite 14.
4 Aufgelesen
5 Na? Gut! Familien besser unterstützen
5 Vor Gericht Besessen
6 Verkäufer*innenkolumne Die Kaffeezeremonie
7 Die Sozialzahl Last und Leistung des Sozialstaates
8 Hilfsangebote Kleine Gemeinden ignorieren Armut
12 Orte der Begegnung Zwischen Lastwagen und Motorrad
14 Sudan
Drei Frauen flüchten nach Ägypten
20 Hintergrund Die Wurzeln des Krieges
Auch ums Velofahren, aber in ganz anderer Weise, geht es im neusten Teil unserer Serie «Orte der Begegnung». Meine Kollegin Esther Banz war im Feierabendverkehr auf einer vielbefahrenen Strasse unterwegs, ab Seite 12.
Eine weitere Form von Mobilität, eine unfreiwillige, spielt bei der Recherche unserer Autor*innen Jonas Frey und Kira Kynd eine Rolle. Viele Menschen, die zum Beispiel das Kafi Klick oder andere Institutionen in Zürich besuchen – für Sprachkurse, Beratungen oder einfach als Begegnungsort –, leben gar nicht in der Stadt, sondern kommen aus dem Dorf oder einer kleineren Stadt nach Zürich. Warum, lesen Sie im vom Surprise Recherchefonds ermöglichten Text ab Seite 8.
Ob im Zug, Bus oder daheim, ich wünsche wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.
LEA STUBER Redaktorin
22 Theaterfestival Wenn alle Vögel nicht mehr da sind
24 Kino
Das Gefühl, ausgelöscht zu werden
25 Buch Weltraum-Antipoden
26 Veranstaltungen
27 Tour de Suisse Pörtner in Brugg
28 SurPlus Positive Firmen
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
30 Surprise-Porträt «Meine Töchter helfen mir immer»
Auf g elesen
News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Behelfsunterkünfte
aus der Nazi-Zeit
Als Reaktion auf die Bombenangriffe der Alliierten startete der deutsche Reichskommissar für sozialen Wohnungsbau, Robert Ley, 1943 auf Anweisung Hitlers eine BehelfsheimAktion. In Selbsthilfe sollten Ausgebombte einfache Mini-Eigenheime bauen, eine Fibel diente als Anleitung. Das Programm konnte zwar wenig gegen die Wohnungsnot ausrichten, die Gebäude überdauern jedoch teilweise bis heute. Die Hamburger Fotografen Enver Hirsch und Philipp Meuser zeigen in ihrem Buch «Behelfsheim», wie Bewohner*innen die Gebäude nach dem Zweiten Weltkrieg umgestalteten. Ein Wettlauf mit der Zeit: Weil die Generation allmählich stirbt, wurden viele dieser Häuser bereits abgerissen. www.behelfsheim.com
Andere Behelfsheime wurden bereits abgerissen, diese hier sehen sogar noch wohnlich aus.
HINZ & KUNZT, #388, HAMBURG
Familien besser unterstützen
Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektor*innen (SODK) hat an ihrer Jahresversammlung Massnahmen gegen die Familienarmut beschlossen. Sie will Familien, die Sozialhilfe beziehen, schweizweit stärker finanziell unterstützen. Dazu wurden zwei Neuerungen auf den Weg gebracht. Die SODK übernimmt zum einen das Modell des Kantons Neuenburg, das dort seit fast zwanzig Jahren existiert: Familien sollen pro Kind jeden Monat einen Zuschlag von 50 Franken erhalten, maximal 200 Franken pro Familie. Dieses Geld soll den finanziellen Spielraum der Familien ein wenig vergrössern. Dafür genehmigt die SODK Kinderzuschüsse von 50 Millionen Franken.
Die zweite Neuerung betrifft die situationsbedingten Leistungen (SIL). Solche dürfen Sozialdienste sprechen, um spezifische Bedürfnisse abzudecken. Bei Kindern kann das der Unterricht eines Instruments sein oder der Beitrag an einen Sportverein sowie die Ausrüstung. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) hat von der SODK den Auftrag bekommen zu prüfen, wie die SIL konkretisiert werden können in der Absicht, den Unterschied zwischen den Kantonen etwas zu reduzieren.
Bis im Herbst erarbeitet die SKOS die neuen Formulierungen in den SKOS-Richtlinien. Nach einer Vernehmlassung und dem Beschluss des SKOS-Vorstands und der SODK soll die Neuerung 2027 in Kraft treten. Ziel ist, armutsbetroffene Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern, «was dazu beitragen dürfte, dass sie später wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen und sich aus der Armut befreien können», schreibt die SODK. LEA
Vor Gericht
Besessen
Er selber sieht sich als Romantiker. Aber mit dieser Sicht steht er ziemlich alleine da. Der 46-jährige Polier, der an diesem Julimorgen vor dem Bezirksgericht Baden steht, muss sich wegen Nötigung und wegen Missachtung eines gerichtlich verhängten Kontaktund Rayonverbots verantworten. Er hatte seiner Ex-Partnerin Dutzende SMS geschickt, sie versucht anzurufen und ihr einen 20-seitigen Brief mit Gedichten geschickt, in denen er seine immerwährende Liebe zu ihr ausdrückte. Harmlos? Das sieht jedenfalls der Mann so. «Ich habe sie nie geschlagen. Ich habe ihr nie gedroht.» Nur seine Liebe habe er ihr gestanden.
Ein «zurückgewiesener Stalker» sei der Beschuldigte, dessen «Besessenheit» bei der Ex-Partnerin «Panik und Angst» auslösten, sagt hingegen der Staatsanwalt. Die Ex-Partnerin und Privatklägerin – von der Hauptverhandlung dispensiert – habe «seit zwei Jahren die Schnauze gestrichen voll von diesem Mann». Neben den SMS, den Gedichten und Liebesbekundungen hatte ihr der Mann auch Videos geschickt, in denen an seinem Arm Schnittwunden zu sehen sind und er seinen Suizid ankündigt, sollte sie die Beziehung nicht wieder aufnehmen. Aufgrund der Angst vor dem Beschuldigten getraute sich die Ex-Partnerin kaum mehr vor die Türe, heisst es in der Anklageschrift.
nicht von ihr lassen», sagt der Staatsanwalt im Plädoyer. Das räumt auch sein Verteidiger ein: «Für einen gesunden Menschen ist es schlicht nicht nachvollziehbar, dass er es einfach nicht auf die Reihe kriegt, die Privatklägerin in Ruhe zu lassen.» Aber sein Mandant sei eben nicht gesund. Der Verteidiger plädiert deshalb für eine acht Monate dauernde Freiheitsstrafe und eine ambulante Therapie. Die Staatsanwaltschaft hingegen fordert eine unbedingte Freiheitsstrafe von fünfzehn Monaten. Und einen Landesverweis. Dass der 46-jährige Mann seit über dreissig Jahren in der Schweiz lebt und ihm, wie er sagt, in der Türkei eine Haftstrafe droht, ist für die Staatsanwaltschaft kein Hinderungsgrund. Auch nicht, dass fast die gesamte Familie – Töchter, Mutter, Vater – und sein soziales Umfeld in der Schweiz leben.
Nach der geheimen Urteilsberatung entscheidet das Gericht: dreizehn Monate Freiheitsstrafe unbedingt. Ein fünfjähriges Kontakt- und Rayonverbot. Und ein Landesverweis von fünf Jahren. Die Urteilsbegründung ist holprig und wirkt unvorbereitet, schliesslich beendet die Gerichtspräsidentin die Verhandlung abrupt, indem sie dem Mann eine «gute Rückkehr» wünscht. Zwei bewaffnete Polizisten der Kantonspolizei Aargau legen dem Mann Handschellen an und führen ihn aus dem Gerichtssaal. Er befindet sich inzwischen im vorzeitigen Strafvollzug in Lenzburg.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
An dieser Stelle berichten wir über positive Ereignisse und Entwicklungen.
Dass der Mann einschlägig vorbestraft ist, steigert seine Chancen vor Gericht nicht. Vor etwas mehr als einem Jahr war er zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt worden. Auch damals wegen ungebetener Annäherungsversuche gegenüber der Ex-Partnerin. «Er kann seine Finger einfach
WILLIAM STERN ist Gerichtsreporter in Zürich.
Verkäufer*innenkolumne
Die Kaffeezeremonie
Als ich in der Schweiz ankam, wurde ich mit anderen Eritreer*innen als Erstes dem Bundesasylzentrum Kreuzlingen zugewiesen. Nach zwei Wochen wurden wir ins Durchgangszentrum Kollbrunn verlegt. Das ist ein Heim in einer ländlichen Umgebung, es liegt gleich beim Bahnhof von Kollbrunn. Es hat Platz für etwa 130 Menschen – Familien und Einzelpersonen.
Wir waren eine Gruppe von sieben Frauen. An einem Abend wollten wir unsere Kaffeezeremonie abhalten
und begannen dafür den Kaffee zu rösten. Plötzlich ging der Alarm los. Wir hatten keine Ahnung, wie so etwas passieren kann. Wenn wir Kaffee rösten, entsteht eben Rauch.
Die Polizei fuhr vor. Wir verstanden nicht, was los war. Wir gingen nach draussen und fragten die anderen: «Was ist passiert? Wieso kommt die Polizei?»
Als wir endlich merkten, dass sie wegen uns gekommen war, waren wir alle schockiert.
Aber die Polizisten sagten uns nur: «Tun Sie das in Zukunft bitte nicht mehr, das nächste Mal müssten Sie eine Busse bezahlen.» Sie meinten, wir sollten das auf dem Balkon machen. Jedenfalls an der frischen Luft, einfach nicht zuhause im Wohnzimmer.
Wir sind damals zwar wirklich erschrocken, aber unterdessen ist das für mich zu einer lustigen Anekdote geworden. Es ist nun dreizehn Jahre her, und die Geschichte erinnert mich heute daran, was in der Schweiz für mich anfangs alles neu und ungewohnt war.
YORDANOS BERHE, 47, verkauft Surprise beim Coop in Langnau am Albis und nutzt die Zeit, um viel mit den Menschen zu sprechen und so nebenher ihr Deutsch zu trainieren. Sie arbeitet auch als Reinigungskraft im Casino Zürich.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und dem Autor Ralf Schlatter erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
Last und Leistung des Sozialstaates
Über die wachsende Last des Sozialstaates, wahlweise für die «Jungen» oder die «Leistungsträger», wird viel und oft lamentiert. Insbesondere die Altersvorsorge sei überbordet, ist zu lesen. Weniger wird hingegen darüber berichtet, welchen Nutzen der Sozialstaat für all jene bietet, die auf ihn angewiesen sind: Arbeitslose, Kranke und Invalide, Pensionierte sowie Armutsbetroffene. So entsteht das Bild eines Sozialstaates, der mehr einem Moloch als einer Wohltäterin gleicht.
Noch seltener finden sich Hinweise darauf, wie sich die Einnahmen und Ausgaben im Sozialstaat im Vergleich zur Wirtschaftsleistung entwickelt haben. Wird der Sozialstaat zu einer zunehmenden Last für die Wirtschaft und damit zu einem Standortnachteil im globalen Wettbewerb um Umsatz und Gewinn?
Der Vergleich zwischen den Einnahmen der Sozialversicherungen und Sozialtransfers zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird als Soziallastquote bezeichnet. Der Vergleich zwischen den Unterstützungsleistungen des Sozialstaates und dem BIP kommt mittels Berechnung der Sozialleistungsquote zum Ausdruck.
Der Verlauf der beiden Quoten deckt Erstaunliches auf. Seit der Jahrtausendwende wachsen die Einnahmen und Ausgaben des Sozialstaates praktisch im Gleichschritt mit dem wirtschaftlichen Wachstum. Die Ausnahme sind die drei Corona-Jahre, in denen zum einen der Sozialstaat stark expandierte, zum anderen die wirtschaftliche Entwicklung fast stagnierte. Seither nähern sich beide Kurven wieder dem gewohnten Muster an.
