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Sucht

Die BĂŒrde

Ihre Eltern nahmen Drogen, sie wollte die Finger davon lassen. Doch dann stĂŒrzte sie ab. Heute ist Eliska clean.

Seite 8

Strassenmagazin Nr. 576 31. Mai bis 13. Juni 2024
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offiziellem Verkaufspass davon gehen
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Bild: Marc Bachmann Ermöglichen Sie Selbsthilfe. Spenden Sie jetzt. Spendenkonto: Verein Surprise, CH-4051 Basel IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 www.surprise.ngo SURPRISE WIRKT GEGEN ARMUT UND AUSGRENZUNG

Chancen

«Ich habe mir von Anfang an geschworen, niemals Drogen zu konsumieren, weil es fĂŒr mich schlimm war, dass meine Eltern das gemacht haben», sagt die 21-jĂ€hrige Eliska. Und trotzdem – oder deswegen –stĂŒrzte sie schon als Teenager brutal ab. In der RĂŒckschau könnte man sagen: Mit einer Mutter, die heroinsĂŒchtig gewesen war, und einem Vater, der bis heute Koks nimmt, hatte Eliska nur wenig Chancen. Ihr Weg in die Drogen war wie vorgezeichnet. Aber ist es wirklich so einfach? Das Beispiel von Eliska, die heute clean ist, zeigt, wie brĂŒchig und kantig BiograïŹen sein können. Lesen Sie das berĂŒhrende PortrĂ€t ab Seite 8.

Überhaupt keine Chance hatten mehrere hundert Migrant*innen an Bord des Schiffes «Adriana», das im vergangenen Juni im Mittelmeer sank. Sie werden bis heute vermisst. Inzwischen steht aufgrund der Beweislage die griechische KĂŒstenwache im Verdacht, das Schiff zum Kentern gebracht zu haben; auch die Rolle

4 Aufgelesen

5 Stichwort Leistungsgesellschaft

5 Vor Gericht Obdachlos: verboten

6 VerkÀufer*innenkolumne Wann wird das Klima mal wieder prima?

7 Die Sozialzahl Alters- und Pflegeheime im Wandel

8 Sucht «Ich hatte Himmel und Hölle vor mir»

14 Orte der Begegnung Herr Siegenthaler ist immer da

16 Migration Chronik eines beabsichtigten Todes

22 Sans-Papiers Keine Hilfe fĂŒr Memet

der EU-Grenz- und KĂŒstenwache Frontex wirft Fragen auf. Stattdessen standen diese Tage neun ĂŒberlebende Migrant*innen vor Gericht. Sie wurden des «Schleppertums» beschuldigt, aber sind inzwischen frei. Wir rekonstruieren die Schiffskatastrophe von A bis Z, ab Seite 16.

Mit diesem Heft beginnen wir die Serie «Orte der Begegnung» – eine LiebeserklĂ€rung an RĂ€ume, PlĂ€tze und Ecken in unserer Gesellschaft, wo Menschen sich treffen, ohne dass sie sich extra dafĂŒr verabreden. Wo sie einander nĂ€herkommen oder auf Distanz bleiben, wo sie sich austauschen oder fĂŒr sich sind, wo sie verweilen oder nur fĂŒr kurze Zeit bleiben. Den Auftakt macht ein Migros-Restaurant in Bern, ab Seite 14. Kennen auch Sie solche Orte? Dann schreiben Sie uns an redaktion@strassenmagazin.ch.

24 Kunst Wer von euch kennt es auch?

26 Veranstaltungen

27 Tour de Suisse Pörtner in WĂŒrenlingen

28 SurPlus Positive Firmen

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

30 Surprise-PortrĂ€t «Zum GlĂŒck kann ich trotzdem arbeiten»

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Editorial
TITELBILD: JOEL HUNN
KLAUS PETRUS Redaktor

Aufgelesen

News aus den ĂŒber 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 LĂ€ndern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Diverse EhrenmĂŒnzen

AnlĂ€sslich des hundertjĂ€hrigen JubilĂ€ums des Frauenwahlrechts in den USA vor drei Jahren kommen nun neue SammlermĂŒnzen auf den Markt: ZusĂ€tzlich zu Lady Liberty, der Indigenen Sacagawea und der Frauenrechtlerin Susan B. Anthony werden 20 weitere prominente «superdiverse» USAmerikaner*innen auf der RĂŒckseite von US-Quartern zu entdecken sein. Von jeder dieser MĂŒnzen gibt es durchschnittlich 500 Millionen. Die Vorderseite wird eine nach rechts gerichtete Ansicht von George Washington zeigen. Dieses vom ĂŒblichen Quarter abweichende Motiv wurde ursprĂŒnglich von einer Frau, Laura Gardin Fraser, entworfen und 1932 anlĂ€sslich des 200. Geburtstags von Washington eingereicht. Der damalige Finanzminister Andrew Mellon entschied sich damals aber fĂŒr den Entwurf des mĂ€nnlichen Gegenbewerbers.

Zu wenige Wohnungen

In Deutschland haben 2023 laut einer Studie mehr als 700 000 Wohnungen gefehlt – besonders Sozialwohnungen und gĂŒnstige Wohnungen sind rar geworden. Deswegen hat die Bundesbauministerin Klara Geywirth (SPD) sich bereits vor einigen Jahren zum Ziel gesetzt, jĂ€hrlich mindestens 400 000 Wohnungen zu bauen. Bisher ist man allerdings weit davon entfernt: Im Februar dieses Jahres wurden 18 200 Wohnungen gebaut, das wĂ€re hochgerechnet lediglich etwas mehr als die HĂ€lfte der Zielvorgabe.

Zu viele Übergriffe

80 Straftaten von Rechts gegen GeflĂŒchtete – das ist die erschreckende Bilanz des FlĂŒchtlingsrats Baden-WĂŒrttemberg. Was der Verein, vielleicht wenig ĂŒberraschend, auch herausgefunden hat: Rechte Gewalt gegen geflĂŒchtete Menschen passiert nicht unabhĂ€ngig vom politischen und medialen Diskurs, sondern wird durch diesen vielmehr mitverursacht.

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TROTT-WAR, STUTTGART
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OSCARŸ-GEWINNERIN BESTE HAUPTDARSTELLERIN 2022 BESTER SCHAUSPIELER FILMFEST VENEDIG 2023 «Eine komp l exe un d ein d rin gl ic h e Sc h auspie ll eistun g von Jessica C h astain.» D EADLINE
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g espie l t mit ĂŒ b erra g en d em Fein ge fĂŒhl und Reife.» T HE G UARDIA N AB 6. JUNI IM KIN O ANZEIGE BILDER: ZVG(2 )
HINZ & KUNZT, HAMBURG
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Ein Film von
ICHE L FRANCO
«Eine f
Geschichte,

Stichwort

Leistungsgesellschaft

Der American Dream geht so: Alle können es schaffen! Wenn sie sich nur genĂŒgend anstrengen, können sich alle den Aufstieg verdienen – mit allem, was dazugehört, Ansehen und Reichtum. Im Umkehrschluss heisst das: Diejenigen, die es nicht schaffen, sind selber schuld. Das ist auch die Logik der Leistungsgesellschaft, und sie ist natĂŒrlich nicht richtig. Denn das Arbeitstempo zieht an, die Startchancen und das Kapital sind unterschiedlich verteilt, und was vielleicht Chance sein könnte, wird zunehmend zum Druck. Leistung ist oft die Voraussetzung dafĂŒr, dass der*die Einzelne an der Gesellschaft teilhaben kann. Aber immer mehr können nicht mithalten.

Welche Folgen das hat, erfahren Sie im Kornhausforum Bern. DIF

Vor Gericht

Obdachlos: verboten

Vielleicht sind Ihnen die Bilder vertraut, von den ZeltstĂ€dten in den StĂ€dten der USA, wo sich Obdachlose einrichten. Auf Trottoirs, in Parks, unter Plastikplanen, auf Kartonbetten und verschlissenen Kissen. Kein RandphĂ€nomen: GemĂ€ss offiziellen SchĂ€tzungen leben in den USA derzeit um die drei Millionen Menschen in NotunterkĂŒnften und etwa 650000 ganz auf der Strasse. Tendenz stark steigend. Denn gĂŒnstiger Wohnraum schwindet, die Lebenshaltungskosten gehen in die Höhe, die Löhne nicht. Besonders gravierend ist die Situation in den Bundesstaaten der WestkĂŒste. Dort ringen die Behörden um Lösungen. Dabei kamen einige Kommunen auf die Idee, Obdachlosigkeit ganz einfach zu verbieten.

zuletzt der Bundesberufungsgerichtshof. Einerseits weil dies einer ungewöhnlich grausamen Bestrafung gleichkomme. Anderseits stĂŒtzten sich die Gerichte auf ein Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs der USA, dem Supreme Court, aus dem Jahr 1962, wonach zwar ein Verhalten (wie Drogenkonsum) verboten werden kann, nicht aber ein Status (wie DrogenabhĂ€ngigkeit).

Doch Grants Pass will die harte Gangart durchsetzen. Zusammen mit weiteren Regierungen haben sie die Sache vor den Supreme Court gebracht. In der mĂŒndlichen Anhörung vom 22. April beharrten sie darauf: Besonders betroffene Staaten brĂ€uchten flexible Regeln in dieser Krise, um eine Handhabe bei gefĂ€hrlichen und unhygienischen LagerplĂ€tzen zu haben. Die Verordnung wĂŒrde Menschen dazu motivieren, freie PlĂ€tze in ObdachlosenunterkĂŒnften anzunehmen.

Besuchen Sie die Ausstellung «Wie Strassenzeitungen Leben verÀndern» im Kornhausforum Bern und erfahren Sie mehr. LÀuft bis am 3. August.

Zum Beispiel Grants Pass, eine Kleinstadt im SĂŒden Oregons mit 40000 Einwohner*innen, wo rund 1000 Menschen kein Zuhause haben. Dort wird fĂŒr das Übernachten auf öffentlichem Grund ein Bussgeld von 295 Doller erhoben. Im Wiederholungsfall können gar Geldstrafen von 1250 Dollar oder Freiheitsstrafen von bis zu 30 Tagen ausgesprochen werden. Es gehe darum, erklĂ€rte die StadtprĂ€sidentin bei der EinfĂŒhrung der Verordnung, es fĂŒr Obdachlose in Grants Pass so ungemĂŒtlich zu machen, dass sie weiterziehen.

Mithilfe von NGOs formierte sich juristischer Widerstand gegen die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit. Ist ein solches Vorgehen zulĂ€ssig? Zumal die Stadt auch keine Notschlafstelle zur VerfĂŒgung stellt? Nein, sagten bislang alle Gerichtsinstanzen,

Das leuchtete selbst dem extrem konservativen, von Donald Trump ernannten Richter Brett Kavanaugh nicht ein: «Wie soll das helfen, wenn es gar nicht genug Betten gibt?» Auch seine linke Kollegin Sonia Sotomayor fragte: «Wo sollen die Menschen denn hin, wenn jede Stadt, jede Gemeinde ein Àhnliches Gesetz verabschiedet?» Ob sie sich denn umbringen sollen, durch Schlafentzug? Das, antwortete die AnwÀltin, die Grants Pass vertritt, sei keine juristische, sondern eine politische Frage.