Die jährlichen Soziallast- und Sozialleistungsquoten geben darum ein langweiliges Bild ab. Sie verlaufen, wenngleich auf unterschiedlichem Niveau von rund 25 und 20 Prozent, in etwa parallel. Die Soziallastquote liegt dabei höher als die Sozialleistungsquote. Mithin bedeutet das, dass die Einnahmen des Sozialstaates über den Ausgaben liegen, und dies mit grosser Konstanz. Der Grund findet sich in erster Linie bei der beruflichen Vorsorge, in die mehr Mittel fliessen, als Renten ausbezahlt werden.
Der Sozialstaat läuft in der Schweiz also nicht aus dem Ruder. Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht? Es bedeutet, dass der Sozialstaat in all diesen Jahren nicht über Mass ausgebaut wurde, ja ihm da und dort auch schmerzhafte Grenzen gesetzt wurden, etwa in der Invalidenversicherung oder bei den Ergänzungsleistungen. Nicht vergessen werden darf auch die Erhöhung des Rentenalters für die Frauen, mit dem es zu einer Erhöhung der sozialstaatlichen Einnahmen bei gleichzeitig sinkenden Ausgaben kommen wird. Welchen Einfluss die 13. AHV-Rente auf diese Entwicklung haben wird, muss sich erst noch zeigen. Mit einem moderaten Wachstum der Wirtschaft wird sich dieser Leistungsausbau kaum in den Kurven der Soziallast- und Sozialleistungsquoten zeigen.
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Beinahe schon langweilig: Wie parallel sich die Einnahmen des Sozialstaates und die Ausgaben (je im Verhältnis zum BIP) entwickeln.
Soziallastquote
Sozialleistungsquote
Unfreiwillig nach Zürich
Hilfsangebote Viele armutsbetroffene Menschen fahren für Essen und andere Unterstützung in die grösste Stadt im Land. Verantwortlich für die Grundversorgung sind zwar die Gemeinden und Kantone, in denen die Menschen leben, aber vielerorts fehlen Daten, Konzepte – und Bewusstsein.
TEXT JONAS FREY UND KIRA KYND
Wie jeden Abend stehen bei der Essensabgabe an der Europaallee in Zürich Dutzende Menschen für Lebensmittel und abgepackte Mahlzeiten an. Aus dem Kanton Aargau sind zwei Ukrainer*innen angereist. Sie hätten keine Arbeit, seien froh über Angebote wie diese, sagen sie.
Ob bei der Essensabgabe, im Begegnungslokal oder im Internetcafé: Im Gespräch mit Armutsbetroffenen in Zürich hört Surprise immer wieder, man reise extra aus anderen Gemeinden und Kantonen an. «Aus unserer täglichen Erfahrung können wir bestätigen, dass zahlreiche Besucher*innen unserer Angebote nicht aus der Stadt Zürich stammen», schreibt beispielsweise auch die Franziskanische Gassenarbeit Zueflucht Pace.
Warum fahren Armutsbetroffene extra nach Zürich, obwohl sie die Reise Geld kostet? Wie schauen die Gemeinden darauf? Um Antworten zu finden, hat Surprise 36 Gemeinden in den Kantonen Zürich und Aargau kontaktiert, Studien gelesen und mit Fachleuten gesprochen. Es gibt kaum Zahlen oder Berichte zu dieser unfreiwilligen Mobilität von Armutsbetroffenen. Sie wird statistisch nicht erhoben, das bestätigen auf Anfrage sowohl die Stadt als auch der Kanton Zürich, die Konferenz der kantonalen Sozialdirektor*innen (SODK) sowie verschiedene Gemeinden. Die Stadt Zürich verweist auf die Angebote privater Hilfsorganisationen, vielleicht gäbe es da Zahlen. Doch auch diese dokumentieren nicht, woher die Menschen kommen – vor allem um ihre Anonymität zu schützen.
Der Blick in die Praxis der Gemeinden zeigt nun: Die unfreiwillige Mobilität von Armutsbetroffenen wird durch ein mangelndes lokales Angebot, Angst um den Aufenthaltsstatus oder Stigmatisierung befördert. Armut bleibt unsichtbar, weil sie nicht gezählt wird. Dies, obwohl die Verantwortung für die Armutsbekämpfung bei den Gemeinden und Kantonen liegt. Was sich auch zeigt: Im Unterschied zu Zürich fehlt es in kleineren Gemeinden grundsätzlich an Strategien, um Armut wirksam zu bekämpfen. Wir beginnen die Reise in der Stadt Zürich.
Erste Station ist der dortige Verein Incontro. Hier gibt es kostenlos tägliche Essensabgaben, Sprachkurse, ärztliche Beratungen und einen warmen Begegnungsort. «Vor allem Geflüchtete und Wanderarbeiter*innen kommen von ausserhalb der Stadt und zum Teil aus abgelegenen Orten zu uns», sagt Schwester Ariane. Sie leitet den Verein Incontro zusammen mit Pfarrer Karl. Im Unterschied zu den Institutionen, die mit der Stadt Zürich eine Leistungsvereinbarung abgeschlossen haben, muss Incontro sein Angebot nicht auf Einwohner*innen der Stadt Zürich beschränken. «Bei uns muss man keinen Ausweis zeigen. Und auch keine Angaben zum Wohnort machen», sagt Schwester Ariane. Das gebe den Besucher*innen ein Gefühl der Sicherheit. Ob Menschen aus anderen Gemeinden kommen, hänge auch stark von den dortigen Verantwortlichen der Sozialdienste ab,
ergänzt Pfarrer Karl. In manchen Gemeinden warteten Geflüchtete jahrelang auf einen Sprachkurs (siehe Infobox S. 10). «Selbst wenn Angebote bestehen, fehlt oft das Personal, das mit kriegstraumatisierten Menschen arbeiten oder ihnen eine Sprache vermitteln kann.»
Zweite Station in Zürich in das Kafi Klick. Hier können sich Menschen mit Fragen zur Wohnungs- oder Stellensuche, zur Prämienverbilligung und vielem mehr kostenlos beraten lassen. Und hier hören die Berater*innen von den Menschen, die den Ort aufsuchen, ähnliches. Co-Leiter Stephan Hochuli sagt: «Dass Leute von weit herkommen – zum Teil aus Graubünden oder Glarus –, liegt auch am Sprachangebot des Kafi Klick.» Anders als an anderen Orten werden die Beratungen im Kafi Klick nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Spanisch, Italienisch, Englisch, Französisch und Portugiesisch geführt.
Durch den Austausch mit den Armutsbetroffenen ist dem Team bewusst gewurden, dass es in den Gemeinden eine Art Negativ-Wettbewerb bei der Sozialhilfe gibt. Hochuli sagt: «Die Strategie kommt mir ähnlich vor wie beim Steuerwettbewerb. So wie es Gemeinden gibt, die um vermögende Steuerzahler*innen buhlen, gibt es Gemeinden, die Obdachlose oder Sozialhilfebezüger*innen draussen haben wollen. Sie halten die Bedingungen bewusst schlecht.» Das bedeutet: Wer in einer solchen Gemeinde Sozialhilfe beziehen will, muss sich auf besonders strenge Auflagen, Weisungen und Sanktionen einstellen.
Wie viele Armutsbetroffene aus welchen Gemeinden und Kantonen nach Zürich reisen, konnte Surprise nicht herausfinden. Von den 36 per Mail angeschriebenen Sozialdiensten antworteten 14; einige knapp, andere ausführlicher. Mit drei Gemeinden konnte Surprise telefonieren, mit dem Sozialdienst von Brugg vor Ort sprechen. Einige der Gemeinden geben an, von Einzelpersonen zu wissen, die Unterstützung an anderen Orten suchen. Doch keine kann konkrete Zahlen über Armut vor Ort nennen. Stattdessen verweisen bei der Frage nach der Anzahl Armutsbetroffener mehrere Gemeinden auf die Anzahl Sozialhilfebeziehender. Das ist aber nicht dasselbe.
2023 lag die Sozialhilfequote laut Bundesamt für Statistik (BFS) schweizweit bei 2,8 Prozent, die Armutsquote lag im selben Jahr bei 8,1 Prozent. Hierbei stützt sich das BFS unter anderem auf Stichproben zu Einkommens- und Lebensbedingungen der Gesamtbevölkerung. Von der Sozialhilfe- auf die Armutsquote zu schliessen, greift zu kurz. Bei der Sozialhilfe und weiteren Sozialleistungen spielt der Nicht-Bezug eine grosse Rolle. Im Kanton Bern etwa, so schätzt es die Berner Fachhochschule, beziehen gut 36 Prozent der Anspruchsberechtigten keine Sozialhilfe. Gründe dafür sind etwa Angst um den Aufenthaltsstatus oder Scham. Ausserdem waren 2023 4,4 Prozent der Erwerbstätigen – trotz Arbeit – armutsbetroffen, sogenannte Working Poor.
Dritte Station bei Oliver Hümbelin in Bern. Um Armut geografisch verorten zu können, greift der Armutsforscher von der Berner Fachhochschule auf Steuerdaten des Kantons Bern zurück. Dabei zeigt sich: Auf dem Land und in der Stadt sind etwa gleich viele Menschen arm. Auf dem Land sind es eher Pensionär*innen sowie in der Landwirtschaft tätige Menschen, in der Stadt Menschen ohne Schweizer Pass oder Freiberufler*innen. Ein weiterer Unterschied zeigt sich beim Bezug von Sozialleistungen: Auf dem Land beziehen weniger Anspruchsberechtigte Sozialleistungen als in der Stadt. Das habe verschiedene Gründe, sagt Hümbelin. «Einerseits sind die Strukturen in der Stadt professioneller. Andererseits ist das soziale Milieu ein anderes.» Der Anteil von Nicht-Bezüger*innen korreliere zudem mit den politischen Mehrheiten in einer Gemeinde: Je rechts-konservativer die Verhältnisse, desto höher die Quote des Nicht-Bezugs. Das zeigen die Daten aus Hümbelins Studien. «In konservativen Gemeinden sind Menschen in Notlagen selbst eher konservativ und lehnen Sozialhilfe grundsätzlich ab.»
Wenn eine Gemeinde nicht wisse, wie viele ihrer Einwohner*innen arm sind, könne sie auch keinen direkten Auftrag daraus ableiten, sagt Hümbelin. Auch die Frage der unfreiwilligen Mobilität und die daraus entstehenden Kosten für Armutsbetroffene bleiben so ungeklärt.
Mehrere Gesprächspartner*innen verweisen bei den fehlenden Zahlen auf den ersten Bericht des Nationalen Armutsmonitorings, der Ende dieses Jahres publiziert werden soll. Auch die unfreiwillige Mobilität werde da Thema sein, schreibt die Nationale Plattform gegen Armut.
Vierte Station sind zwei Orte im Kanton Aargau: Baden und Brugg. Eva Bühler, die in Baden den Sozialdienst leitet, vermutet, dass die etablierten Strukturen in der Stadt zu einem gegentei-
Überlastete Deutschkurse und
Nothilfe für Sans-Papiers
Im Juni schrieb das Solinetz Zürich einen Brief an die Gemeinden des Kantons Zürich. Der Grund: die Überlastung der Deutschkurse, die der Verein in der Stadt Zürich kostenlos für Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus anbietet. Einige Sozialdienste der Zürcher Gemeinden verweisen ihre Klient*innen an die Gratisangebote des Solinetzes – obwohl diese Menschen Anrecht auf Angebote der Integrationsagenda haben und die Gemeinden diese von den Kantonen finanzieren lassen könnten. Dazu komme es leider nicht immer, sagt die Co-Leiterin des Solinetzes, Hanna Gerig. «Stattdessen geben sie den Menschen einfach einen Flyer mit für einen unserer Kurse.» Ein weiterer Fall: Während der Corona-Pandemie bezahlte die Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich (SPAZ) Nothilfe an Sans-Papiers – viele hatten ihren Job verloren. Die Nothilfe für jene Menschen, die in Zürich lebten, vergütete die Stadt an die SPAZ. Gleichzeitig registrierte der Sozialdienst von Uster, dass auch dort wohnhafte Sans-Papiers Nothilfe von der SPAZ erhielten. Schliesslich übernahm Uster die Kosten der Nothilfe von 30 Menschen. «Diese Übernahme war aber ein absoluter Einzelfall in einer Ausnahmesituation», sagt die Co-Leiterin der SPAZ, Bea Schwager.
SEVERIN DOMMANN, SOZIALE DIENSTE BRUGG
ligen Effekt auf dem Land führen können: «Wenn Zentrumsgemeinden schon viele Angebote abdecken, kommt man als ländliche Gemeinde eher auf die Idee, selbst kein Problem zu haben.» Brugg liegt unweit von Baden, eine Stadt mit 13 500 Einwohner*innen, 24 Zugminuten von Zürich entfernt. Wenn man die schweizweiten 8,1 Prozent Armutsquote auf Brugg überträgt, wären knapp 1100 Menschen armutsbetroffen. Doch auch hier: Inwieweit das der Realität entspricht, kann niemand sagen.
Statt einmal pro Tag wie in Zürich kann man hier einmal in der Woche gratis Lebensmittel beziehen. Die Organisation Tischlein deck dich bietet jeden Mittwoch Lebensmittel von Grossverteilern an. Im Unterschied zur Abgabe an der Europaallee in Zürich muss man bei Tischlein deck dich eine Bezugskarte vorweisen. Diese können Armutsbetroffene, Sozialhilfeempfänger*innen und Menschen mit Schutzstatus S über die Sozialdienste der Gemeinden oder andere Sozialstellen beantragen. Die Zahl der Karten ist auf 60 Stück begrenzt. Da diese Limite zwischen 2022 und 2023 durchgehend erreicht war, wurden keine neuen Bezugskarten ausgestellt. Wer also keine Karte hat oder keine beantragen möchte – aus Furcht um den Status und weil man bei den Ämtern nicht auffallen möchte –, macht sich eher auf den Weg nach Zürich. Auch in Baden braucht es eine persönliche Bezugskarte.
Weitere Angebote in Brugg sind ein Nähatelier der Caritas sowie Gratisberatungen und die «Kleine Kinderstube», die gratis Secondhand-Kleider und -Spielsachen anbietet und für die man sich anmelden muss, beides Angebote des Kirchlichen Regionalen Sozialdienstes. Die Heilsarmee in der Nachbarsgemeinde Umiken bietet einen Mittagstisch oder eine Lebensmittelabgabe an – ebenfalls mit Bezugskartenpflicht. Zum Vergleich: Auf der langen Liste der Angebote in Zürich sind solche ohne Anmeldeoder Kartenpflicht verbreiteter.
«Wir erkennen Armutsbetroffene dann, wenn sie sich bei uns melden und fragen, ob sie Anspruch auf Sozialhilfe hätten», sagt Anina Spörri, Fachspezialistin bei der Abteilung Gesellschaft der Stadt Brugg. Und Severin Dommann, Leiter der Abteilung, zu der die Sozialen Dienste gehören, ergänzt: «Wir wissen nicht, wo diese Leute sind.» Zwar weiss auch Dommann aus Gesprächen mit Vereinen in Zürich und Bern von Klient*innen aus Brugg. Doch um die Gründe dafür auszumachen oder selbst ein niederschwelliges Angebot aufzubauen, fehle es dem Sozialdienst an Know-how. «Ich vermute, dass die Armutsbetroffenen in den Ballungszentren Zugang zu Angeboten finden, weil sie sich dort eher getrauen, Hilfe zu holen», sagt Dommann. Gerade erarbeite die Abteilung ein neues Konzept – auch in diesem fehlt der Begriff Armut.
Die Abteilung Gesellschaft in Brugg kümmert sich um die Bereiche Familie, Gesundheit, materielle Hilfe und Alter. Armut spiele zwar überall immer wieder eine Rolle, so Dommann und Spörri. Ein eigener Organisationsbereich ist Armut aber nicht. So wie in allen angefragten Gemeinden, die reagiert haben. Selbst beim Sozialdienst der Stadt Zürich fehlt Armut als eigener Fachbereich.
In Brugg ist man sich bewusst, dass die Armut mehr ins Zentrum gerückt werden müsste. Gleichzeitig schaut die Gemeinde auf den Kanton: Würde dieser dem Thema mehr Gewicht geben –etwa mit einem jährlichen Armutsbericht –, wäre das handlungsweisend für die Gemeinden. Tatsächlich könnte der Kanton Aargau demnächst wieder ein Armutsmonitoring durchführen –das letzte und bisher einzige ist dreizehn Jahre alt.
Die für die Recherche angefragten Gemeinden.
Letzte Station ist die SODK in Bern, die Konferenz der kantonalen Sozialdirektor*innen. Remo Dörig, stellvertretender Generalsekretär, sagt am Telefon: «Wenn Gemeinden in ihren Angeboten das Wort Armut verwenden, kann das abschrecken.» Bezogen auf die öffentliche Darstellung der Angebote von Sozialdiensten scheint dies nachvollziehbar. Doch wenn Armut in den Konzepten und Strukturen der Sozialdienste nicht auftaucht: Wie soll man sie dann konkret bekämpfen und aus der Unsichtbarkeit holen?
Es braucht keine teuren Angebote der Gemeinden, ist Stephan Hochuli vom Kafi Klick in Zürich überzeugt. Sondern solche ohne Ausweispflicht und abseits der Sozialämter, gegen die viele armutsbetroffene Menschen Misstrauen hegen. Hochuli sagt: «Was es in den Gemeinden braucht, sind niederschwellige Angebote in verschiedenen Sprachen. Orte, wo man auch mal einen Kaffee trinken und eine Frage zu einem Dokument stellen kann.»
1. Aarau
2. Baden
3. Bremgarten
4. Brugg
5. Dottikon
6. Ehrendingen
7. Fislisbach
8. Kulm
9. Lenzburg
10. Neuenhof 11. Spreitenbach
12. Wettingen
13. Wohlen
14. Wohlenschwil 15. Würenlos
16. Zofingen 17. Zufikon
18. Zurzach
Die 14 Gemeinden, die antworteten
19. Adliswil 20. Aesch
21. Aeugst am Albis
22. A oltern am Albis
23. Altikon
24. Bachenbülach
25. Bachs
26. Bäretswil
27. Bassersdorf
28. Bauma
29. Benken
30. Dübendorf
31. Herrliberg
32. Hinwil
33. Kleinandelfingen
34. Pfä ikon
35. Uster
36. Wetzikon
Recherchefonds: Dieser Beitrag wurde über den Surprise Recherchefonds finanziert. surprise.ngo/recherchefonds
Hintergründe im Podcast: Radiojournalist Simon Berginz spricht mit den beiden Autor*innen Jonas Frey und Kira Kynd über ihre Recherche. surprise.ngo/podcast
Zürich
Tief durchatmen in den Abgasen
TEXT ESTHER BANZ ILLUSTRATION PIRMIN BEELER
AUSFALLSTRASSE Es ist einer dieser sehr frühen Sommertage. Und alle, die das können, gehen schon am Nachmittag in den Feierabend. Autofahrer steigen auf ihre Töffs um und zeigen auf den verstopften Strassen der Stadt, dass sie als Einzige noch durchkommen. So wird die zentrumsnahe Ausfallstrasse zur Kampfzone. Die einen dürstet es nach einem grossen Weizen, andere nach einer Verkehrsrevolution.
Hinter dem Platz mit der Tramhaltestelle geht die Strasse geradeaus weiter und wird dann zur Brücke. Noch bevor sich die Fahrbahnen auf Stelzen über die beiden städtischen Flüsse erheben, hat es rechterhand eine weitere Haltestelle des öffentlichen Verkehrs. Gerade steht dort ein Bus mit verschlossenen Türen. Menschen steigen keine ein oder aus, der Busfahrer wartet wohl darauf, dass seine Abfahrtszeit kommt. Mehrere, die mit dem Velo unterwegs sind, überholen ihn, auch ich. Direkt nach der Haltestelle beginnt rechterhand auf dem Trottoir der Veloweg über die Brücke. Man teilt sich den von der Fahrbahn abgesetzten und erhöhten Weg mit den Fussgänger*innen. So ist der sogenannte Langsamverkehr vor dem Schnellverkehr geschützt. Nun aber ist es nicht möglich, mit dem Velo auf den Veloweg zu gelangen, denn ein abgestellter Lieferwagen steht im Weg und der Randstein ist zu hoch. Wir Velofahrer*innen bleiben in dem Moment also notgedrungen auf der Strasse.
Von den zwei Spuren, die stadtauswärts über die Brücke führen, biegt an deren Ende bei der Kreuzung mit Lichtsignal eine rechts ab, sie führt zu einem Tunnel
und schliesslich auf die Autobahn. Entsprechend viele Lastwagen fahren hier entlang. Die linke Spur führt ab der Kreuzung geradeaus hoch. Die muss ich nehmen, um nach Hause zu kommen. Aber es bildet sich immer wieder eine Kolonne, sodass ich –ungeduldig und genervt vom permanenten Gedröhne und den Abgasen – auf die rechte Spur wechsle, wenn dort gerade keine*r fährt. Sobald der Verkehr links wieder rollt und die Autos und Töffs davonbrausen, wechsle ich zurück. Nach der Kreuzung mit dem Lichtsignal werde ich endlich auf den Veloweg wechseln können. Als ich schon darauf zufahre, schaltet meine Ampel auf Grün und ich werde wohl nicht einmal abbremsen müssen. In Gedanken stehe ich bereits zuhause unter der Dusche. Da überholt mich von rechts mit einem tiefen Brumm-Ton eine Harley-ähnliche Maschine. Der Fahrer sitzt bequem im Sattel. Er schaut zu mir herüber, und als sich unsere Blicke treffen, ruft er: «Da auf dem Trottoir hätte es im Fall einen Veloweg gehabt! Einfach nur zum Sagen!»
Der zweite Satz dröhnt in meinen Ohren: Einfach nur zum Sagen. Ich möchte ihm sagen, dass der Veloweg nicht erreichbar war, dass da ein Lieferwagen stand. Dass mein Verbleiben auf der Fahrbahn unfreiwillig war. Ich rufe also in seine Richtung: «Da versperrte ein …» Aber sein Motorenlärm verschluckt meine Worte, er biegt ab und ich sehe nur noch seinen Rücken. Jetzt möchte ich trotzig aufstampfen, wie ein Kind, das nicht ernst genommen wird. Zum Glück hält mich trotz Hitze und Emotionen ein Rest Vernunft davon ab, ihm
zu folgen. Bloss der Mund ist schneller. Inbrünstig brülle ich: «Arschloch, du!» Kaum ist es raus und bin ich wieder ruhiger, sehe ich, dass von den Fussgänger*innen, die am nahen Lichtsignal warten, einige in meine Richtung schauen. Vermutlich haben sie uns gesehen und verstanden (nur nicht, dass der Veloweg versperrt war).
Dann winkt jemand. Meint die Person mich? Gerne würde ich mich wegducken. Ich blinzle und erkenne eine Frau, mit der ich vor ein paar Monaten einen Kurs besucht habe. Sie heisst Rita. Wir und ein Dutzend andere übten einen Winter lang gewaltfreie Kommunikation. Hat bei mir ja viel bewirkt, denke ich und will zu ihr hin, ich sehe uns schon zusammen über meine Unfähigkeit, Ruhe zu bewahren, lachen. Ohne aufzupassen, ziehe ich meinen Lenker nach rechts und sehe dabei den Lastwagen gar nicht, der von hinten aufgeschlossen hat. Zum Glück war die Ampel schon auf Orange gesprungen. Hinter mir bremsen alle, und ich bremse auch. Selten war tiefes Durchatmen inmitten von Abgasen und Motorenlärm und Scham so erleichternd. Von jetzt an werde ich auf der Ausfallstrasse keinen stehenden Bus mehr überholen. Und primitiv fluchen gibts nur noch hinter einer Scheibe oder einem Visier.
In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder dorthin, wo in unserer funktionalen Welt ein Austausch stattfindet.