Da hat sie allerdings Recht. Nur hat die Politik ihre Antwort darauf lĂ€ngst gegeben: PrioritĂ€t haben fĂŒr sie nicht NotunterkĂŒnfte und bezahlbare Mieten und Löhne, die zum Leben reichen. Sondern das angenehme Leben jener, denen es ohnehin gut geht. Nicht nur in den USA. Das Urteil des Supreme Court wird im Juni erwartet.

YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in ZĂŒrich.

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
STRASSEN ZEITUNGEN 17.05.03.08. DAS GESAMTE PROGRAMM AUF WWW.KORNHAUSFORUM.CH EINE AUSSTELLUNG IM KORNHAUSFORUM BERN IN ZUSAMMENARBEIT MIT WIE LEBEN VERÄNDERN CHANGE LIVES HOW

VerkÀufer*innenkolumne

Wann wird das Klima mal wieder prima?

Da ist eine Mutter die zu ihrem Kinde schaut

Ihr LÀcheln ist dem Kleinen so gÀnzlich vertraut

Die Mutter heisst Zukunft das Kind weiss es genau

Doch die Sonne brennt scharf und der Wind ist so rauh

Ein Sturm braust heran will fortfegen das Haus

Habe Kopf, habe zwei HĂ€nde Mit dem Kopf geh ich durch WĂ€nde Und die Hand, die handelt prompt: HĂ€ndigt sich ein Werkzeug Erschafft selbst, ganz von selbst, was es zum Leben braucht Ist da auch ein Vater der zum Kinde schaut?

Kreidebleich wird der Kleine er denkt sich: Jetzt raus!

Jetzt raus.

Raus in eine neue Welt. Wo HÀndedruck ein Augenzwinkern ein LÀcheln zÀhlt.

Eine Welt der Zuversicht

Zu - ver - Sicht

Sehen: Ja, wir packens Notfalls schaff ichs sogar allein

NICOLAS GABRIEL, 59, verkauft Surprise an der Uraniastrasse ZĂŒrich. Mit bestem Dank fĂŒr den Anstoss zum Thema Klima an Michael Hofer, ebenfalls VerkĂ€ufer*innenKolumnenschreiber.

Die Texte fĂŒr diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und dem Autoren Ralf Schlatter erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

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ILLUSTRATION: FABIAN MEISTER

Alters- und PïŹ‚egeheime im Wandel

2022 lebten in der Schweiz gerade mal 14 Prozent der ĂŒber 80-JĂ€hrigen in einem Alters- und Pflegeheim (APH). Bei rund der HĂ€lfte der Bewohner*innen betrug die Aufenthaltsdauer weniger als ein Jahr. Nur ein Zehntel der MĂ€nner und ein FĂŒnftel der Frauen leben mehr als fĂŒnf Jahre in einem APH. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich ein tiefgreifender Wandel der Altersund Pflegeheime, der unter dem Druck der demografischen und sozialen Entwicklung immer deutlicher an Kontur gewinnt.

Die APH werden immer mehr zu Hospizen. Das Eintrittsalter in die Pflegeheime steigt seit Jahren kontinuierlich an, die durchschnittliche Aufenthaltsdauer sinkt. FĂŒr die Pflegeheime bedeutet dies, dass sie ihr Personal im Bereich der palliativen Betreuung und Pflege aus- und weiterbilden mĂŒssen. Die Begleitung in der letzten Lebensphase ist eine medizinische und psychosoziale Aufgabe zugleich. Darum braucht es nicht nur Pflegefachpersonen, sondern auch Fachpersonen aus Sozialen Berufen, um dieser Herausforderung gerecht zu werden.

Die APH werden auch immer mehr zu ArmenhĂ€usern. Ältere Menschen möchten verstĂ€ndlicherweise so lange wie möglich in ihrer eigenen Wohnung und in ihrem gewohnten sozialen Umfeld bleiben. Wer ĂŒber genĂŒgend finanzielle Mittel und ein eng gestricktes soziales Netz verfĂŒgt, dem gelingt dies besser als vulnerablen Ă€lteren Menschen, die weder genug Geld haben, um sich UnterstĂŒtzungsleistungen einkaufen zu können, noch ĂŒber tragfĂ€hige Beziehungen verfĂŒgen, die ihnen zu Hilfe

kommen könnten. FĂŒr die Pflegeheime bedeutet dies, dass sie ihr Betreuungsangebot ausbauen mĂŒssen, weil bei vielen dieser Personen kaum mit regelmĂ€ssigen Besuchen von Angehörigen oder von Freund*innen gerechnet werden kann.

Schliesslich werden die APH immer mehr zu Demenzstationen. Mit steigender Lebenserwartung nimmt auch das Risiko einer dementiellen Erkrankung zu. Viele Menschen mit diesem Krankheitsbild leben noch daheim und werden von ihren Lebenspartner*inen sowie von Angehörigen umsorgt. Doch es kommt der Tag, an dem die Situation so belastend wird, dass ein Übertritt in ein APH unvermeidlich ist. FĂŒr die Pflegeheime bedeutet dies, dass der Anteil der Bewohner*innen mit einer dementiellen Erkrankung dominant wird. Diese Menschen leben lĂ€nger als andere in den APH und brauchen mehr und andere Formen der psychosozialen Betreuung. Diese kann nur mit zusĂ€tzlichem und entsprechend gut ausgebildetem Personal gewĂ€hrleistet werden.

Der hier skizzierte Wandel der APH lÀuft auf einen zentralen Punkt hinaus: Es braucht mehr Personal mit speziellen Ausbildungen, und dies nicht nur im pflegerischen Bereich, sondern ganz besonders im Bereich der Betreuung. Ohne die Soziale Arbeit werden die APH ihren Aufgaben auf Dauer nicht mehr gerecht werden können.

Dauer der Aufenthalte in Alters- und PïŹ‚egeheimen, Anteile nach Geschlecht, 2022

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule fĂŒr Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Surprise 576/24 7 1 bis 3 Jahre Weniger als 1 Jahr Mehr als 5 Jahre 3 bis 5 Jahre MĂ€nnerFrauen 56,3 % 42,7 % 24 % 15,1 % 18,2 % 23,2 % 10,8 % 9,7 % INFOGRAFIK: BODARA QUELLE: QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2024) . STATISTIK DER SOZIALMEDIZINISCHEN INSTITUTIONEN. NEUCHÂTEL. Die Sozialzahl

«Mami, ech mage nöm, ech wott hei»

Sucht Ihre Mutter hat Heroin konsumiert, ihr Vater konsumiert Kokain. Auch Eliska, 21, nahm harte Drogen, jetzt ist sie clean.

Als Eliska (Name geĂ€ndert) am 11. September 2002 geboren wurde, waren der Platzspitz und der Bahnhof Letten in ZĂŒrich lĂ€ngst Geschichte. 1992 war der Platzspitz gerĂ€umt worden, 1995 dann auch der Letten und damit eine der grössten offenen Drogenszenen im Europa der 1990er-Jahre. Eliska kam nicht, wie andere Platzspitzkinder, mit einem ersten Rausch auf die Welt. Ihre Mutter hatte es schon einige Jahre vor der Schwangerschaft aus der Sucht herausgeschafft.

Geht das ĂŒberhaupt: nicht in den Drogen zu landen, wenn die eigenen Eltern harte Drogen genommen haben oder noch immer nehmen?

Ich habe mir von Anfang an geschworen, niemals Drogen zu konsumieren, weil es fĂŒr mich schlimm war, dass meine Eltern das gemacht haben. Als ich kiffte, versprach ich mir selber: Ich werde nie harte Drogen konsumieren, denn meine Mutter hat Heroin genommen und mein Vater nimmt Koks. Nach dem ersten Koksen habe ich mir gesagt: Gut, mein Vater kokst ja nicht, er baset. Also werde ich nie basen. Bullshit.

Mit 13 Jahren zum ersten Mal Alkohol. Kiffen mit 14, mit 15 die Partydroge MDMA und Amphetamin, mit 16 Kokain. Gerauchtes Kokain, also Base, mit 17 und mit 18 Heroin. Und nun ist Eliska seit Dezember 2021 clean.

Bis vor kurzem lebte sie in Oberbuchsiten, am JurasĂŒdfuss zwischen Solothurn und Olten, wo das Dorfleben plĂ€tschert und die Autobahn rauscht. In einer Institution wohnte Eliska erst in der WG, danach in einer Wohnung. Ein Wohnzimmer mit offener KĂŒche, ein Schlafzimmer, ein Gartensitzplatz. Auf dem Tisch der Wochenplan, unterschrieben von Eliska und

TEXT LEA STUBER FOTOS JOËL HUNN

einer Mitarbeiterin. Besuch muss sie anmelden, Alkohol ist nicht erlaubt. An vier halben Tagen arbeitet Eliska in der NĂ€he von Olten im Garten und im Textilatelier eines Sozialunternehmens.

Meine Mutter ist seit ĂŒber 20 Jahren clean, mein Vater ist immer noch drauf. Ich hatte Himmel und Hölle vor mir. Ich habe mir gesagt: Ich will nicht so wie mein Vater enden, mit 61 immer noch konsumieren. Sicher nicht.

Die Mutter hat ihr gesagt: Eliska, ich will dich vor dem bewahren, was ich gemacht habe.

Wie meine Mutter zum Heroin gekommen ist, weiss ich nicht genau. Ich bin ihre Tochter, sie will mich nicht belasten mit solchen Sachen. Ich nehme an, es war wie bei den meisten SĂŒchtigen: Man rutscht rein. Durch Freund*innen, ein falsches Umfeld.

Kindheit

Die Familie wohnte in einer umgebauten Scheune auf dem Land im Kanton Luzern, die Nachbar*innen lebten einen Kilometer entfernt. Eliska kletterte auf BĂ€ume und half einem Bauern, HĂŒhnereier einzusammeln. Einmal hatte sie zehn junge KĂ€tzchen, weil zwei Katzen gleichzeitig trĂ€chtig geworden waren. Auch Meerschweinchen hatten sie und einen Hund, mit dem Eliska kuschelte und dem sie beibrachte, Menschen die Socken auszuziehen.

Die Mutter arbeitete im Nachtdienst als diplomierte Pflegefachfrau. Der Vater war OrthopÀdieschuhmacher und brachte Eliska am Morgen zur Tagesmutter, bevor er zur Arbeit ging. Eines Morgens, als die Mutter heimkam, lagen die Base-Utensilien verstreut auf dem Couchtisch. Statt bei der

Tagesmutter war Eliska noch zuhause und der Vater schlief.