Drei Frauen erzählen vom Krieg
Sudan Im drittgrössten Land Afrikas hungern 25 Millionen Menschen. 12 Millionen sind auf der Flucht, die meisten versuchen in Nachbarländer wie Ägypten zu gelangen. Drei, die es geschafft haben, erzählen vom Schrecken – und von menschlicher Stärke.
TEXT LAILA SIEBER FOTOS HELENA LEA MANHARTSBER G ER
Sie alle waren im Sudan, als dort Mitte April 2023 ein Krieg ausbrach: Nidal Ali, Salma Awad und Nagda Mansour. Inzwischen sind die drei Frauen geflüchtet und leben im Nachbarland Ägypten. Erst wenige Jahre zuvor, während der Revolution 2018 und 2019, waren die Menschen im Sudan gegen den Langzeitdiktator Omar Al Baschir auf die Strasse gegangen. Im Zentrum des aktuellen Krieges stehen die Rapid Support Forces (RSF) unter Mohamed Hamdan Dagalo («Himedti») auf der einen und die Armee von General Abdel Fattah Burhan auf der anderen Seite, auch wenn die Gemengelage wesentlich komplexer ist (siehe Hintergrund-Text S. 20).
Den Kriegsparteien werden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, darunter sexualisierte Gewalt und der Einsatz von Hunger als Kriegswaffe. Laut der UNO ist der Krieg im Sudan, wo fünfzig Millionen Menschen leben, derzeit die weltweit grösste humanitäre Krise. 25 Millionen Menschen hungern, über 150 000 wurden getötet und 12 Millionen sind auf der Flucht.
Nidal Ali
45, Mutter von acht Kindern
«Ich bin mit sieben meiner acht Kinder aus der Hauptstadt Khartum in den Norden Sudans und weiter nach Ägypten geflohen. Wir wollten nicht fort. Ich habe nächtelang darüber nachgedacht, was, wenn wir auf dem Weg sterben? Aber als wir hörten, dass die RSF Mädchen und Frauen vergewaltigten, entschieden wir uns, die Stadt zu verlassen – vor allem für unsere vier Töchter. Mein Mann blieb, um unser Haus zu verteidigen. Wenige Tage später kamen die RSF, schlugen meinen Mann bewusstlos und hängten ihn mit zusammengebundenen Händen am Ventilator auf. Doch das Seil riss und Nachbarn fanden ihn. Er kam schwer verletzt wieder zu Bewusstsein. Inzwischen lebt er mit uns in Kairo, physisch und psychisch geht es ihm nicht gut.
Um nach Ägypten zu gelangen, mussten wir die Wüste mit Schmugglern durchqueren. Neun Tage waren wir unterwegs. Zusammengepfercht auf der Tragefläche eines Jeeps wiesen sie uns an: ‹Wer runterfällt, bleibt zurück!› Wir waren eine Gruppe von etwa fünfzehn Frauen, sechzehn Kindern und neun Männern. An einem Abend luden sie uns ab und fuhren mit den Jeeps weg. Zwei Tage kamen sie nicht wieder. Es gab Schlangen, Skorpione und Hyänen. Nachts hatten wir Angst, dass die Tiere uns angreifen würden.
Da kam mir die Idee, Feuer zu machen – ich hatte das im ‹Dschungelbuch› gesehen. Wir füllten Gras in Plastikflaschen, damit das Feuer so lange wie möglich brennen würde und bauten damit einen Kreis um uns. Die Kinder nahmen wir in die Mitte. In der Nacht hörten wir die Hyänen heulen, am Morgen konnten wir ihre Spuren im Sand sehen. Meine Idee beeindruckte die Männer. Von da an fragten sie mich immer nach meiner Meinung. Sie sagten: ‹Wir haben unseren Kopf im Krieg gelassen, wir brauchen deinen Rat.› In diesen Momenten fühlte ich mich stark.
Ich schaffte es, dass alle zusammenblieben, schlichtete Streit und teilte das wenige Essen, das wir hatten. Gott sei Dank fand ich in der Wüste einen schmutzigen Topf, den ich mit Feuer und Sand reinigte. Die Schmuggler hatten uns nur mit Benzin verunreinigtes Wasser, ein wenig Kaffee und Hirsemehl dagelassen.
Viele von uns wurden krank. Die Hitze machte alles nur noch schlimmer. Um tagsüber etwas Schatten zu haben, bauten wir mit Tüchern eine Art Zelt. Meinen Kindern, sie waren zwischen 6 und 23 Jahre alt, erzählte ich, dass wir uns auf einer Abenteuerreise nach Kairo befänden. Ich sagte: ‹Lasst uns sehen, wie lange wir mit so wenig Essen, ohne Zucker und ohne Salz, durchhalten können.› Ich schwärmte von all den Dingen, die es in Kairo geben würde, obwohl ich nicht sicher war, ob wir die Reise überleben würden. Wenn ich heute einen Kaffee trinke, den ich über dem Feuer gekocht habe, riecht er für mich noch immer nach der Flucht.»
Nidal Ali kam, als sie mit ihren Kindern in der Wüste ausgesetzt war, das «Dschungelbuch» in den Sinn.
Salma Awad trainierte in einem UN-Camp Kinder. Dank eines Schreibens ihres Fussballtrainers konnte sie nach Ägypten reisen.
Salma Awad
33, Fussballerin und Velokurierin
«Ich liebe es, Velo zu fahren. Schon als Kind bin ich mit den Jungs im Park immer zu den Velos gelaufen statt zu den Schaukeln, die für die Mädchen vorgesehen waren. Im Sudan ist es gesellschaftlich tabu, dass Frauen Velo fahren. Ich habe es trotzdem gemacht. Unterstützt wurde ich dabei von einer Organisation, bei der ich mir ein Velo leihen konnte. Als ich schliesslich selbst eines besass, versteckte ich es vor meiner Familie – sie hätten es mir weggenommen. Ich fing an, in Khartum mit dem Velo Kosmetik oder Kleidung auszuliefern. Soviel ich weiss, war ich die allererste Frau im Sudan, die einen Velo-Lieferservice hatte. Manche nahmen meine Lieferungen nicht an, weil ich eine Frau bin. Unterwegs bewarfen mich immer wieder Männer mit Steinen.
Als der Krieg ausbrach, bekam ich Anfragen, Medikamente zu liefern. Es gab nur noch vereinzelt Apotheken, so musste ich auch durch umkämpftes Gebiet fahren. Einmal stoppten mich die RSF, schlugen mir mit einer Peitsche auf den Rücken, nahmen mir Geld und mein Mobiltelefon weg. Als sie einen Moment unachtsam waren, entkam ich mit dem Velo – nur um ein paar Strassen weiter auf das Militär zu treffen. Prompt warf es mir vor, eine Spionin zu sein und mit den RSF zusammenzuarbeiten. Glücklicherweise konnte ich sie vom Gegenteil überzeugen, und sie liessen mich gehen.
Als die Kämpfe weiter eskalierten, musste ich Khartum und mein Velo zurücklassen. Ich floh erst in den Norden Sudans, wo ich in einem UN-Camp Kinder im Fussball trainierte, um etwas Geld zu verdienen. Weil es kein Trainingsmaterial gab, füllte ich Plastikflaschen mit Sand, die ich als Markierungen nutzen konnte. Mithilfe eines Einladungsschreibens meines Fussballtrainers bekam ich schliesslich ein Visum für Ägypten und reiste im Juni 2024 nach Kairo. Hier wohne ich jetzt zusammen mit meiner
Tante, die ich im Haushalt unterstütze. Regelmässig trainiere ich hier im Exil mit dem sudanesischen Frauen-Fussballteam, wir nennen uns ‹Samidat›, was so viel wie standhaft bedeutet. Inzwischen konnte ich mir sogar ein Mountainbike kaufen und fahre auch hier wieder Lieferungen aus. Anscheinend gibt es in Kairo ein paar Velokurierinnen, aber ich habe noch nie eine getroffen.
Ich wünsche mir, in das UNHCR-Resettlement-Verfahren zu kommen, um nach Europa oder Kanada zu reisen. Ich will eine Ausbildung machen, Englisch lernen und Geld sparen. Und dann irgendwann in den Sudan zurückkehren, ein Sportzentrum für Frauen eröffnen und einen Velo-Lieferservice aufmachen, in dem nur Frauen arbeiten. Ich möchte etwas von der Unterstützung, die ich erfahren habe, zurückgeben und alle Frauen ermutigen, ihren Träumen zu folgen.»
Zum Projekt
Frauen sind im Krieg und auf der Flucht besonders gefährdet. In den Medien werden sie häufig darauf reduziert, Opfer von Vertreibung, Hunger oder sexualisierter Gewalt zu sein. Um den Überlebenden Raum für ihre vielschichtigen Erfahrungen zu geben, fokussierten die Journalistinnen Helena Lea Manhartsberger und Laila Sieber in ihren Porträts dreier sudanesischer Frauen auf Momente der Stärke in Kriegs- und Fluchtsituationen. Darauf basierend inszenierten sie gemeinsam mit ihnen Bilder. Die Arbeit entstand im Nachbarland Ägypten, wohin die Porträtierten geflohen sind.
Nagda Mansour
45, Menschenrechtsaktivistin und Dolmetscherin
«Ich komme aus einer traditionellen Familie, gleichzeitig unterstützte mein Vater es sehr, dass wir Kinder eine gute Bildung bekommen. Wir sind vier Schwestern und vier Brüder. Es war ein Balanceakt, teilweise mit der Tradition zu brechen und gleichzeitig Teil der Familie zu bleiben. Es bedeutet, sich die Kämpfe gut auszusuchen und Kompromisse einzugehen. Zum Beispiel bestand ich darauf, dass ich selbst wählen konnte, wen ich heirate. Aber ich akzeptierte den Wunsch meines Vaters, traditionelle Kleidung zu tragen, wenn wir gemeinsam unterwegs waren.
Am Tag, als der Krieg ausbrach, war ich in Khartum. Ich wohnte in der Nähe des Präsidentenpalasts und des Marktes Al-Suq al-arabi. Als ich draussen ein Mädchen schreien hörte: ‹Es gibt einen Putsch!›, lief ich hinaus, getrieben von meinem journalistischen Instinkt. Ich ging live auf Facebook. Dann stoppte ein Mann in Uniform auf einem Motorrad neben mir und sagte, sie würden dieses Gebiet auch angreifen, wenn ich nicht aufhörte zu filmen. Ich nahm die erste Mitfahrgelegenheit, die sich bot, und kam in das Viertel, in dem meine Schwester lebte. Sie war verreist, ich blieb alleine in ihrem Haus. Wenn Menschen aus dem Marktviertel hierherkamen, erzählten sie von Toten auf den Strassen. Eine Rückkehr war wegen der schweren Kämpfe unmöglich geworden. Tagelang hatte ich keinen Strom und kein Wasser, während die Bomben um mich herum einschlugen.
Irgendwann beschlossen ich und meine Nachbarin Nuha, uns trotzdem hinaus zu wagen. Ich musste an meinen Laptop in meiner Wohnung kommen, ich brauchte ihn dringend zum Arbeiten. Wir liefen unter Beschuss durch die Strassen. Der Markt war verlassen, viele Läden waren aufgebrochen und geplündert. Das Obst lag noch auf den Ständen, braun von der Sonne. Ich habe noch die Schreie von Raubvögeln in den Ohren, die wegen der Leichen am Himmel kreisten – der Klang des Todes. Am Ende schafften wir es zu meiner Wohnung und holten meine Sachen. Wir hatten Glück.
Neulich hatte ich mit meinem Mann einen besonderen Moment im Bett, als er plötzlich innehielt. Ich fragte ihn, woran er denke, und erwartete, etwas Romantisches zu hören. Stattdessen sagte er, er denke über den letzten Stand der Verhandlungen in Khartum nach. Ich verstand ihn so gut: Dieser Krieg ist immer präsent, er ist Teil von uns – selbst im Bett. Mein Mann und ich haben mitten im
Krieg geheiratet. Seine Fürsorge beeindruckte mich. Er ist mein Weggefährte und bei ihm fühle ich mich sicher. Doch wir gehen beide Kompromisse ein, denn im Gegensatz zu mir ist er kein Feminist. Und auch wenn er mich respektvoll behandelt: Heiraten bedeutet, den Feminismus zu verraten.
Hier in Kairo, wo ich seit Januar 2024 lebe, ist das Schwierigste für mich, nicht mehr so am Leben draussen teilnehmen zu können, wie ich gerne würde. Regelmässig poste ich Videos auf Facebook, in denen ich auf Menschenrechtsverletzungen im Sudan aufmerksam mache. Die Drohungen, die mein Mann und ich dafür erhalten, machen mir Sorgen – aber diese letzte Freiheit, meine Meinung zu äussern, lasse ich mir nicht nehmen.
Ich denke, dass es am Ende die Menschenrechtsverletzungen sein werden, an denen beide Konfliktparteien im Sudan scheitern. Wegen ihnen verlieren sie die Legitimation zu regieren. Im Gegensatz zu uns, denn unsere Revolution ist nicht vorbei. Vielleicht braucht es noch mehr Zeit, aber irgendwann wird der Sudan demokratisch sein, davon bin ich überzeugt.»
Salma Awad und Nagda Mansour
«Wir waren Nachbarinnen, haben uns aber erst während des Krieges wirklich kennengelernt. Da die meisten Männer unser Viertel verlassen hatten, fühlten wir uns plötzlich freier, draussen unter einem Baum zu sitzen und Tee zu trinken – normalerweise würden Frauen das nicht tun. Der Bruch dieser kleinen gesellschaftlichen Regeln ist Teil unseres Widerstandes gegen diesen Krieg. Am Ende des Ramadans im April war uns allen nicht zum Feiern zumute. Aber dann hat Mariam, eine unserer Nachbarinnen, allen in der Nachbarschaft Süssigkeiten geschenkt. Wenn alles dunkel ist, sucht jede nach einem Funken Licht. Was Mariam gemacht hat, brachte uns dieses Licht. Als sie mit ihrem Mann nach Kairo floh, übernahm ihre Schwester ihre Rolle und brachte uns Essen.»
Nagda Mansour hat nicht nur ihre Geschichte zu Protokoll gegeben, sondern auch als Übersetzerin bei den Gesprächen mit den beiden anderen mitgearbeitet.
Nagda Mansour ging am Tag des Kriegsausbruchs auf die Strasse, um zu filmen. Heute macht sie aus der Ferne auf die Menschrechtsverletzungen aufmerksam.
Nagda Mansour und Salma Awad kennen sich bereits aus dem Sudan, Die Nachbarinnen tranken draussen Tee – ein Akt des Widerstandes.
(Sudanese Armed Forces)
(Rapid Support Forces)
Im Würgegriff der Machthungrigen
Hintergrund Der Krieg im Sudan ist ein hausgemachter Konflikt zwischen mafiösen Militärs. Und ein Stellvertreterkrieg, an dem auch Europa seinen Anteil hat.
TEXT ROMAN DECKERT
«Als Gott den Sudan schuf, musste er lachen», besagt ein sudanesisches Sprichwort und meint sowohl ein freudiges wie ein entgeistertes Lachen. Der Spruch bringt einen grundlegenden Widerspruch auf den Punkt, der wohl viele Sudan-Reisende verblüfft: Wie passt es zusammen, dass ein Land berühmt ist für die Freundlichkeit vieler Menschen und doch ständig von brutalen Konflikten zerrissen wird? Wie kann es sein, dass Khartum bis vor kurzem als sicherste Hauptstadt Afrikas galt, während in vielen ländlichen Grenzgebieten bewaffnete Auseinandersetzungen tobten?
Die Wurzeln dieser Konflikte sind verworren, aber man kann doch einige Ursachen identifizieren, die teils weit in die Vergangenheit reichen. Besonders eindringlich tut dies der sudanesische Spielfilm «Goodbye Julia», der im Jahr 2023 nur einen Monat nach Kriegsausbruch seine Premiere in Cannes feierte. Das Drama erzählt die Geschichte zweier Frauen kurz vor der Teilung des Landes im Jahr 2011, als sich der Südsudan nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges vom Norden abspaltete. Rassismus, religiöser Fanatismus und toxische Maskulinität hatten das Zusammenleben vergiftet.
Bei allen Ursachen, die sich auch im Sudan selbst finden, waren es immer wieder ausländische Interessen, die die Misere befeuerten. So suchten die ägyptischen Herrscher ihre südlichen Nachbarn über Jahrtausende mit der Jagd nach Sklaven und Gold heim, von pharaonischen Zeiten bis ins 19. Jahrhundert, wie der Schweizer Johann Ludwig Burckhardt bei seinen Reisen durch die Region bezeugte. Die Traumata der Sklaverei hatten sich tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben und wirken bis heute fort. Moderne Formen des Menschenhandels existieren weiterhin, vor allem im Söldnerwesen.
Überdies wiegt auch im Sudan das koloniale Erbe schwer. Als es 1924 zu einer friedlichen Volkserhebung kam, schlugen die britischen Kolonialherren diese brutal nieder. In der Folge herrschten sie nach einem ebenso bewährten wie verhängnisvollen Prinzip: «Teile und herrsche». Nach der sudanesischen Unabhängigkeit 1956 übernahmen Diktatoren wie Omar Al Baschir diese Technik der Machterhaltung und spielten verschiedene Bevölkerungsgruppen gegeneinander aus.
Von einem Staat mit einer Armee mutierte der Sudan rasch zu einer Armee mit einem Staat. Bis heute gab es – je nach Zählweise – zwischen 18 und 35 Staatsstreiche bzw. Putschversuche. Ein afrikanischer Rekord. Damit einher ging eine «Militarisierung des politischen Marktplatzes», wie es der britische Friedensforscher Alex de Waal nennt: Sudanesische Politiker können mittlerweile fast nur noch dann Zugang zu Macht und Ressourcen bekommen, wenn sie eigene Kämpfer hinter sich scharen.
Die reguläre Armee hat sich derweil auf den Aufbau eines eigenen Wirtschaftsimperiums konzentriert. Die Niederschlagung von Rebellionen in den vernachlässigten Randgebieten des Landes lagerte sie an ethnische Milizen aus. So bekämpften die berüchtigten Dschandschawid-Reitergruppen ab 2003 einen Aufstand in Darfur, der Region im Westen des Landes, die lange Zeit ein eigenständiges Sultanat gewesen war. Die Region leidet seit den 1970er-Jahren unter heftigen Dürren, die auch durch den Klimawandel ausgelöst werden. Kleinbäuer*innen und Viehhirt*innen hätten mit Agrarexporten in die Golfstaaten harte Devisen für den hochverschuldeten Staat erwirtschaften sollen. Aber unter diesem Druck eskalierten die Spannungen zwischen ihnen.
Doch diese Strategie des Outsourcings sollte sich fatal rächen, denn aus den Dschandschawid gingen schliesslich die Rapid Support Forces (RSF) hervor. Deren Anführer Mohamed Hamdan Dagalo, besser bekannt als «Himedti», stieg mit einer mafiösen Kombination aus militärischen und zivilen Geschäften zu einem der reichsten Männer des Sudans auf. Zum einen stellte er Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die im Jemen-Krieg gegen die Huthi-Milizen kämpften, seine Söldnertruppen zur Verfügung. Und zum anderen brachte er die lukrativen Goldminen in Darfur unter seine Kontrolle. In einer
zunehmend destruktiven Volkswirtschaft gab es für viele Sudanes*innen kaum mehr andere Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Vor diesem Hintergrund stiegen die RSF in den 2010er-Jahren zu einem Staat im Staate auf. Internationale Anerkennung erlangten sie durch den «Khartoum Process» im Jahr 2014, mit dem die Europäische Union die regionalen Flucht- und Migrationsbewegungen eindämmen wollte. Auch die Schweiz schloss sich dieser Initiative an, dank der die RSF quasi zu den offiziellen Türstehern Europas avancierten. Letztlich erreichte diese Politik das Gegenteil des Erstrebten: Himedtis Putschversuch vom April 2023 gegen die Armee führte zur grössten Fluchtkatastrophe unserer Zeit.
Bei allen innenpolitischen Ursachen handelt es sich auch um einen regionalen Stellvertreterkrieg mit globalen Verflechtungen. Es ist unstrittig, dass die Vereinigten Arabischen Emirate der Hauptsponsor von Himedti und seinen RSF sind. Auf der anderen Seite stehen Saudi-Arabien und Ägypten, die die Armee von General Abdel Fattah Burhan zusammen mit Katar, Iran und der Türkei unterstützen. Dabei geht es um geopolitische Interessen wie die Kontrolle über das Nilwasser, über Häfen am Roten Meer und über die landwirtschaftlichen Produktionsflächen. Wichtigster Treibstoff des Krieges ist wie schon in der Antike das sudanesische Gold, das von beiden Lagern in die Glitzermetropole Dubai verkauft wird. Die von der westlichen Politik hofierten Emiratis lassen das Edelmetall übrigens vorzugsweise in der Schweiz raffinieren und zertifizieren.
Heute ist der Sudan faktisch ein gespaltenes Land. Die Armee hat erst nach fast zwei Jahren und nur mit Hilfe verbündeter Milizen die Hauptstadt Khartum von den RSF zurückerobert. Sie ist ein Trümmerfeld, die Ruine des Präsidentenpalastes steht symbolhaft für den katastrophalen Staatszerfall. In einem militärischen Patt herrschen Himedtis RSF über die westliche Hälfte des Sudan, die Junta von General Burhan über die östliche. Millionen Menschen sind umso mehr vom Hungertod bedroht, da die reichen Staaten der Welt ihre Gelder für humanitäre Hilfsmassnahmen zusammenstreichen.
Doch es gibt auch Hoffnung. Vor allem durch die vielen lokalen Emergency Response Rooms. Mit Unterstützung der sudanesischen Diaspora organisieren sie solidarische Nachbarschaftshilfen und repräsentieren damit die beste Seite der sudanesischen Zivilgesellschaft, in der Frauen wie schon in der Revolution 2019 gegen Omar Al Baschir eine wichtige Rolle spielen. Schon dreimal – 1964, 1985 und 2018/19 – hat sich die Bevölkerung mit friedlichen Mitteln von Militärdiktaturen befreit. Die Geschichte zeigt also eindrucksvoll, dass die Sudanes*innen den Sudan selber retten können. Sie brauchen dabei allerdings die Solidarität der restlichen Menschheit statt stillschweigender Komplizenschaft mit den Kriegstreibern.
ROMAN DECKERT ist Historiker und arbeitet seit 1997 zum Sudan, vor allem in Projekten zur Unterstützung sudanesischer Journalist*innen.
Was tun arbeitslose Vogelscheuchen? Antworten gibts am diesjährigen Theater Spektakel.
Wenn alle Vögel nicht mehr da sind
Theaterfestival Auffallend viele Produktionen thematisieren am diesjährigen
Zürcher Theater Spektakel Umweltzerstörung und Klimawandel. Was zeigt, dass diese Themen definitiv auf den Bühnen angekommen sind.
TEXT MONIKA BETTSCHEN
Etwas unheimlich ist es schon, wie die fünf Vogelscheuchen mit wulstigen Masken aus Pappmaché zwischen Heuballen stehen, Vogelgesang ab Band lauschen und mit verzerrten Stimmen sprechen. «Alle Vögel sind schon da», intoniert eine der Scheuchen, und eine andere stimmt ein weiteres Kinderlied an: «Kleine Meise, kleine Meise, sag, wo kommst du her? Suchte Futter, suchte Futter, aber war keins da.»
Damit ist die Apokalypse, die sich im Theaterstück «Farm Fatale» des französischen Regisseurs Philippe Quesne ereignet hat, bereits angedeutet: Es gibt keine Vögel mehr. Auch das übrige Leben, inklusive der Menschheit, schwindet dahin als Resultat von Agrochemie, Umweltzerstörung und Klimawandel. Zurück bleiben die Vogelscheuchen – ohne die Vögel jetzt arbeitslos geworden. Neuen Lebenssinn suchend, tun sie sich zusammen und schicken mit einem Piratensender Gezwitscher und andere Naturgeräusche über den Äther.