Schon frĂŒher hatte er Eliska zu Dealern mitgenommen, hatte sie alleine im Auto gelassen, hatte sie nachts, die Mutter arbeitete, alleine gelassen. Als Eliska morgens aufstand, wusste sie nicht, wo ihre Eltern waren.

Vielleicht liegt es an mir, dachte ich. Ich konnte mich nicht auf meinen Vater verlassen. Und strebte doch nach seiner Liebe. Eigentlich tue ich das heute noch.

Dann trennte sich die Mutter vom Vater, Eliska war da vier Jahre alt. Ihre Mutter meldete sie bei einer Psychotherapeutin an, diese diagnostizierte ein ADHS. Darum erhÀlt Eliska heute eine IV-Rente. Mit 18 Jahren wurde zudem eine Borderline-Persönlichkeitsstörung festgestellt.

Meine Mutter hat alles versucht, damit ich trotzdem eine normale Kindheit habe. Sie ist eine Löwin, sie wollte meine Wunden heilen. Ein Mensch alleine kann das aber nicht.

In der Schule war Eliska ĂŒberfordert. Die anderen Kinder verstanden nicht, warum sie oft weinte, etwa wenn sie eine Aufgabe nicht auf Anhieb verstand oder wenn sie GspĂ€nli fĂŒr eine Gruppenarbeit wĂ€hlen sollte. Beim Fussballspiel musste Eliska ins Tor, und wenn sie ein Goal kassierte, machten die anderen Kinder «Brennnesseln» an ihren Armen. Eliska, die Komische. Eliska, die HĂ€ssliche. Die Mutter und Eliska zogen um.

Welche Sorgen, welchen Schmerz und auch welche glĂŒcklichen Momente Eliskas Mutter und Eliskas Vater mit dieser Zeit verbinden, das bleibt ungesagt. Die Mutter lĂ€sst ĂŒber Eliska ausrichten, dass sie damit

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abgeschlossen habe und es nicht noch einmal aufrollen wolle. Mit dem Vater telefonierte Eliska Ende Sommer. Sie erinnerte ihn daran, dass sie bald Geburtstag haben werde. Er versprach ihr, sich zu melden, und dann hat sie nichts mehr von ihm gehört. Er erzĂ€hlte ihr auch, dass ihn die Polizei mit grossen Mengen Heroin und Kokain erwischt habe und dass er wahrscheinlich ins GefĂ€ngnis mĂŒsse. In welchem und fĂŒr wie lange, weiss Eliska nicht.

Jugend

Schon frĂŒh begann Eliska sich selber zu verletzen. Auch in der neuen Schule wurde sie von anderen Kindern gemobbt und erlebte Gewalt. Sie war oft in der Nachbarstadt, wo Sayeh, eine Freundin, hingezogen war. Dort lernte sie andere kennen, mit denen sie kiffte. Anfang Oberstufe wurden Eliska und eine Freundin betrunken ins Spital eingeliefert. SpĂ€ter in der Oberstufe verbrachten sie die Wochenenden im RĂŒmli, einer Art Garage. Erst spĂ€ter wurde Eliska bewusst, wie viele Freiheiten sie damals gehabt hatte. NĂ€chtelang unterwegs sein, erst morgens heimkommen.

Als im letzten Schuljahr einmal eine Freundin bei Eliska ĂŒbernachtete, wollte diese mitten in der Nacht nochmals raus und einen Freund treffen. Doch die Mutter hatte die WohnungstĂŒr abgeschlossen und den SchlĂŒssel in den Nachttisch gelegt –sie begann ihr mehr Grenzen zu setzen, weil Eliska manchmal ein paar Stunden spĂ€ter als abgemacht heimgekommen war. Sie holten den SchlĂŒssel neben der schlafenden Mutter und trafen den Freund. Er hatte MDMA dabei.

Ich sass auf diesem Holztisch und ĂŒberlegte hin und her: Halte ich mein Wort? Oder breche ich es? Im Nachhinein sehe ich das als Auslöser meiner Sucht. HĂ€tte ich in diesem Moment Nein gesagt, hĂ€tte ich vielleicht auch spĂ€ter Nein sagen können. Aber dann hatten wir es einfach lustig, meine

Freundin hat sich in ein StĂŒck Holz verliebt und wir haben viel gelacht.

Als Eliska am Morgen heimkam, sagte ihre Mutter: Du hast gekifft. Sowieso war sie wĂŒtend, dass Eliska den SchlĂŒssel genommen und noch rausgegangen war.

Besser sie denkt, dass ich kiffe, als dass sie vom MDMA erfÀhrt, dachte ich.

GefÀhrdungsmeldung

Die Mutter erlaubte Eliska weniger. Und Eliska rebellierte. Sie blieb die ganze Nacht weg oder ging raus, wenn sie nicht gedurft hÀtte. Sie kam betrunken oder unter Drogen nach Hause. Eliska, die DraufgÀngerin. Die Mutter machte zusammen mit Eliskas Psychotherapeutin bei der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde eine GefÀhrdungsmeldung. Ihren 16. Geburtstag verbrachte Eliska in einem Heim in Luzern.

Ich fĂŒhlte mich hintergangen, auch von meiner Psychotherapeutin. Ich wollte bei Mami bleiben. Wieder war ich nicht gut genug.

Eliska kam in ein weiteres Heim, dann in eine Tagesklinik. In der Schule, inzwischen machte sie ein Zwischenjahr, kokste sie am Mittag auf der McDonald’s-Toilette. Eines Tages wollte ihre Mutter ihr kein Geld mehr geben. Als sie zur Arbeit gegangen war, stieg Eliska in die Badewanne und schnitt sich die Arme auf. Ihr damaliger Freund rief die Mutter und die Ambulanz.

Eliska kam in eine Klinik. Auch dort konsumierte sie Kokain, Amphetamine, MDMA. Und so kam die nĂ€chste Stufe: Zu ihrem Schutz musste Eliska in den stationĂ€ren Massnahmenvollzug, die Kesb hatte eine fĂŒrsorgerische Unterbringung angeordnet. Nach dem 16. Geburtstag im Heim folgte der 17. im Massnahmenvollzug.

Ich wollte clean werden. Also, fĂŒr meine Mutter wollte ich es tun. Es bringt

Schon frĂŒh begann Eliska sich selber zu verletzen. Auch in der Schule wurde sie von

anderen Kindern gemobbt.

nichts, wenn dir alle sagen, du sollst aufhören. Du hörst ihnen nicht zu, du glaubst ihnen sowieso nichts. Du musst derb auf die Fresse fliegen, bevor du merkst: So geht es nicht weiter.

Erster Entzug

Nach drei Monaten im stationĂ€ren Massnahmenvollzug durfte Eliska wieder nach Hause. Bald traf sie eine Kollegin und konsumierte mit ihr zum ersten Mal das, was sie sich noch zuletzt geschworen hatte, nie zu nehmen: Base. Sie kauften sich Kokain, und wĂ€hrend die Kollegin es aufkochte und rauchte, schnupfte Eliska es. Weil gerauchtes Kokain schneller wirkt und auch schneller aufhört zu wirken, begann die Kollegin Eliska zu ĂŒberreden, ihr Kokain auch aufzukochen. Zuhause sagte ihre Mutter, sie mĂŒsse einen Entzug machen.

Mir war klar, dass ich eigentlich keine Wahl hatte, ich war ja noch nicht volljÀhrig. Also habe ich es einfach gemacht. Ein tatsÀchliches Wollen war das nicht.

Es folgten ein Rauswurf, nochmals ein Entzug, eine stationĂ€re Therapie, ein RĂŒckfall und ein Rauswurf, nochmals ein Entzug. Nach dem 16. Geburtstag im Heim und dem 17. im Massnahmenvollzug folgte der 18. in der Entzugsklinik. Danach eine weitere Therapie.

Auf den Goa-Partys, die ich besuchte, war ich wie ein Staubsauger. Ich nahm alles, was mir vor die Nase kam – Koks, Amphi, MDMA. Ohne darĂŒber nachzudenken, welche Nebenwirkungen und Kreuzwirkungen das haben kann.

Strasse

Erneut flog Eliska aus der Therapie. Und weil sie danach in der Entzugsklinik eine Beziehung anfing, folgte – ein Rauswurf. Mit diesem Mann, der tĂ€glich Base nahm, ging Eliska nach Luzern. Wenn das Geld fĂŒr das Kokain nicht reichte, stahlen sie. Sie tauschten die teuren Steaks aus dem Supermarkt gegen Kokain. WĂ€hrend ihr Freund clean wurde, basete Eliska jeden Tag. Mit einem neuen Mann begann sie Kokainpulver zu kaufen. Sie kochten es auf und verkauften es als Base zu einem höheren Preis weiter. Eliska, die Kleindealerin. Wegen Mischkonsums – zusammen mit Heroin – hatte sie mehrere Überdosen. Sie putzte sich die ZĂ€hne nicht mehr,

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duschte kaum. Auf ihre unreine Haut legte sie eine Schicht Make-up.

Manchmal konnte ich den Lippenstift nicht richtig auftragen, weil ich so zitterte – entweder war ich auf Entzug oder high.

Sie konsumierte auch bei ihrem Vater. Dann wisse er wenigstens, dass der Stoff sauber sei, sagte er. Von ihm bekam Eliska Kokain und Amphetamin. In der Drogenszene kannten ihren Vater alle, alle wollten seine besonders reinen Drogen.

Hey, ich bin die Tochter des Luzerner Drogenbarons! Das fand ich auch ziemlich cool, er beeindruckte mich. Aber war er halt doch nie fĂŒr mich da.

Auf der Suche nach Geld begann Eliska sich zu verkaufen. Und sie betrog, wie schon in frĂŒheren Beziehungen, ihren Freund.

Ich kam mit mir selber nicht klar, ich wollte gar nicht Sex. Ich wollte nur WertschÀtzung, NÀhe und Liebe. All das, was ich als Kind nicht bekommen habe. Das finde ich aber nicht durch Sex, MÀnner oder Drogen. Das muss ich mir selber geben können.

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Probleme daheim, Probleme in der Schule, im Heim, in Kliniken – so richtig zuhause war Eliska viele Jahre nicht.

Irgendwann kam der Punkt, da erkannte Eliska: «Was du in den Drogen suchst, kannst du auch in anderen Dingen ïŹnden.»

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Die Momente, an die Eliska sich erinnern kann, sind von Eskalation geprÀgt. Sie trank eine Flasche Malibu und wollte aus dem Fenster springen; der SanitÀterin, die ihr Vater und ihr Freund daraufhin riefen, gab sie eine Ohrfeige. Oder sie spuckte einem Polizisten ins Gesicht. Sie schlief und ass kaum noch, wog noch 34 Kilo. Nach Hause zu kommen, erlaubte ihr ihre Mutter nicht mehr. Erst wenn sie bereit sei, einen Entzug zu machen. Eliska ging nach Hause und versuchte, kein Base zu nehmen. Nach ein paar Wochen rief sie einen Kollegen an und fuhr zu ihm.