Die Wehmut, mit welcher die Vogelscheuchen einer verlorenen Welt nachtrauern, bildet den emotionalen Kern von «Farm Fatale». «Ich mag die Romantik des 19. Jahrhunderts, in der die Natur als Gegenpol zur aufkommenden Industrialisierung betrachtet wurde. Die Melancholie, wie sie etwa in den Werken des deutschen Dichters Rainer Maria Rilke präsent ist. Dieses Gefühl braucht es auch heute, um zur Quelle der Probleme zu gelangen, denen wir uns gegenübersehen», sagt Quesne. Die Absurdität, die «Farm Fatale» prägt, sei für ihn ein Katalysator für die Angst angesichts der bevorstehenden Herausforderungen.
Sich von der Angst nicht lähmen lassen, sondern gemeinsam aktiv werden: Das ist auch der Antrieb hinter «Qui som?» des franko-katalanischen Ensembles Baro d’Evel. Verwoben in Musik, Tanz, Akrobatik und bildender Kunst wird eine Menschheit dargestellt, die ins Taumeln geraten ist und sich gegenseitig Halt geben muss, um einen Sturz zu vermeiden. Irgendwann ergiesst
«Man ist sich im Theater immer stärker neuer Bedrohungen bewusst und arbeitet an Wegen, diese zu inszenieren», sagt Philippe Quesne am Telefon. «Wir alle werden mit einer neuen Realität konfrontiert, in der wir uns erst zurechtfinden müssen. Alles ist miteinander verbunden, daher sollten wir nicht mehr länger territorial denken, um globale Lösungen zu finden. Dieser neuen Realität müssen wir uns gemeinsam stellen. So, wie sich auch die Vogelscheuchen in der Not zusammentun und aktiv werden.»
sich gar eine Flut aus leeren PET-Flaschen über die Darsteller*innen. Auf der Bühne spielt auch Tonerde eine zentrale Rolle. In fliessenden Übergängen entstehen Masken mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken. Vermengt mit Wasser überzieht die Tonerde den Bühnenboden und bringt die Künstler*innen ins Rutschen. So als würde die Erde selbst die Daseinsberechtigung der Menschheit in Frage stellen. Doch im Ton steckt auch das Versprechen auf Veränderung und Hoffnung. «Ton ist eine sinnliche Materie, die sich in unendlich viele Formen verwandeln kann. Wie auch der Mensch ein wandelbares Wesen ist», schreibt die Company auf Anfrage. «Qui som?» ist katalanisch für «Wer sind wir?». «Wobei es weniger darum geht, eine Antwort zu formulieren, als sich vielmehr zu fragen, woran man teilhaben will, zu was man Ja sagt und wie man im Chaos der Welt dieses Ja bewahren kann.» In der Kulturszene habe man sich viel Zeit genommen, um zu verstehen, dass auch sie angesichts der Umweltkrise ihre eigenen Praktiken in Frage stellen müsse, etwa auch die Art, wie ein Werk entstehe.
Wegen eines Sturms evakuiert
Philine Erni, Medienverantwortliche des Theater Spektakels, betont, dass auch die Organisation eines Openair-Festivals den Faktor Klima in ihre Planung einbeziehen muss: «Wetterextreme häufen sich auch bei uns, was beispielsweise die Temperaturen in unseren Räumen oder die Durchführung von Outdoor-Darbietungen beeinflusst.» Diesen Juni musste das Gelände des Festivals Festi’neuch in Neuenburg wegen eines Sturms evakuiert werden, was zeigt, wie real solche Szenarien inzwischen sind. «Die Zusammenhänge sind für uns alle offensichtlicher geworden. Der Klimawandel ist nicht mehr abstrakt, sondern bei uns angekommen, und damit auch auf den Theaterbühnen.»
Oft thematisieren solche Inszenierungen auch soziale Ungleichheiten, die durch Umweltzerstörung oder steigende Temperaturen noch verstärkt werden. Am Theater Spektakel verweist etwa die aus Südafrika stammende Performancekünstlerin Ntando Cele in «Wasted Land» energisch und zornig auf die Verstrickungen zwischen Fast Fashion und Neokolonialismus, während die Brasilianerin Gabriela Carneiro da Cunha in der dokumentarischen Performance «Tapajós» aufzeigt, wie die Verschmutzung des gleichnamigen Flusses durch illegale Goldminen das Überleben eines indigenen Volkes bedroht.
In der Programmübersicht des Theater Spektakels sticht ein Bild der italienischen Fotografin Claudia Manzo aus dem Jahr 2018 hervor: Zwei Touristinnen durchwaten trotz Hochwasser eine Piazza in Venedig, behangen mit den Einkaufstaschen einer Luxusmarke. Theatermacherin Julia Reichert sagt am Telefon: «Dieses Foto drückt aus, wie wir Menschen solange wie möglich eine Normalität behaupten wollen und uns wider besseres Wissen auch an klimaschädliches Verhalten klammern. Und dass wir mit den entsprechenden finanziellen Mitteln in der Lage sind, uns vor Hochwasser oder Hitzewellen in Sicherheit zu bringen. Vielleicht in einem Auto mit Allradantrieb.»
Mit ihr und dem szenografischen Kollektiv Ortreport inszeniert der Berner Künstler und Filmemacher Piet Baumgartner direkt am See eine Live-Performance mit dem vielsagenden Titel «4×4». Eine Auseinandersetzung mit dem SUV, jenem Fahrzeugmodell, das besonders heftig polarisiert, wenn es ums Autofahren und den menschengemachten Klimawandel geht. Julia Reichert sagt: «Uns interessiert diese Absurdität: zu wissen, dass die Welt brennt, aber von Verlustängsten blockiert keine Konsequenzen zu ziehen. Der SUV verkauft eine Illusion von Sicherheit. Er suggeriert Schutz vor einem Notstand, aber kreiert gleichzeitig denselben.»
Für Piet Baumgartner, der auch gelernter Maschinenzeichner ist, sind Maschinen «ein Katalysator für diese Absurdität». Er beleuchtet in seiner Arbeit oft das Zusammenspiel von Mensch und Maschine. So wie jüngst in seinem mehrfach ausgezeichneten Film «Bagger Drama». «Für mich ist der SUV der Donald Trump der Strasse. Er hat eine aggressive Grösse, nimmt im öffentlichen Raum zu viel Platz ein. Ich empfinde Wut, wenn ich einen sehe. Ich bin selbst erstaunt, wie viel Emotionen solch ein Vehikel bei mir auslösen kann. ‹4×4› ist daher auch der Versuch einer Versöhnung mit diesem Monster.» Ein Versuch, der direkt am See an mehreren Festivaltagen live mitverfolgt werden kann.
Zürcher Theater Spektakel: Theaterfestival, 14. bis 31. August, Programm und weitere Informationen unter theaterspektakel.ch
Neun Jahre sucht der Vater, bis er seine Tochter in Tokio findet –dank der Arbeit als Taxifahrer.
Das Gefühl, ausgelöscht zu werden
Kino Das Drama «Une part manquante» von Guillaume Senez befasst sich mit Vätern und Müttern ohne Sorgerecht in Japan. Eine mitreissende Geschichte, die auf Fortsetzung hoffen lässt.
TEXT CÉLINE GRAF
Ein Mann beobachtet, wie eine junge Frau ein Schulhaus betritt. Wir sehen sein Gesicht von der Seite, schräg von der Kamera abgewandt. Dieselbe Einstellung am Fenster eines Schwimmbads. Auch wenn es für Passant*innen danach aussehen könnte, wir sind eingeweiht: Da lauert kein Creep, sondern ein verzweifelter Vater. Der als Taxifahrer jobbende Koch Jérôme hat nach neunjähriger Suche in Tokio seine zwölfjährige Tochter Lily wiedergefunden und folgt ihr durch die Stadt. Eine Weile wird Lily mit dem Taxi zur Schule gefahren, da sie sich den Fuss verletzt hat und an Krücken geht. Jérôme übernimmt ihre Taxiroute temporär, und so lernen sie sich endlich kennen.
Lilys Mutter hatte nach der Trennung von Jérôme alle Verbindungen zu ihm gekappt. Das darf sie: Japan kennt kein gemeinsames Sorgerecht. Was dazu führt, dass viele der jährlich neu hinzukommenden 150 000 Trennungskinder den Kontakt zum Elternteil ohne Sorgerecht verlieren. In seinem neuen Drama «Une part manquante» macht der belgische Regisseur Guillaume Senez auf diese Ungerechtigkeit im japanischen Familienrecht aufmerksam.
In der Realität gibt es neuerdings Grund zur Hoffnung. Im Mai 2024 stimmte das japanische Parlament einer Gesetzesänderung zu. 2026 soll in Japan das gemeinsame Sorgerecht eingeführt werden. «Une part manquante» wurde vorher produziert. Regisseur Senez bleibt nach «Keeper» und «Nos batailles» bei
der anwaltschaftlichen Haltung für die Schwächeren im System. «Une part manquante» gibt verzweifelten Vätern und Müttern eine Stimme, Japaner*innen wie Ausländer*innen, die um ein Wiedersehen mit ihren Kindern kämpfen.
Beleuchtet werden ebenso die Psyche der Betroffenen wie die strengen Institutionen und kulturellen Konventionen, die Jérôme und seinen Schicksalsgenoss*innen zum Verhängnis werden. Sie könnten nur «Geduld haben, Skandale vermeiden und ruhig bleiben», sagt Jérôme (Romain Duris) zur Französin Jessica (Judith Chemla), die in Japan ihr Kind zurückholen will. Sie stösst zur Selbsthilfegruppe, die Jérome und die Anwältin Michiko (Tsuyu Shimizu) für verlassene Eltern und Kinder gegründet haben.
Keine Ausnahme am Geburtstag
Jessica darf ihrem Sohn nicht einmal ein Kuscheltier zum Geburtstag überbringen oder sein Gesicht auf Fotos sehen. Es fühle sich an, als werde sie ausgelöscht, sagt Jessica. Gefühle von Verzweiflung, Ohnmacht und Verletzung fängt der Film oft behutsam ein. Sie brechen nur manchmal aus, etwa als Jessica und Jérôme einen Wut-Raum aufsuchen, wo sie gegen Eintritt ein Büro zertrümmern – eine japanische Erfindung.
In den emotionalen Momenten des Films scheint die improvisierte Arbeitsweise mit den Schauspieler*innen besonders zu fruchten. Der Regisseur lässt sie anfangs ohne Skript ihre Rollen
formen. Erste Takes fliessen bei ihm oft in die Endfassung ein, was die Dialoge durchaus authentischer macht, wenn sich etwa jemand verspricht. Und Chapeau: Der französische Schauspieler Romain Duris hat für den Film Japanisch gelernt.
Die Verlorenen und die Grossstadt passen gut zueinander. «Ich wollte auf keinen Fall in Exotismus verfallen», sagte der Regisseur in einem Interview. Stattdessen porträtiert er Tokio an alltäglichen Orten zwischen Wohnquartieren, Bars und Brücken. Schade nur, lernt man die japanischen Nebenfiguren – die Anwältin, den Buchhändler und Jérômes Taxikollegen, der für ihn den Job riskiert – nicht besser kennen.
Verschwommene Vergangenheit
Wir erfahren auch nicht, warum Jérôme und seine Frau sich getrennt haben. Er erzählt Jessica lediglich, dass er nach der Trennung laut geworden sei und ihre Familie beleidigt habe. Die Beziehung erschliesst sich auch nicht, als Jérôme zufällig seine Ex-Frau und deren Mutter antrifft. Die beiden blocken seine Bitte um Kontakt zu Lily ab. Doch die Ex-Frau scheint zu zögern. War es ihre Entscheidung oder eher die ihrer Eltern? Die Vergangenheit bleibt allzu verschwommen.
Zugleich ist es eine Stärke des Films, dass er Ambivalenzen wagt und verschiedene Facetten des Konflikts zeigt. So setzt Jérôme seine Tochter unter Druck, als er sie ungeduldig fragt, ob sie denn keinen Kontakt zu ihm wolle. Dabei hat Lily (die erste Rolle der jungen Mei Cirne-Masuki) erst jetzt erfahren, dass ihr Vater nicht freiwillig gegangen war und ihre Mutter sie angelogen hat.
Dass Vater und Tochter dann spontan einen glücklichen Tag am Meer verbringen, kommt plötzlich. Über Lilys Perspektive würde man gern mehr erfahren. Doch ihnen läuft – so wollen es Drehbuch und Gesetz – die Zeit davon. Es wäre schön, wenn die Geschichte, jedenfalls wird das angedeutet, eine Fortsetzung hätte.
Weltraum-Antipoden
Buch «Umlaufbahnen» richtet einen Blick auf das Menschsein aus der Perspektive der ISS.
Von den Abenteuern der Forschung ist die ISS, die International Space Station, eines der beeindruckendsten. Siebzehn aneinandergekoppelte Module, die mit dreiundzwanzigfacher Schallgeschwindigkeit durch den Orbit rasen. Sechzehn Erdumkreisungen pro Tag, wobei alle fünfundvierzig Minuten die Sonne aufgeht. Und in dieser Station vier Astronaut*innen und zwei Kosmonauten, zwei Frauen und vier Männer aus den USA, Japan, Grossbritannien, Italien und Russland, die sich im Roman «Umlaufbahnen» der englischen Autorin Samantha Harvey diese zerbrechliche Sardinenbüchse teilen. Neun Monate schwereloses Dahintreiben, während der Kopf anschwillt, der Körper verkümmert und das Herz verwelkt. Kopfüber wie Weltraum-Antipoden, im konstanten freien Fall. Umtost vom Lärm der Lebenserhaltungssysteme und der «dröhnenden Stille des Alls». Wirkliche Tage und Nächte gibt es nicht, nur die 24-Stunden-Uhr verhindert den Verlust der Zeit.
Was macht das mit den Menschen, die sich dieses Leben im permanenten Labor teilen? In dem die kleinen Dinge banal wirken und der atemberaubende Ausblick und die Weltraumspaziergänge überwältigend sind. Dazwischen scheint es nichts zu geben. Was bedeutet es, wenn es von oben gesehen auf der Erde weder Nationen noch Grenzen oder Kriege gibt? Oder wenn von der Menschheit nur das Licht der Städte in der Nacht zu sehen ist. Bei Tag ist sie verschwunden. Und wenn die ISS über dem Ozean schwebt, gibt es nicht einmal nachts etwas, das auf die Anwesenheit von Menschen hinweist.
In der Leere des Alls werden existenzielle Fragen überdeutlich. Die Ferne zur Menschheit vergrössert das Menschsein wie unter einem Mikroskop. Und es ist eine ständige Herausforderung, mit unerfüllbaren Wünschen zu leben. Mit der Sehnsucht nach Wind und Regen, nach Bäumen und Spaziergängen in der Natur, nach Freunden und Familie. Oder zu bewältigen, dass man an der Beerdigung der eigenen Mutter nicht teilnehmen kann. Die täglichen Routinen und Gespräche werden dann zu Rettungsleinen. Und die Gewissheit, Teil von etwas zu sein, das unvergleichlich ist und für das man alles gegeben hat.
Samantha Harvey verwebt in ihrem Roman, der u.a. mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, Beobachtungen, Erinnerungen und Träume zu Meditationen im Rhythmus der Umlaufbahnen. Sachlich und poetisch zugleich. Und schärft mit ihrem Blick auf diesen winzigen künstlichen Trabanten auch das Bewusstsein für unseren Planeten und die Weite und Schönheit des Alls. CHRISTOPHER ZIMMER
«Une part manquante», Regie: Guillaume Senez, Drama, BEL/FR/JPN 2024, 98 Min. Läuft derzeit im Kino.
«Gregory J. Markopoulos. Film as Film, Archive as Creation», bis So, 31. Aug., Mi bis Fr, 12 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Sa/So 11 bis 18 Uhr, Kunsthaus Biel – Centre d’art Bienne, Seevorstadt – Fbg du Lac 71. kbcb.ch / thetemenos.org
Gregory J. Markopoulos war ein griechisch-US-amerikanischer Avantgarde-Filmemacher und ein Kollege bekannter Leute wie Andy Warhol, Rosa von Praunheim und Jonas Mekas. Er filmte nicht nur, sondern war auch Theoretiker und schrieb in der Zeitschrift «Film Culture», um die sich diese Avantgarde-Filmemacher*innen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren gruppierten. Sie bildeten das New American Cinema, das den kommerziellen Hollywoodfilm ablehnte, und benutzten gerne einfache Mittel wie 16mm-Film. Markopoulos bezog sich immer wieder auf die griechische Mythologie, verschob die Motive in einen zeitgenössischen Kontext und suchte eine Verschmelzung von Musik, Malerei und Literatur. 1968 wanderte er nach Europa aus und gründete hier Temenos, ein Archiv für sein eigenes Schaffen. Sein letztes episches Werk «Eniaios» (1948–1990, ca. 80 Stunden) vereint frühe Filme in neuer Anordnung mit neueren Aufnahmen und wird seit 2004 alle vier Jahre im Freiluftkino von Temenos in Griechenland gezeigt. Die Ausstellung in Biel konzentriert sich auf einige der 16mm-Filme, die für «Eniaios» aufgegriffen wurden, und setzt sie mit Dokumenten aus dem Temenos-Archiv in Beziehung. DIF
Als am 11. November 1980 die Reithalle der Kaserne durch die Kulturwerkstatt und Basler Theaterschaffende bespielt wurde – wer hätte da gedacht, dass sich aus diesem Provisorium mal ein so
lebendiges Kulturzentrum entwickeln würde? Längst ist es national und international vernetzt, ein Ort für lokale und internationale Festivals, für Nachwuchs und Etabliertes, prägend für die freie Szene der Schweiz und darüber hinaus. Jetzt wird also gefeiert: Die Kaserne Basel wird 45! Die neue Saison startet am 26. August, es wird wieder viel Tanz geben, Zirkus, Musik, Urban Gardening, Gartentheater, Performance, Figurentheater, Debatten im feministischen Salon und viele Workshops. Den Auftakt der neuen Saison macht das Festival Treibstoff Theatertage (26. bis 31. August). Am 6. September folgt mit «Out & About – Merian Gärten x Kaserne Basel» zum ersten Mal ein Performance-Tag in den Gartenanlagen in Münchenstein (BL). In letzter Zeit wurde in Museen oft das Essen als Kunst neu entdeckt, im Theater ist es nun das Gärtnern. DIF
Bern «KI und Demokratie: welche Zukunft wollen wir?», Ausstellung, Mo 14 bis 18 Uhr, Di bis Fr, 10 bis 18 Uhr, Sa 10 bis 16 Uhr, Polit-Forum Bern, Marktgasse 67. polit-forum-bern.ch Woher wissen wir, wer hinter den KI-Systemen steckt, die wir nutzen? Wie wissen wir, worauf sich KI-Resultate stützen? Was braucht es, damit KI-Systeme die Vorurteile gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Gruppen nicht verstärken, ihre Diskriminierung nicht weiter befördern? Wer trägt die Verantwortung, und wie sollen Herstellung und Nutzung von KI-Systemen reguliert werden? Es stellen sich sehr viele Fragen (und wir sind sicher, ChatGPT könnte sie leicht beantworten). Informationsfluss hatte schon immer auch mit Demokratie zu tun. Wenn die Absender*in nicht mehr fassbar ist, passiert dasselbe auf einem neuen Level. Wer die KI-Systeme programmiert, gestaltet oder mit Informationen füttert, hat einen entscheidenden Einfluss darauf, was sie als Lösungen oder Ideen präsentieren. Aktuell sind dies meist private Firmen. Entwicklung, Anwendung und Nutzung von KI-Technologien sind noch wenig reguliert. Podiumsdiskussion dazu am Mi, 27. August, 18.30 bis 20 Uhr, mit Thomas Hofmann, Vorsteher des Departements Informatik und Leiter Institut für Maschinelles Lernen, ETH Zürich, und Bianca Prietl, Professur für Geschlechterforschung mit Schwerpunkt Digitalisierung und Co-Leitung Zentrum Gender Studies, Universität Basel, Moderation Rafael von Matt, Bundeshausredaktor SRF. Mit Youtube-Livestream. DIF
Basel
«Beyond Labels», Ausstellung, bis So, 24. Aug., nur Mi 17 bis 19 Uhr, Erlenmattplatz. erleperle.ch
Die Fotografin Eva Flury arbeitete lange Jahre in der Basler Gassenküche, und als sie aufhörte, mochte sie nicht einfach ein Abschiedsessen machen. Sie schenkte stattdessen allen Gästen, die das wollten, ein Porträt. In einem zwölfstündigen Fotoshooting liessen sich die Gassenküchenbesucher*innen also fotografieren, und es entstand die Idee für eine Ausstellung. Die Porträtierten sind nicht nur Motive,
sondern auch Mitwirkende, indem sie der Öffentlichkeit als Expert*innen des eigenen Lebens begegnen: Die Fotos geben Einblick in berührende Lebensgeschichten – jenseits von Vorurteilen und Schubladendenken. Phänomene wie Armut, Migration, Obdachlosigkeit oder psychische Erkrankungen werden so neu beleuchtet. Das Projekt ist in Kooperation mit StreetWerk Inklusiv entstanden, einem Verein, der sich für mehr Sichtbarkeit und
Teilhabe von Menschen in prekären Lebenslagen einsetzt. Die Finissage am 24. August (14 bis 18 Uhr) ist verbunden mit einem Workshop von Surprise zum Thema Armut und Ausgrenzung. DIF
Lan g enbruck BL «Richard Long», Ausstellung, bis So, 7. Dez., Fr / Sa / So und Feiertage, 11 bis 18 Uhr (ab 24. Okt. 11 bis 17 Uhr), Skulpturenpark durchgehend geöffnet, Kloster Schönthal, Schönthalstrasse 158. schoenthal.ch
Das Kloster Schönthal bei Langenbruck im Oberbaselbiet liegt inmitten von hundert Hektaren Wald, Wiesen und Juralandschaft. Das ehemalige Benediktinerkloster ist heute ein kultureller Begegnungsort, an dem Kunst und Natur in Dialog treten. Kein Geringerer als der renommierte britische LandArt-Künstler Richard Long (geb. 1945) zeigt, wie das zum Beispiel geht: Im Kirchenraum hat er die ortsspezifischen Arbeiten «Time out of Mind» und «Schönthal Circle» geschaffen, im Klosterhof entstand aus zwölf Tonnen bläulich-schwarzem Balzner Marmor «A Bend in a River». Die Werke werden neben weiteren Arbeiten aus früheren Schaffensperioden von Richard Long gezeigt. Ausserdem: Das Kloster hat einen frei zugänglichen Skulpturenpark, und am 31. August gibt’s ein Herbstfest. DIF
Tour de Suisse
Pörtner in Brugg
Surprise-Standort: Neumarkt
Einwohner*innen: 13 562
Sozialhilfequote in Prozent: 3,1
Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 32,8
Geschichte: 1892 errichtete die Schweizerische Nordostbahn (NOB) beim Bahnhof Brugg einen Schuppen zum Unterhalt von Dampflokomotiven
«Zurück zum Beton!», forderte die deutsche Punkband S.Y.P.H. Hier wäre sie angekommen, der Weg nach Brugg führt am Gelände einer Betonfabrik vorbei. «Zurück zur Kabelspule!», hat noch niemand gefordert, aber auch diese meterhohen Gebilde, die mit Spezialfahrzeugen transportiert werden, gibt es hier in grossen Mengen. Das Unternehmen, das die darauf zu wickelnden dicken Kabel herstellt, heisst Brugg Kabel AG. Noch funktioniert die Welt nicht kabellos. Zu dem Werkgelände gelang man durch eine Unterführung, in der das Wasser durch einen Kanal fliesst.