Ich war ĂŒber Nacht nicht nach Hause gekommen. Meine Mutter wusste genau, was passiert war – und sagte, ich mĂŒsse gar nicht mehr nach Hause kommen.

Clean werden

Die folgenden Tage verbrachte Eliska bei dem Kollegen. Sie versuchte sich selbst zu ĂŒberlisten, indem sie ihr Geld statt fĂŒr Drogen fĂŒr Pizzas ausgab.

Ich sass auf dem Sofa und hatte keine Kraft mehr, ich war nur noch ein HĂ€ufchen Elend. Ich hatte das HungergefĂŒhl richtig gerne, weil ich dann spĂŒrte: Ich bin noch hier, ich bin ein Mensch. Ich sagte mir: Eliska, entweder du Ă€nderst dein Leben jetzt oder du stirbst, und schrieb meiner Mutter: Mami, ech mage nöm, ech wott hei.

Ihre Mutter wiederholte: Du kannst nach Hause kommen, wenn du einen Entzug machst. Eliska willigte ein. Am nĂ€chsten Tag holte ihre Mutter sie ab. Sie fuhren ein paar Tage zum Campieren ins BĂŒndnerland, und danach begann Eliska nach gut einem halben Jahr auf der Strasse und kurz vor ihrem 19. Geburtstag einen Entzug. Den ersten, den sie wirklich machen wollte. Erst wollte Eliska zwei Wochen in der Entzugsklinik bleiben, dann merkte sie, dass zwei Wochen nicht reichten. Sie wollte nun clean werden. So blieb sie zwei Monate in der Entzugsklinik, bevor sie in eine stationĂ€re Langzeittherapie wechselte.

Eigentlich hĂ€tte Eliska mehrere Monate ins GefĂ€ngnis mĂŒssen, wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte. Die Institution, wo sie in Therapie war, startete aber einen Spendenaufruf, und es kam so viel Geld zusammen, dass sie die Haftstrafe in eine Geldstrafe um-

wandeln und begleichen konnte. Noch einmal, im Dezember 2021, hatte Eliska mit ihrem Freund, kennengelernt in der Entzugsklinik, einen RĂŒckfall und konsumierte Base. Erneut sagte sie sich: Ich will das nicht mehr.

Mit einer Gruppe aus der Langzeittherapie wanderte sie von SĂŒdfrankreich ĂŒber die Alpen nach Ligurien und bis ans Meer. SpĂ€ter bestieg sie in einer zweitĂ€gigen Bergtour freiwillig das Weissmies, einen Viertausender im Wallis.

Was mache ich da eigentlich?, fragte ich mich beim Aufstieg. Es war arschkalt, ich weinte und wollte nicht mehr weitergehen. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung, und dann ging es wieder. Es war schwierig und anstrengend, dafĂŒr hatten wir den Sonnenaufgang erlebt. Was du in den Drogen suchst, kannst du auch in anderen Dingen finden.

Neues Leben

Vor ein paar Tagen wartet Eliska am Bahnhof Solothurn West. Sie sieht ein paar Leute, die Base konsumieren. Ich habe Geld dabei, denkt sie einen Augenblick lang. Dann ruft sie eine Freundin an, die sie im stationÀren Massnahmenvollzug kennengelernt hat, und bittet sie, am Telefon zu bleiben, bis ihr Zug kommt.

Wenn im Zug jemand herumschreit oder in einen Sitz boxt, frage ich mich: War ich auch so? Fuck, wie peinlich!

Um nicht den Leuten aus ihrer Drogenzeit zu begegnen, geht Eliska nur selten nach Luzern. DafĂŒr hat sie zum Beispiel wieder mehr Kontakt zu Sayeh, der Freundin, die in die Nachbarstadt gezogen war und die sie wegen der Drogen aus den Augen verloren hatte. Und sie tut sich Gutes, fĂ€rbt ihre Haare oder geht zur Nageldesignerin.

Am Anfang war das ein wichtiges Zeichen fĂŒr mich. Ich gebe mein Geld nicht fĂŒr Drogen aus, sondern fĂŒr schöne NĂ€gel. Dass ich weg komme von der alten Eliska, hat mir Kraft gegeben.

Eliska möchte Kinder haben. Sie möchte fĂŒr jemanden da sein können und die bedingungslose Liebe zwischen Kind und Mutter spĂŒren. Doch im Moment spreche ihre psychische Belastbarkeit und ihre finanzielle Situation dagegen. Weil sie frĂŒher oft ohne Billett Bus und Zug gefahren ist, hat Eliska Schulden. Einen grossen Teil konnte sie zurĂŒckzahlen, jetzt sind es noch 2500 Franken. FĂŒr ein Kind mĂŒsse auch der Mann passen – doch ihre bisherigen Partner hatten alle eine Sucht. Zum ersten Mal ist Eliska seit kurzem Single.

Das Alleinsein macht mir Angst. Aber ich habe es geschafft, mich aus einer toxischen Beziehung zu lösen, und lerne jetzt, dass ich auch alleine sein kann.

Sie schmunzelt. Und erzÀhlt im nÀchsten Satz, dass sie gerade jemanden kennenlerne.

Wir wollen nichts ĂŒberstĂŒrzen. Ich will lernen, gesunde Beziehungen zu fĂŒhren.

Mindestens zwei Mal pro Woche geht Eliska ins Fitnessstudio. Wenn sie Zeit hat, nÀht sie alte Kleider um oder backt ihrer Mutter zum Geburtstag eine Schwedentorte. Und sie schreibt Songs und macht Musik.

Wenn es mir scheisse geht, ist Singen meine Heilung. Ohne Musik und Sport wÀre ich nicht mehr hier.

Wenn sich alles andere in ihrem Leben stabilisiert haben wird, möchte Eliska ein Teilzeit-Praktikum im ersten Arbeitsmarkt machen. UrsprĂŒnglich sagte sie, dass sie im Sommer 2025 eine Lehre beginnen möchte. Jetzt sagt sie: irgendwann. Wenn sie bereit ist. Auch die Suche nach einer eigenen Wohnung hatte sie lĂ€nger vor sich hergeschoben als geplant. Und nun ist Eliska nach Solothurn in eine eigene Wohnung gezogen. Drei Zimmer, in der NĂ€he der Bahnhof und die Aare.

«Wenn es mir scheisse geht, ist Singen meine Heilung.»
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Zwischen Minze und Thymian

MIGROS-RESTAURANT Der Ort: das Migros-Restaurant in der Berner LÀnggasse, irgendein Nachmittag; seit zwanzig Jahren komme ich regelmÀssig hierher, um zu arbeiten, dazu trinke ich eine Sinalco. Die Hauptperson: Herr Siegenthaler, etwa 80, hager, Typ Lehrer, der immer da ist, wenn auch ich hier bin, weswegen wir uns bereits 2400-mal gesehen, aber nur dreimal miteinander geredet haben. Die Handlung : findet mehrheitlich im Kopf statt.

Vermutlich hat dieser Mann die nicht unwesentliche Gabe, andere nicht zu belĂ€stigen. Es gibt Leute, die suchen mit aufgesetzten Blicken und irrwitzigen Bewegungen unsere Aufmerksamkeit – wie aufdringlich das ist. Herr Siegenthaler ist nicht von dieser Sorte. Er ist, schon aus Höflichkeit, zurĂŒckhaltend. Vielleicht war er frĂŒher, in seinen jungen Jahren, schneidig und resolut, aufbrausend gar. Dass die Frauen damals seine hellblauen Augen an-

beteten, ist jedenfalls nicht ausgeschlossen. Heute sitzt er allein an diesem Tisch mit dem blassbraunen Fournier, nahe am Fenster. Er hat einen Kaffee vor sich, DoppelcrĂšme, ein StĂŒck Landfrauenkuchen aus Himbeer und Haselnuss, den Kuchenrand trennt er mit der Gabel ab, das tut Herr Siegenthaler immer so. Auf der Strassenseite gegenĂŒber, man sieht es durch die grossen Glasscheiben, haben Menschen ihre WĂ€sche vors Fenster gestellt, ein leerer Klei-

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Orte der Begegnung

derbĂŒgel dreht sich am Seil, es windet. SpĂ€ter werden die Vögel ĂŒber der Migros kreisen wie immer am spĂ€ten Nachmittag, vielleicht kommen sie aus dem Bremgartenwald oder von der Aare herauf.

Herr Siegenthaler, glattrasiert, gewelltes Haar, richtet die Wochenendausgabe der Berner Zeitung BZ vor sich aus, er reibt sich die HĂ€nde, vielleicht schmerzen seine Gelenke. Die meisten lesen als Erstes die letzte Seite einer Zeitung, so etwas wĂŒrde Herrn Siegenthaler im Leben nicht einfallen, er beginnt ganz vorne, mit der ersten, grossen Schlagzeile.

An der Wand hinter seinem RĂŒcken steht, wie wohl in jedem Migros-Restaurant von Brig bis Bottighofen, in grellgrĂŒner Farbe: Dill, Gurkenkraut, Minze, Zitronenmelisse, Rosmarin, Thymian. Und es steht auch geschrieben: «Schön sind Sie unser Gast.»

Jetzt, es ist Samstag spÀter Nachmittag, sind kaum noch Leute hier, zwei Tische neben Siegenthaler sitzt ein Àlteres Ehepaar, sie hat einen Rollator, er isst KÀsekuchen. SpÀter kommen noch zwei Frauen dazu, Mutter und Tochter, auch ihnen winkt Herr Siegenthaler freundlich zu, und wÀre er ihnen draussen auf der Strasse be-

gegnet, hÀtte er sich wohl verneigt, aber womöglich bilde ich mir das bloss ein.

Was weiss man schon von einem Menschen, den man ĂŒber so viele Jahre hinweg immer wieder gesehen, mit dem man aber kaum gesprochen hat? Immer schon trĂ€gt Herr Siegenthaler diesen dunkelblauen Regenmantel, doch erst heute fĂ€llt mir der leicht speckige Kragen auf.

Und eines Tages wird er einfach nicht mehr kommen, und die am Nebentisch werden denken, so, jetzt ist er tot.

Aber heute reden sie ganz aufgeregt ĂŒber den Eurovision Song Contest und was dieses Spektakel noch mit Schlager zu tun hat, mit Peter Alexander, Wencke Myhre, Nicole – und Katja Epstein, wirft Herr Siegenthaler vom anderen Tisch her ein, worauf die eine Frau sofort «Dann heirat’ doch dein BĂŒro» anstimmt und dazu schunkelt. Herr Siegenthaler schmunzelt und schaut zu mir herĂŒber und immer, wenn er die Augen zukneift, zieht sich seine spitze Nase zurĂŒck, das goldfarbige Brillengestell hĂŒpft nach oben, er öffnet den Mund, dem die hinteren ZĂ€hne fehlen. Ob seine Frau noch lebt, frage ich mich. Doch dann erinnere ich mich, dass er im GesprĂ€ch mit jemandem einmal erwĂ€hnte,

er sei Zeit seines Lebens Junggeselle gewesen und gut ist.