Auf der anderen Seite angekommen, erwartet einen ein Imbiss mit asiatischen Spezialitäten. Ein Kopfsteinpflasterweg führt zwischen alten Häusern mit Gemü
segärten hindurch, die teilweise Selbstversorgungsdimensionen aufweisen. Gartentore scheinen nicht notwendig zu sein. Weiter hinten wird auf der Strasse Fussball gespielt. Vorne steht der Campus der Fachhochschule, die sich allenfalls schon auf dem Gemeindegebiet von Windisch befindet. «Ich sehe was, was du nicht siehst», ist in den Zaun einer kleinen, blühenden Wiese gestickt, auf der unter anderen die Gelbe Wiesenameise wohnt.
Mit einem Plakat mahnt das lokale Modehaus, dass der Onlinehandel die menschlichen Kontakte zerstöre, was schwer zu bestreiten ist. Die Schaufensterpuppen sind stilvoll gekleidet, die Perücken etwas in die Jahre gekommen. Nebenan liegt ein Sammelsurium von
Flaschen, Töpfen und Stofftieren im Schaufenster. Vor der DampfschiffBar stolpert ein junger Mann über einen tückisch im Weg liegenden Kipppfosten.
Die Fussgängerzone gleich hinter dem Bahnhof ist dem Onlinehandel noch nicht zum Opfer gefallen, auch wenn so ein wuchtiges Betongebäude heute wohl nicht mehr gebaut würde. Die Parkhauseinfahrt ist mit einem Brunnen kombiniert. Etwas weiter vorne steht die City Galerie, ein ehemaliges Einkaufszentrum, leer. Der Platz vor der Bank ist ebenfalls leer, nur an der einen Seite gibt es einen Imbiss mit Aussentischen. Das Hotel Rotes Haus ist mit «Kirche neu erleben» beschriftet, beherbergt aber auch eine Pizzeria.
Begibt man sich Richtung Fluss, wandelt man zeitweilig auf dem Mozartweg vorbei an einem Brunnen, vor dem sich Kompostkübel versammelt haben, und gelangt schliesslich auf die namensgebende Brücke mit dem Schwarzen Turm, der zwar nicht schwarz, aber alt ist. Unter der Brücke tost die Aare erstaunlich wild zwischen den Mauern hindurch.
In der Altstadt gibt es die HavannaBar und ein philippinisches Restaurant, die Häuser heissen Schwarzer Widder, Roter Bären oder Goldener Adler, dazwischen hat sich der Heilige Fridolin geklemmt. Die Lokalzeitung hat hier ihr Büro, es gibt einen Plattenladen, der aber nur in der zweiten Wochenhälfte offen hat, im Gegensatz zum Geschäft mit den schönen und praktischen Haushaltsartikeln. Etwas weiter vorne gibt es ein Fachgeschäft für HiFiGeräte, in dem junge Menschen Vinylplatten durchstöbern und sie zum Anhören an die Verkaufstheke bringen. Eine knapp am Untergang vorbeigeschrammte Tradition, die im Onlinehandel nicht bestehen kann.
STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher
Schriftsteller Stephan Pörtner besucht
Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
Die 25 positiven Firmen
Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.
Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.
Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken
Stahel & Co. AG, Der Maler fürs Leben. ZH a energie ag, Schüpfen
Afondo Consulting, Adrian Hässig - Coach
Gemeinnützige Frauen Aarau
Gemeinnütziger Frauenverein Nidau
Schweiz. Philanthropische Gesellschaft Schreinerei Beat Hübscher, Zürich Lebensraum Interlaken GmbH
Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag (max. 40 Zeichen inkl. Leerzeichen). Sie erhalten von uns eine Bestätigung.
SURPLUS – DAS
NOTWENDIGE EXTRA
Das Programm
Wie wichtig ist Ihnen Ihre
Unabhängigkeit?
Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.
Eine von vielen Geschichten Lange bemühte sich Haimanot Mesfin um eine feste Arbeitsstelle in der Schweiz, doch mit einem F-Ausweis sind die Chancen klein. Sozialhilfe kam für sie nie in Frage – sie wollte stets selbstständig im Leben auskommen. Aus diesem Grund verkauft Haimanot Mesfin seit über zehn Jahren das Surprise Strassenmagazin am Bahnhof Bern. Dort steht sie bereits früh morgens und verkauft ihre Magazine. Das Begleitprogramm SurPlus unterstützt sie dabei mit einem ÖV-Abo sowie Ferienund Krankentaggelder. Dank der Begleitung auf dem Berner Surprise-Büro hat sie eine neue Wohnung gefunden. Nach langer Zeit in einer 1-Zimmer-Wohnung haben sie und ihr Sohn nun endlich etwas mehr Platz zu Hause.
Weitere Informationen gibt es unter: surprise.ngo/surplus
Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende
Derzeit unterstützt Surprise 30 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.
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Lea Stuber (lea) Sara Winter Sayilir (win), Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp), Esther Banz (eb) T +41 61 564 90 70 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
Ständige Mitarbeit
Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Hanna Fröhlich, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Ralf Schlatter, William Stern, Priska Wenger, Christopher Zimmer
Mitarbeitende dieser Ausgabe
Pirmin Beeler, Yordanos Berhe, Roman Deckert, Jonas Frey, Céline Graf, Kira Kynd, Helena Lea Manhartsberger, Mina Roth, Laila Sieber
Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.
Gestaltung und Bildredaktion
Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik
Druck
AVD Goldach
Papier
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Auflage 22 300
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#603: 30 Jahre danach
«Hat mich überzeugt»
Ich kaufe mir das Heft Nr. 603, wie immer vom besten Verkäufer ever … (er weiss, dass er gemeint ist). Ich freue mich auf die Lektüre, lese nacheinander die Artikel über den Völkermord in Srebrenica und dann denjenigen über die Begegnung im Zug, Orte der Begegnung, beide von Klaus Petrus. Was für ein klasse Mann, dieser Journalist, denke ich! Alles, was ich bis jetzt von ihm gelesen habe, hat mich überzeugt. Grosses Kompliment, ich bin Fan!
S. KÄLIN, ohne Ort
#604: Literaturaus g abe Licht «Mein neues Origamiwerk»
Einmal mehr gab es nebst spannenden Geschichten wunderschönes, buntes Papier. Das wollte wiederverarbeitet werden! Hier ist mein neues Origamiwerk.
SARA SENN, Aarau-Rohr
#602: Sie kicken anders «Menschen, die sich engagieren»
Vielen Dank für das tolle Heft. Ich bin kein Fussballfan, aber total begeistert von eurem Heft. So wichtig es ist, all dem Schwierigen und Ungerechten ins Auge zu sehen und darüber zu berichten, braucht es doch auch immer wieder Berichte über all die wunderbaren Geschichten von und über Menschen, die sich engagieren, sich selbst ermächtigen oder andere Menschen darin unterstützen. Ich hatte viel Freude beim Lesen. Es tut so gut zu wissen, dass es überall viele Menschen gibt, die gemeinsam daran arbeiten, dass die Welt trotz all den Widrigkeiten menschlich bleibt.
CLAUDIA PETER, ohne Ort
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«Meine Töchter helfen mir immer»
«Ich habe mehr als fünf Jahre in der Reinigung gearbeitet. Einerseits war ich bei einer Reinigungsfirma angestellt, andererseits in einem Schulhaus im Hort. Beides zusammen war schlussendlich zu viel, da ich an Rheuma leide. Ich habe dann eine Invalidenrente von 50 Prozent bekommen. Dies reichte aber nicht zum Leben aus, deswegen musste ich noch eine andere Arbeit suchen. In der Reinigung konnte ich nicht weiter arbeiten wegen des Rheumas, deswegen bin ich jetzt bei Surprise.
Im Sommer verkaufe ich gerne und viele Hefte. Im Winter habe ich Schwierigkeiten, weil es kalt ist, das Rheuma wird schlimmer und ich kann kaum rausgehen. Deswegen liebe ich Sommer und Wärme.
Ich mag meine Kund*innen. Ich möchte gerne in die Schule gehen und Deutsch lernen. Ich habe zwei Töchter, sie sind 25 und 26 Jahre alt. Oft müssen sie Dinge für mich übersetzen. Könnte ich besser Deutsch, so könnte ich auch meine Kund*innen besser kennenlernen.
Meine Familie ist mir sehr wichtig. Ich liebe meine Töchter. Sie helfen mir immer, sie sind immer für mich da. Sie lesen die Briefe für mich, die ich erhalte und die ich teils nicht verstehe, weil sie kompliziert geschrieben sind. Diese Briefe stressen mich. Meine Töchter helfen mir auch bei meiner Gesundheit. Wir schauen gemeinsam, welche neuen Möglichkeiten es gibt, die mir wegen meines Rheumas helfen können. Sie glauben daran, dass ich gesund werden kann. Das gibt mir Mut.
Ich komme nicht so viel aus dem Haus, würde aber gerne aktiver sein und Dinge unternehmen. Deswegen freut es mich, dass ich beim Malprojekt von Surprise mitmachen konnte. Wir haben uns über sechs Wochen hinweg immer wieder zum Malen getroffen. Ich konnte dort etwas Neues lernen. Das Malen hat mir grossen Spass gemacht. Damit mache ich jetzt auch nach Abschluss des Projekts weiter – und zwar alle zwei Wochen. Anfangs hatte ich mich etwas unter Druck gesetzt und wusste nicht, was ich aufs Blatt bringen soll. Dann hat mir die Kursleiterin gesagt, ich soll einfach mal die Augen schliessen, mich entspannen und ohne nachzudenken ‹Chabis› aufs Blatt bringen. Danach ging alles einfacher. Am Ende habe ich viele Bilder gemalt.
Ich würde gerne Velo fahren lernen. Ich besitze aber leider noch kein Velo. Letztens habe ich Yoga in einem Kurs beim Hardplatz gemacht, das zwei Freiwillige anbieten. Das finde ich ein gutes Angebot. Ich würde gerne weiterhin hingehen.
Yordanos Weldemicael, 54, verkauft Surprise in Zürich beim Coop am Albisriederplatz, beim Bahnhof Hardbrücke und beim Coop Pronto am Klusplatz. Sie möchte unbedingt noch Velo fahren lernen.
Ansonsten gehe ich jeden Sonntag in die Kirche unserer Community in Wetzikon. Religion nimmt in unserer Kultur einen grossen Platz ein, sie gibt mir Kraft. Geboren und aufgewachsen bin ich in Asmara in Eritrea. In der Schweiz bin ich seit 2011. Ich bin damals mit den beiden kleinen Mädchen in die Schweiz geflüchtet. Wir haben dazwischen zuerst zwei Jahre im Sudan und dann zwei Jahre in Libyen gelebt. Wenn ich arbeiten gehen musste, dann musste ich meine beiden Töchter in die Obhut fremder Leute geben. Das fand ich schwierig.
Wenn ich daran zurückdenke, geht es mir in der Schweiz verhältnismässig gut. Auch meine Töchter fühlen sich hier wohl. Flucht ist allgemein etwas Schwieriges. Alles hinter sich zu lassen, was einem wichtig ist, das ist wirklich nicht einfach. Meine Mutter habe ich seit der Flucht nicht mehr gesehen, ich vermisse sie sehr. Die Möglichkeit, sie zu besuchen, gibt es leider nicht. Wegen des Aufenthaltsstatus, und finanziell ist es sowieso nicht machbar.»
Aufgezeichnet von HANNA FRÖHLICH
FOTO: BODARA
Café Surprise – eine Tasse Solidarität
Zwei bezahlen, eine spendieren
Café Surprise ist ein anonym spendierter Kaffee, damit sich auch Menschen mit kleinem Budget eine Auszeit im Alltag leisten können. Die spendierten Kaffees sind auf einer Kreidetafel ersichtlich.
GESUCHT: DER FAN-SCHAL FÜR DIE NATI 2025!
Surprise nimmt im August 2025 mit zwei StrassenfussballNationalteams am Homeless World Cup in Oslo, Norwegen, teil – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler*innen zum Handshake handgemachte Fanschals an die gegnerischen Teams. Machen Sie mit!
Der Schal sollte zirka 16 cm breit und 140 cm lang sein, Fransen haben und in Rot und Weiss gehalten sein. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht!
Bitte schicken Sie den Schal bis spätestens Mo, 18. August 2025 an: Surprise Strassenfussball, Münzgasse 16, CH-4051 Basel