Ich wĂŒsste nur zu gern, wie es ist in einem Migros-Restaurant, mitten in einer stockdunklen Nacht. Ob irgendwo GlĂ€ser klirren? Wohl kaum. Orte wie dieser sind dazu da, dass wir die Einsamkeit vergessen, die in uns heranwĂ€chst wie ein kleines, hungriges Tier. Und ist es einmal ausgewachsen, verschlingt es uns mit Haut und Haar.

Herr Siegenthaler hat ĂŒbrigens dieses sanfte, vielsagende LĂ€cheln, an dem auch Sie ihn erkennen wĂŒrden.

In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder dorthin, wo in unserer funktionalen Welt ein leiser, informeller Austausch stattïŹndet.

HintergrĂŒnde im Podcast: Radiojournalist

Simon Berginz spricht mit Redaktor Klaus Petrus ĂŒber die neue Serie. surprise.ngo/talk

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0:44 (14. Juni)

Die Motoren der «Adriana» kollabieren, das Boot driftet nach SĂŒden

18:34

2:06

Die «Adriana» sinkt

1:40

Der Crew der LS920 beschliesst, die «Adriana» abzuschleppen

17:56

Der Frachter «Lucky Sailor» trifft auf die «Adriana», es werden Lebensmittel ĂŒbergeben

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17:13 ITALIEN
19:15 01km FOTO: HELLENIC COAST GUARD (GRIECHISCHE KÜSTENWACHE) QUELLE: WEARESOLOMON.COM

Der Riesentanker «Faithful Warrior» nÀhert sich der «Adriana», Menschen versuchen, an Bord des Tankers zu gelangen

22:40 Das Patrouillenboot LS920 trifft in der NÀhe der «Adriana» ein

AngekĂŒndigte Versenkung

Migration Vor einem Jahr sank die «Adriana» mit ĂŒber 750 Menschen an Bord auf dem offenen Meer vor der griechischen KĂŒste. Mittlerweile gilt als sicher, dass die griechische KĂŒstenwache das Schiff zum Kentern gebracht hat.

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19:55
GRIECHENLAND
20:15 21:02 21:30 21:45 23:57

Es ist 10 Uhr 35 morgens an diesem 13. Juni, als Nawal Soufi auf der Plattform «X» eine Meldung absetzt. Ein Schiff mit 750 Personen an Bord, schreibt sie, sei «in Schwierigkeiten», die Menschen hĂ€tten kein Wasser mehr, sie seien daran, «Meerwasser zu trinken», mindestens zwei Tote. Es handele sich, bekrĂ€ftigt Nawal Soufi, um ein eindeutiges «SOS», also höchste Gefahrenstufe auf See; acht Minuten spĂ€ter gibt sie die Koordinaten des Schiffs an. Nawal Soufi, Menschenrechtsaktivistin, lebt in Catania auf Sizilien, und beinahe alle, die an der nordafrikanischen KĂŒste in einen morschen Kutter, in ein dĂŒnnwandiges Gummiboot steigen, haben ihre Nummer bei sich. Sie wissen, wenn die Aktivistin, die sie mal «Mama Nawal» nennen, mal «Ange des Migrants», Alarm schlĂ€gt, dann ist Rettung unterwegs. Nawal Soufi informiert umgehend das «Search and Rescue Operations Center» in Rom, und dieses alarmiert um 11 Uhr die griechischen Rettungsdienste.

Noch weiss niemand, um was fĂŒr ein Schiff es sich handelt. Die «Adriana», ein rostiger, ausrangierter Fischtrawler, befindet sich zu dieser Zeit sĂŒdwestlich des Peloponnes, etwa 25 Seemeilen (etwa 48 Kilometer) von der Stadt Pylos entfernt. Der Trawler kam ursprĂŒnglich aus Ägypten, er war vier Tage zuvor nahe der libyschen Stadt Tobruk in See gestochen, hatte sich in langsamer, aber stetiger Fahrt nördlich bewegt. Lange schon hatten die Menschen kein Wasser mehr, nichts mehr zu essen, die Maschine fiel stĂ€ndig aus. Überlebende werden spĂ€ter berichten, dass im Unterdeck Frauen und Kinder eingepfercht waren, im Zwischendeck, eng an eng, vor allem Pakistani, oben an Deck Menschen aus Syrien, aus Afghanistan, aus Ägypten. Wer seinen Platz verliess, wurde verprĂŒgelt.

Um 12 Uhr 47 an diesem Tag ĂŒberfliegt ein Flugzeug der EuropĂ€ischen Grenzagentur Frontex die «Adriana» und filmt den schlingernden Kutter, das Deck ĂŒbervoll mit Menschen, niemand trĂ€gt eine Schwimmweste. Frontex, die selber nur auf Ersuchen eines Mitgliedslandes eine Seenotrettung starten kann, fragt die griechische KĂŒstenwache an, ob man UnterstĂŒtzung brauche; die Agentur erhĂ€lt keine Antwort.

Um 14 Uhr 17 trifft bei L., der seinen Namen nicht nennen will, Mitarbeiter bei Alarmphone in ZĂŒrich, ein Notruf ein. Alarmphone ist eine Notrufzentrale, die Hilferufe von Migrant*innen entgegennimmt, Rettung organisiert und Öffentlichkeitsarbeit macht. L. versucht mehrfach, mit der Crew der «Adriana» Kontakt aufzunehmen, erst um 16 Uhr 43 gelingt es ihm, die ungefĂ€hre

Position zu erfahren: 36°15’N, 21°02’E. Alarmphone alarmiert umgehend Frontex, auch die griechische KĂŒstenwache, L. bleibt in den nĂ€chsten Stunden mit der «Adriana» in Kontakt. Das letzte, was er hören wird, ist der Funkspruch «Hello my friend ... The ship you send is ...», dann bricht die Verbindung ab.

Die «Adriana» befindet sich lĂ€ngst in der griechischen «Search and Rescue» Zone (SAR), aber die griechische KĂŒstenwache braucht drei Stunden seit dem ersten Notruf, um einen Helikopter aufsteigen zu lassen; der macht Fotos, kehrt wieder zurĂŒck. Die KĂŒstenwache befiehlt mehreren Frachtern, der «Adriana» mit Wasser, Nahrungsmittel und Treibstoff beizustehen und ordert ein Patrouillenboot in die NĂ€he; das Seenotrettungsschiff «Aigaion Pelagos» liegt im nahen Hafen von Githio, es wĂ€re in sechs Stunden, also lange vor Einbruch der Dunkelheit, bei der «Adriana» gewesen.

Ein Kriegsschiff taucht auf

Das Rechercheportal «Forensic Architecture» hat Minute fĂŒr Minute aufgearbeitet, was sich in den nĂ€chsten Stunden ereignet. Um 17 Uhr 56 trifft der Frachter «Lucky Sailor» bei der «Adriana» ein, aus dem improvisierten Auspuff dringt weisser Qualm, der Kutter ist auf Drift. In einer komplizierten Operation werden Lebensmittel ĂŒbergeben, dann erlaubt die griechische KĂŒstenwache der «Lucky Sailor» ĂŒber Funk die Weiterfahrt. Um 19 Uhr 55 geht der Riesentanker «Faithful Warrior» lĂ€ngsseits zur «Adriana», der Fischtrawler schwankt gefĂ€hrlich, schlĂ€gt mehrmals gegen den Rumpf des Tankers, Menschen versuchen, an Bord der «Faithful Warrior» zu gelangen, fallen ins Wasser. Es ist 22 Uhr 40, als das griechische Patrouillenboot LS920 in der NĂ€he der «Adriana» eintrifft. Ein Kriegsschiff, sie hat Rettungsmittel fĂŒr maximal 40 Personen an Bord, aber zwei gut sichtbare Bordkanonen an Deck. In den Worten des griechischen MinisterprĂ€sidenten sind solche Patrouillenboote «schwimmende Grenzverteidigungen», die sechzehnköpfige Crew trĂ€gt schwarze Masken.

Die Internationale Seerechtskonvention ist in einem Punkt unmissverstÀndlich: dass jedes Schiff verpflichtet ist, einem anderen beizustehen, wenn dieses in Not gerÀt.

Anna Petrig, Professorin fĂŒr Völkerrecht an der UniversitĂ€t Basel und Spezialistin fĂŒr Seerecht, hat daran mitgearbeitet, dass dieser Grundsatz in der «Geneva Declaration on Human Rights at Sea» festgehalten wird. Eines der Prinzipien dieser Deklaration

Überlebende werden spĂ€ter berichten, dass im Unterdeck Frauen und Kinder eingepfercht waren.
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lautet, dass Menschenrechte ĂŒberall gelten, auch auf See. Es darf «keine maritimen spezifischen GrĂŒnde fĂŒr die Verweigerung der Menschenrechte» geben, also auch keine migrationspolitischen.

Die griechische KĂŒstenwache sieht das anders, und zwar schon seit lĂ€ngerer Zeit.

Adriana Tidona, Migrationsexpertin bei Amnesty International, spricht von «systematischen Menschenrechtsverletzungen» durch die griechische KĂŒstenwache. «Pushbacks», also das ZurĂŒcktreiben von Menschen auf der Flucht dorthin, wo sie herkommen, seien so systematisch, «dass wir sie als Bestandteil der griechischen Migrationspolitik verstehen mĂŒssen». Daran hat auch ein Urteil des EuropĂ€ischen Gerichtshofs fĂŒr Menschenrechte (EGMR) im Jahr 2022 nichts geĂ€ndert. Er verurteilte Griechenland, weil eine Patrouille der griechischen KĂŒstenwache 2014 vor der Insel Farmakonisi ein Boot mit Migrant*innen in rauer See zurĂŒck in Richtung tĂŒrkische KĂŒste abschleppte und mit einigen ruppigen Manövern zum Kentern brachte; elf Menschen starben. Die New York Times dokumentierte einen weiteren Fall auf Lesbos, wo die KĂŒstenwache Menschen auf einer Rettungsinsel mitten im Meer aussetzte.

Auch L. von Alarmphone bestĂ€tigt viele FĂ€lle von «Pushbacks», nicht nur an der Grenze zur TĂŒrkei am Fluss Evros, sondern vor allem auch auf See; er spricht von einer «enormen Dunkelziffer» und unzĂ€hligen Toten, die nicht dokumentiert sind. Und L. weist darauf hin, was mittlerweile auch von der EU bestĂ€tigt wird: dass Frontex bei diesen Pushbacks nicht nur zuschaut, sondern auch schon aktiv mitgeholfen hat.

Wenig verwunderlich, dass die Menschen auf der «Adriana» erschrecken, als das Kanonenboot der Griechen in der Dunkelheit auftaucht. Gerade waren sie dem Kontrollbereich der rĂŒcksichtslos und brutal agierenden «libyschen KĂŒstenwache» entronnen. Diese Flotte von «Seeleuten» auf von Europa gelieferten Schiffen ist unterwegs, um Migrant*innen auf See abzufangen und zurĂŒck in libysche Kerker zu bringen. Nun sind die Menschen auf der «Adriana» im Scheinwerferlicht des waffenstarrenden LS920 gefangen, alle wissen von den Pushbacks. Einige an Bord sollen gerufen haben, sie wollten «weiter nach

Italien», behauptet die KĂŒstenwache. Gesichert ist, dass die Interessen der KĂŒstenwache und der HintermĂ€nner dieser Fahrt zusammenpassten. Die Schlepper und auch ihre Helfer an Bord wĂŒrden ihren Lohn erst erhalten, wenn die «Adriana» ihre «Fracht» in Italien abgeladen hatte, geschĂ€tzte 3 Millionen Euro. Die Crew des Patrouillenboots ihrerseits will nichts anderes, als die «Adriana» in italienische GewĂ€sser bringen, um das Problem ein Land weiter zu schieben.

Also befiehlt LS920 der «Adriana», Kurs West zu nehmen. Die Rekonstruktion von «Forensic Architecture» zeigt, dass das Patrouillenboot die «Adriana» eskortiert, mit relativ hoher Geschwindigkeit. Nach weniger als einer Stunde, um 0 Uhr 44, kollabieren die Motoren des Fischkutters, die «Adriana» driftet in der Strömung nach SĂŒden.

Um 1 Uhr 40 beschliesst die Crew von LS920, die «Adriana» abzuschleppen, sie befestigt ein Seil an einem Poller, am Bug rechts, also an Steuerbord. Überlebende erzĂ€hlen spĂ€ter ĂŒbereinstimmend, sie hĂ€tten geschrien «No, no, no», weil sie voraussehen, was geschehen wird. Beim ersten Versuch reisst das Tau, aber die Maskierten befestigen erneut eines, wieder am selben Poller, das Patrouillenboot beschleunigt.

Und diesmal hÀlt das Seil.

Die Crew der LS920 hatte zuvor das AIS ausgeschaltet, ein System zur automatischen Lokalisierung von Schiffen, auch das Videosystem an Bord blieb stumm. Und deshalb glaubte die Crew von LS920 wohl auch, sie könne der Öffentlichkeit ihre Version weismachen, dass die «Adriana» sich von selbst und «ganz plötzlich» zur Seite geneigt habe und innert Sekunden gekentert sei.

Die wenigen Überlebenden erzĂ€hlen ĂŒbereinstimmend eine andere Version: Dass das Patrouillenboot extrem stark beschleunigt habe, die «Adriana» habe sich zuerst stark nach Steuerbord geneigt, dann nach Backbord, und dann sei sie ĂŒber Steuerbord gekentert.

Wer unter Deck war, die vielen Frauen, Kinder, die meisten Menschen aus Pakistan, hatten keine Chance. Wer es schaffte, kletterte auf den Rumpf, der kieloben im Wasser lag. Wer schwimmen konnte, schwamm auf das Boot der KĂŒstenwache zu. Aber dieses fuhr davon, mit hoher Geschwindigkeit, die Bugwellen hĂ€tten dazu gefĂŒhrt, dass die «Adriana» noch schneller im Meer versank, auch das erzĂ€hlen Überlebende ĂŒbereinstimmend. Und dass das Patrouillenboot erst nach etwa 20 bis 30 Minuten zurĂŒckkehrte und mit der Suche nach Menschen begann.

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GRIECHENLAND TÜRKEI ITALIEN BENGASI KALAMATA ATHEN 200KM 0 QUELLE: NY TIMES
LIBYEN
FĂŒr die rechtskonservative griechische Regierung standen die Schuldigen bereits fest: die «Schlepper».

Um 2 Uhr 06 löste die Mannschaft des Patrouillenbootes internationalen Seenotalarm aus. Alle Schiffe in der NĂ€he sollten sich zum UnglĂŒcksort bewegen. Jetzt erst legte die «Aigaion Pelagos», das Bergungsschiff, im Hafen von Githion ab. Es kann bis zu 12,9 Knoten Fahrt machen, aber die Aufzeichnungen von «marinetraffic» zeigen, dass es mit bloss 5 Knoten unterwegs war.

Statt des Bergungsschiffs tauchte am UnglĂŒcksort eine hell erleuchtete, elegante Megajacht auf. Die «Mayan Queen IV», 92 Meter lang, 5 Oberdecks, mit Kabinen fĂŒr 16 GĂ€ste, bedient von einer Crew von 24, am Bug einen Landeplatz fĂŒr Helikopter; allein ihr Unterhalt kostet 20 Millionen Dollar im Jahr. Sie gehört der Familie des verstorbenen mexikanischen MilliardĂ€rs Alberto Bailleres, der unter anderem im MinengeschĂ€ft, im Handel mit Silber reich geworden ist. Die Crew der «Mayan Queen IV» handelte professionell, sie beteiligte sich an der Suche nach Menschen, die ohne Rettungswesten um ihr Leben kĂ€mpften, nahm auch die auf, die sich auf das Patrouillenboot hatten retten können, versorgte sie mit Decken. Um 7 Uhr 37 verliess die «Mayan Queen IV» den Ort und nahm Kurs auf Kalamata in Griechenland, mit 105 Überlebenden an Bord; 81 Leichen wurden in den folgenden Stunden geborgen, eine weitere einen Tag darauf.

L. und die Aktivist*innen von Alarmphone erfuhren erst nach Stunden, was sich ereignet hatte. Sie haben schon viele Pushbacks dokumentiert, aber dass hier ĂŒber 600 Menschen ihr Leben verloren, war unfassbar.

Adriana Tidona von Amnesty International sagt, sie sei «irritiert, dass es keine einzige Bildaufzeichnung dieser Katastrophe gibt». Das Patrouillenboot LS920 war mit allen technischen Finessen ausgerĂŒstet, mit Drohnen, Unterwasserkameras, ebenso die «Mayan Queen IV», und doch gibt es keine Bilder. Irritierend auch, dass die Megajacht den Hafen von Kalamata nur wenige Stunden, nachdem sie die Überlebenden an Land gebracht hatte, verlassen und Richtung Kreta weiterfahren konnte; fĂŒr das Sichern von Beweismaterial blieb da keine Zeit. Den schwer verstörten Menschen, die in Kalamata von Bord der «Mayan Queen IV» gingen, nahmen die griechischen Behörden als Erstes die MobilgerĂ€te ab. FĂŒr Adriana Tidona sind die UmstĂ€nde dieser Konfiskation «unklar«, die MobilgerĂ€te bleiben bis heute unter Verschluss.

Die rechtskonservative griechische Regierung von Kyriakos Mitsotakis rief, zehn Tage vor den frĂŒhzeitigen Parlamentswahlen, eine dreitĂ€gige Staatstrauer aus. Man bedaure den Vorfall und spreche den Angehörigen das Beileid aus, aber gleichzeitig standen fĂŒr die Regierung die Schuldigen bereits fest: die «Schlepper».

Derweilen behauptete der KapitĂ€n des Patrouillenboots, Militiadis Zourdakis, beharrlich weiter, sein Boot habe keinen Versuch unternommen, die «Adriana» abzuschleppen. Die Menschen, die gerade eine Schiffskatastrophe ĂŒberlebt hatten, die Freunde, Angehörige, Kinder verloren hatten, sie wurden im Hafen von Kalamata in einer Lagerhalle eingesperrt, mussten auf Matratzen schlafen, teils auf dem nackten Boden. Sie sollten so wirksam wie möglich abgeschirmt werden.

Aber es gelang nicht. Da war der Druck der Menschenrechtsorganisationen, die Masse der empörten BĂŒrger*innen, die in Athen und anderen StĂ€dten auf die Strasse gingen und gegen die menschenverachtende Praxis ihrer Regierung protestierten. Da war der OppositionsfĂŒhrer Alexis Tsipras, der vor der blechernen Lagerhalle in Kalamata stand und in die laufenden Kameras sagte, das Patrouillenboot wĂ€re verpflichtet gewesen, die «Adriana» in einen griechischen Hafen abzuschleppen. Da waren die Reporter*innen, die erste Interviews mit Überlebenden machten, weiter auch eine Delegation von Human Rights Watch und von Amnesty International. Sie fĂŒhrte GesprĂ€che mit der griechischen KĂŒstenwache und interviewte 19 Überlebende.

Judith Sunderland, stellvertretende Direktorin bei Human Rights Watch, sagte, die «DisparitÀten» zwischen den Darstel-

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lungen der Überlebenden und der KĂŒstenwache seien «extrem besorgniserregend». Einige, die ĂŒberlebten, erzĂ€hlten ihre Geschichte öffentlich, trotz aller Restriktionen, sie bekamen Namen, Gesichter. Haseebur-Rehman, ein Motorradmechaniker aus der Region Kashmir, der einen Aufpreis zahlte, um einen Platz auf dem Oberdeck der «Adriana» zu bekommen, sprach mit der New York Times. Hamza, ebenfalls aus Pakistan, erzĂ€hlte Human Rights Watch von den unglaublichen ZustĂ€nden an Bord und schilderte sehr prĂ€zise, wie ein «Ruck» durch die «Adriana» ging, als das Patrouillenboot das Schiff in Schlepptau nahm; Hassan, auch er aus Pakistan, bestĂ€tigte, dass die «Adriana» mit einem Mal «extrem beschleunigte».

Nicht zustÀndig

Doch die griechische KĂŒstenwache blieb bei ihrer Version und sie bleibt dabei, bis heute.

Mittlerweile hat sich die Sozialkommission des EuropĂ€ischen Parlaments mit dem Fall befasst, Adriana Tidona hat dort ausgesagt, ebenso die Ombudsfrau der EuropĂ€ischen Union, Emily O’Reilly, die eine Untersuchung der Katastrophe in die Wege geleitet hat. Sie koordiniert ihre Arbeit mit dem griechischen Ombudsmann Andreas Pottakis, der seinerseits in diesem Fall untersucht; beide schauen auch auf die Rolle von Frontex bei diesem und anderen VorfĂ€llen.

In ihrem Bericht vom Februar dieses Jahres kritisierte Emily O’Reilly die Untersuchung der Katastrophe durch die griechischen Behörden scharf. Sie regte unter anderem an, dass Frontex angesichts der wiederholten Pushbacks der griechischen KĂŒstenwache und der «wachsenden Sorge ĂŒber die fortbestehenden Verletzungen der Menschenrechte» die Zusammenarbeit mit der griechischen KĂŒstenwache suspendieren solle. Es sei nicht zuletzt bedenklich, schrieb sie, dass Frontex nicht ĂŒber eine eigene Rettungsorganisation verfĂŒge und dass bei Frontex interne Ressourcen zur Überwachung von Pushbacks bewusst zurĂŒckgehalten wurden, um diese nicht bezeugen zu mĂŒssen. Der Grundrechtsbeauftragte von Frontex, Jonas Grimheden, kritisiert seinerseits in einem «Serious Incident Report» zum Vorfall, dass die griechische KĂŒstenwache es «bewusst unterlassen» habe, die Menschen auf der «Adriana» zu retten. Aber es gebe, schreibt er weiter, bei Frontex offenbar keine klaren Kriterien dafĂŒr, ob und wann sich ein Schiff in Seenot befindet; es gehe nicht an, diese Entscheidung einfach der KĂŒstenwache zu ĂŒberlassen.

Zwei Gerichtsverfahren stehen an, mit unterschiedlichen Zielrichtungen.

Das eine, angestrengt von 40 Überlebenden, wird vor dem Seegericht in PirĂ€us verhandelt und soll Klarheit ĂŒber die Rolle der KĂŒstenwache bringen; es zieht sich, so Adriana Tirano, «schleppend in die LĂ€nge». Das andere fand am 21. Mai vor einem Dreiergericht in Kalamata statt, es richtete sich gegen neun Ă€gyptische Staatsangehörige, die der Schlepperei beschuldigt werden und angeklagt waren, die «Adriana» zum Kentern gebracht zu haben. Einer der Angeklagten war Ahmed Ezzat, der aus dem Nildelta stammt, und stets beteuerte, er habe 4000 Euros fĂŒr die Überfahrt bezahlt, wie alle anderen, wie die anderen 200 Ägypter*innen an Bord; ihm und den Mitangeklagten drohten jeweils bis zu hundert Jahre GefĂ€ngnis.

Alle Hoffnung ruhte auf dem Anwaltskollektiv, das fĂŒr die SolidaritĂ€tsbewegung «Free Pylos 9» arbeitet und die Verteidigung der Angeklagten ĂŒbernommen hat. «Free Pylos 9» hat bereits im Vorfeld dokumentiert, dass die Untersuchungsbehörden auf die befragten Überlebenden enorm Druck dahingehend ausĂŒbten, sie sollen die neun Angeklagten als «die BootsfĂŒhrer» identifizieren; und das ist nur einer von vielen Druckversuchen in diesem Verfahren. An einer Pressekonferenz wiesen die acht AnwĂ€lt*innen des Kollektivs darauf hin, dass die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht in Griechenland mittlerweile «systematisch» sei; ĂŒber 2000 Migrant*innen sĂ€ssen heute in GefĂ€ngnissen, viele ohne ordentliches Gerichtsverfahren. Dieser Prozess sei eine Gelegenheit, diese Praxis «zu hinterfragen». Nur, zu einem Prozess kam es dann gar nicht. Die zustĂ€ndige GerichtsprĂ€sidentin, Eftichia Kontaratou, entschied, das Gericht in Kalamata sei fĂŒr den Fall nicht zustĂ€ndig, weil die «Adriana» ausserhalb der griechischen territorialen GewĂ€sser sank; es gebe deshalb «keine ZustĂ€ndigkeit griechischer Gerichte». Die neun Angeklagten kamen unmittelbar frei, unter dem Jubel der AnwĂ€lt*innen und UnterstĂŒtzer*innen.

Alle Augen sind nun auf das Verfahren vor dem Seegerichtshof in PirĂ€us gerichtet, dort soll die Schuldfrage geklĂ€rt werden. Die Schweiz, im Verwaltungsrat von Frontex mit zwei Beamt*innen vertreten, werde am Prozess nicht als Beobachterin teilnehmen, schreibt die Pressestelle des Bundesamtes fĂŒr Zollwesen auf Anfrage; aber man setze sich dafĂŒr ein, dass «schwerwiegende FĂ€lle» von Grundrechtsverletzungen weiterhin «aufgearbeitet werden mĂŒssen».

Die Kriminalisierung von GeflĂŒchteten habe in Griechenland inzwischen System, kritisieren Aktivist*innen.
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Nicht unheilbar krank

Sans-Papiers Der Tod eines StrassenzeitungsVerkĂ€ufers zeigt, wie schwierig es fĂŒr Sans-Papiers in Nordmazedonien ist, Gesundheitsversorgung zu erhalten.

Vor genau einem Jahr wurde der VerkĂ€ufer des Strassenmagazins Lice v Lice (deutsch «Von Angesicht zu Angesicht») Memet Kamber in die Klinik fĂŒr AnĂ€sthesie, Wiederbelebung und Intensivpflege (KARIL) in der nordmazedonischen Hauptstadt Skopje eingeliefert. Der Blutzuckerspiegel des 20-JĂ€hrigen hatte eine Grenze ĂŒberschritten, die zu einer gefĂ€hrlichen Überzuckerung, einer sogenannten HyperglykĂ€mie, gefĂŒhrt hatte. Vieles deutete darauf hin, dass bereits Jahre der Behandlung verpasst worden waren. «Memet Kamber hatte höchstwahrscheinlich Typ-1-Diabetes, was bereits in der Kindheit auftritt. Er lebte womöglich schon lange mit HyperglykĂ€mie und wurde erst zu uns gebracht, als diese einen zu hohen Wert erreichte», sagt Maja Mojsova, die behandelnde AnĂ€sthesistin. «Der Schaden war schon zu gross.» Kamber verstarb an einer Krankheit, die man mit der richtigen Behandlung hĂ€tte in den Griff bekommen können.

Kamber lebte in extremer Armut. Er wuchs als Angehöriger der Rom*nja-Minderheit ohne festen Wohnsitz auf und hatte keine offiziellen Ausweisdokumente und dadurch auch kein Anrecht auf staatliche UnterstĂŒtzung. Er verkaufte die nordmazedonische Strassenzeitung Lice v Lice, etwa 150 Hefte im Monat. Sein regelmĂ€ssiges Einkommen belief sich damit auf durchschnittlich 120 Euro im Monat. Ohne Ausweisdokumente galt der junge Mann als staatenlos im eigenen Land, ein Sans-Papiers

ohne Migrationsgeschichte. Seit langem schon hatte sich sein Gesundheitszustand zusehends verschlechtert. Kamber konnte jedoch keine Ärztin aufsuchen und sich untersuchen lassen: Ohne Papiere war ihm auch der Zugang zum nordmazedonischen Gesundheitssystem verwehrt. Dass er Diabetes hatte, wusste niemand.

«Bei einer diabetischen Ketoazidose, also einem schweren Mangel an körpereigenem Insulin, sind die Patient*innen anfĂ€lliger fĂŒr Infektionen, da der hohe Blutzucker ein guter NĂ€hrboden fĂŒr Bakterien ist. Dadurch werden andere gesundheitliche Komplikationen noch verschlimmert. WĂ€re Kamber rechtzeitig behandelt worden und hĂ€tte man den Blutzuckerspiegel vorher reguliert, hĂ€tte er vielleicht eine Chance gehabt. Er wurde wahrscheinlich nie untersucht. Wir können nicht wissen, ob er noch andere Krankheiten hatte. Wir haben um sein Leben gekĂ€mpft. Bei den meisten jungen Menschen, die von klein auf einen Insulinmangel haben, wird dies in der Regel rechtzeitig erkannt und behandelt», erklĂ€rt die AnĂ€sthesistin Mojsova. «Dann sind auch solche Krisensituationen wie diese viel besser zu bewĂ€ltigen.» Bei KARIL werden viele Patient*innen eingeliefert, die nicht ĂŒber Ausweisdokumente verfĂŒgen. «In der Notaufnahme nehmen wir alle auf», sagt Mojsova. «Uns interessiert nicht, ob sie versichert sind oder nicht, ob sie auslĂ€ndische StaatsbĂŒrger*innen sind oder

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TEXT ANETA RISTESKA Memet Kamber litt wahrscheinlich schon als Kind an Diabetes, zum Arzt konnte er nie.

welches ihr Alter oder ihre NationalitĂ€t ist. In diesem Moment befindet sich jemand in einer lebensbedrohlichen Situation. Wir kĂ€mpfen um das Leben eines jeden.» Allerdings: Wenn Kamber das Krankenhaus nach einer weiterfĂŒhrenden Behandlung lebend verlassen hĂ€tte, hĂ€tte er diesen Aufenthalt nicht bezahlen können und wĂ€re auf einem Berg Schulden sitzen geblieben. Ohne ID konnte er wie viele andere nach damaliger Gesetzeslage keine Krankenversicherung bekommen.

Zu seinen Lebzeiten trĂ€umte Kamber davon, dass alles einfacher wĂŒrde, wenn er einmal den langwierigen Prozess der sogenannten IdentitĂ€tsfeststellung hinter sich hĂ€tte. An dessen Ende sollten die Betroffenen registriert sein und einen Ausweis erhalten. Doch dies habe sich hingezogen, berichtet Filip Peposki, Mentor am Tageszentrum fĂŒr Strassenkinder im Skopjer Stadtteil Ć uto Orizari, das Kamber regelmĂ€ssig besuchte. Erst erreichte er seinen einzigen lebenden Elternteil nicht. Die Mutter hĂ€tte aber bei der Beantragung seines ersten Ausweises anwesend sein mĂŒssen. ZusĂ€tzlich verlangte das Amt einen Nachweis, um seine Wohnadresse zu ermitteln, aber da Kamber keinen offiziellen Wohnsitz hatte, konnte ein entsprechendes Dokument nicht erstellt werden, und alles blieb liegen.

Gesetzesreformen verabschiedet «Memet Kamber war engagiert und hatte den Wunsch, zu arbeiten und sich weiterzubilden. Sein grösstes Anliegen aber war es, einen Ausweis zu bekommen. Wir waren auf dem besten Weg. Es tut mir leid, dass er nicht miterleben konnte, wie sein Traum vom eigenen Ausweis und einer regelmĂ€ssigen BeschĂ€ftigung in ErfĂŒllung ging», sagt Magdalena Chadinoska Kuzmanoski von Public, der TrĂ€gerorganisation von Lice v Lice; sie ist hier Mentorin fĂŒr Arbeitsintegration. Neben dem Tageszentrum fĂŒr Strassenkinder, das rund hundert sogenannte Strassenkinder regelmĂ€ssig betreut, war Public eine hilfreiche Anlaufstelle fĂŒr Kamber. «Er war VerkĂ€ufer bei uns, wir haben ihn durch unser Mentoring-Programm auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet», sagt Chadinoska Kuzmanoski. Das Strassenmagazin Lice v Lice ist Teil der NGO Public, die Arbeitsintegrationsprogramme fĂŒr marginalisierte Bevölkerungsgruppen anbietet. Der Strassenzeitungsverkauf ist ein Angebot unter anderen und wird durch persönliches Mentoring begleitet.

Dank einer Initiative der Macedonian Young Lawyers Association (MYLA) in Zusammenarbeit mit anderen Menschenrechtsorganisationen wie dem European Roma Rights Centre (ERRC) wurden zwischen Sommer und Herbst 2023 mehrere Gesetzesreformen verabschiedet. Sie ermöglichen es sozial benachteiligten Personen, die in «illegalen Einrichtungen» oder in inoffiziellen UnterkĂŒnften leben, Zugang zu Ausweisdokumenten zu erhalten. «Wir erinnern [die Verantwortlichen] daran, dass das Recht auf Leben und Gesundheitsversorgung grundlegende Menschenrechte sind und dass alle BĂŒrger*innen Zugang zu Gesundheitsversorgung haben mĂŒssen, unabhĂ€ngig davon, ob sie Ausweispapiere besitzen», begrĂŒndete MYLA ihr Anliegen.

MYLA-AnwĂ€ltin Alexandra Efremova, die auf Staatenlosigkeit spezialisiert ist, findet es unverstĂ€ndlich, dass im 21. Jahrhundert junge Menschen «unsichtbar» sterben, obwohl sie sich bemĂŒhen, in die Gesellschaft integriert zu werden. Die Herausforderungen, mit denen Sans-Papiers konfrontiert sind, seien komplex. LösungsansĂ€tze mĂŒssten deshalb flexibel sein. «Menschen ohne

Situation in der Schweiz

In der Schweiz haben Sans-Papiers wie alle Menschen Zugang zu allen Gesundheitsleistungen, welche die obligatorische Krankenversicherung abdeckt. Allerdings nur, wenn sie krankenversichert sind. Und genau das ist die ĂŒberwiegende Mehrheit der Sans-Papiers nicht. In vielen Kantonen erhalten sie deshalb lediglich Notfallversorgung. Weiter gehen etwa der Kanton Genf und seit kurzem die Stadt ZĂŒrich. Mehr dazu sowie zur Situation in Bern und Basel lesen Sie im Artikel «Keine Papiere, keine Medizin» aus Surprise 573/24 (online unter surprise.ngo/ magazine oder nachbestellen via info@surprise.ngo). LEA

festen Wohnsitz mĂŒssen das Recht haben, eine Adresse von einem Zentrum fĂŒr Sozialarbeit oder eine Adresse der Gemeinde, in der sie leben, als Wohnadresse anzugeben. Oder aber der Prozess muss erleichtert werden, der erforderlich ist, um Ausweispapiere zu erhalten.» Der erste Schritt ist nun geschafft. Efremova weist aber darauf hin, dass es weiterhin SensibilitĂ€t fĂŒr die Betroffenen braucht und vor allem Offenheit seitens des Systems. «Wer wie Memet Kamber ohne Papiere auf die Welt kommt, steht vom ersten Tag an vor einem rechtlichen Problem. Und zwanzig Jahre spĂ€ter hatte er immer noch dieselben Probleme. Nun ist es mĂŒssig, herausfinden zu wollen, wer im Fall Memet Kamber die Schuld trĂ€gt. Aber man kann jetzt verhindern, dass so etwas in Zukunft noch einmal passiert.» Auch die europĂ€ischen Aktivist*innen vom European Roma Rights Centre bleiben skeptisch. «Viel zu lange haben staatenlose und von Staatenlosigkeit bedrohte Rom*nja ein unsicheres und unsichtbares Leben gefĂŒhrt und hatten keinen Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und Grundrechten», sagt Đorđe Jovanović, PrĂ€sident des ERRC. «Diese Gesetzesreformen sind zu begrĂŒssen. Aber der Beweis wird in der Umsetzung liegen, und es wird eine genaue Überwachung erforderlich sein, um sicherzustellen, dass das System funktioniert und die am meisten gefĂ€hrdeten Rom*nja vor allen Formen der Diskriminierung schĂŒtzt.»

Valentin Rakip, ebenfalls ehemaliger VerkĂ€ufer von Lice v Lice, gelang es im September letzten Jahres nach fast zwei Jahrzehnten, eine Sozialversicherungsnummer und eine Geburtsurkunde zu erhalten; unterstĂŒtzt wurde er dabei von MYLA, der Zivilgesellschaft und vom UNHCR, der GeflĂŒchtetenorganisation der UNO. Nun wartet er auf seinen ersten Ausweis.

Sein verstorbener Freund und Kollege Memet Kamber erlebt dies nicht mehr mit. Er war gern StrassenzeitungsverkĂ€ufer und sah darin mehr als nur eine Integrationsmassnahme, wie er 2021 gegenĂŒber dem Internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen (INSP) sagte (zu dem auch Surprise gehört): «FĂŒr mich bedeuten Strassenzeitungen viel mehr als nur ein Job. Es bedeutet Inspiration – ich mag Rap- und Hip-Hop-Musik, und wenn ich auf der Strasse bin, inspiriert mich das zu den Songs, die ich schreibe. Die Kommunikation mit anderen Menschen ist sehr wichtig – sie gibt mir ein GefĂŒhl von Zugehörigkeit.»

Mit freundlicher Genehmigung von LICE V LICE/INSP.NGO Aktualisiert und ĂŒberarbeitet von Sara Winter Sayilir mit Hilfe von Lice v Lice-Programmleiterin Maja Ravanska.

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FOTO: ZVG

Wer von euch kennt es auch?

Kunst Das Projekt «Oh, Darling, du zerfĂ€llst mir sehr» nĂ€hert sich multidisziplinĂ€r dem Thema VergĂ€nglichkeit – und entdeckt in der Empathie mit einem HĂ€uschen gemeinschaftliche Momente neu.

Schichten der Vergangenheit: ein zerfallendes HĂ€uschen, Fahrten im alten Mercedes, und der Jahrmillionen alte Verrucano, der wegen des Eisengehalts schwer ist.

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Manchmal staunt man, was andere alles wahrnehmen. Als die Kulturschaffende und Autorin Andrea Keller an einer Lesung einen Text ĂŒber dieses bestimmte zerfallende kleine HĂ€uschen in Mels im Kanton St. Gallen, neben der Autobahn A3 und dem Schienenstrang, vorliest und ins Publikum fragt: Wer von euch kennt es auch?, reagieren gleich mehrere Anwesende mit einer selbstverstĂ€ndlichen Begeisterung. Und zwar in ZĂŒrich Wiedikon, weit weg von Mels.

Man scheint es also zu kennen, dieses eigentlich recht unspektakulĂ€r, aber sehr grĂŒndlich zerfallende HĂ€uschen. Dabei kann man es auch leicht ĂŒbersehen, es steht abseits und geht einfach kaputt, senkt sich immer tiefer zum Erdboden hinab. Und doch haben viele diesen Seitenblick darauf: Es interessiert, ob es immer noch dasteht.

«Ich habe immer mit diesem Objekt sympathisiert. Es ist fĂŒr mich auch eine wunderbare ProjektionsflĂ€che», sagt Keller. «Das Abseitsstehen ist oft sehr negativ konnotiert. Sachen, die kaputtgehen, Dinge, die nicht mehr funktional sind, haben keinen Platz mehr in unserem Alltag, in unserer Welt. Sie sind nicht reprĂ€sentabel. Das Zerfallende ist kein AushĂ€ngeschild. Und doch fasziniert es uns: das HĂ€uschen, das sich so trotzig gegen die Zeit stemmt.»

Es wurde nun also zum Ausgangspunkt eines Kunstprojekts, das in ein Buch, einen Film, in GesprĂ€chsrundfahrten in einem alten Mercedes und in eine Fotoausstellung mĂŒndet: «Oh, Darling, du zerfĂ€llst mir sehr» lautet der Titel. Es geht dabei um VergĂ€nglichkeit, um unvorstellbare Zeitspannen, um die Geschichte, die in Materialien steckt, im Holz des HĂ€uschens, im Stein vor Ort. Es geht aber auch ums Abseitsstehen, ums Übersehenwerden. Und um die Poesie in all dem.

In der Zweikanal-Videoprojektion von Raphael ZĂŒrcher rauschen die Autos am HĂ€uschen vorbei, sie spiegeln sich in den zerbrochenen Fensterschreiben, blitzen kurz auf – und weg sind sie, wĂ€hrend der morsche Giebel am Wegesrand weiter in sich zusammensackt. Im Grunde legt das Projekt offen, wie sehr das scheinbar NebensĂ€chliche aus dem Augenwinkel doch gesehen und erkannt, auch anerkannt wird. Man spricht es nur oft nicht aus, solange niemand in die Runde fragt: Wer von euch kennt es auch?

Zum HĂ€uschen kam bald der Steinbruch dazu, wo der Verrucano abgebaut wird, seit 1854 im Familienbetrieb der

Ackermanns, zu dem auch dieses ehemalige ArbeiterhĂ€uschen gehört. Mit dem Stein kam zur VergĂ€nglichkeit die vermeintliche BestĂ€ndigkeit ins Projekt. Ein Zeitstrahl, der vor 260 Millionen Jahren anfĂ€ngt und bis ins Jetzt fĂŒhrt. Zudem ein StĂŒck Industrie- und Arbeitergeschichte. Andrea Keller hat das Museum Schaffen in Winterthur mitaufgebaut, das sich mit einem historisch-soziologischen Zugang dem Thema Arbeit widmet. Trotzdem wurde «Oh, Darling» mit dem Steinbruch nicht zum industriegeschichtlichen Lehrpfad. «Mich hat es aber sehr gefreut, dass so etwas Handfestes dazukam. Das Handwerk, das BaugeschĂ€ft und der Steinbruch. Dadurch waren schnell auch Menschen involviert, die nicht zur Kultur-Bubble gehören, und wir wollten ihrer Geschichte Raum geben. Zusammen fĂŒhrten wir auch SteinbruchfĂŒhrungen durch.»

Disco im Fels, Energie im Stein In der Videoprojektion grĂ€bt sich auf dem zweiten Monitor eine DrehsĂ€ge durch den Stein, frĂ€st sich durch die Jahrmillionen. Eine Steinplatte wird an einem Haken hochgehoben, der Handwerker arbeitet in einer sorgfĂ€ltigen Langsamkeit gegen die Schwerkraft an. Der Mensch und das Material. Der Mensch und der Berg. Der Mensch und dieser Speicher von Zeit und Zeitlichkeit. Es folgen farbige Spotlights, die auf dem Fels in der Höhle tanzen. Silhouetten von Jugendlichen, die einen Felsvorsprung erklimmen. Mit der Disco des Wald- und Höhlenfestes Mels kommt etwas Tranceartiges ins Gestein, und in den Texten der Buchpublikation erfahren wir vom Kraftort, der hier bestehen soll, oder vom Ritter Tannhuser, dessen Geschichte mit diesem Ort verwachsen ist. Es geht um flĂŒchtige Momente des Menschseins, aber auch um Energien, die im Stein gefangen sind (und in der Buchpublikation im Text von Gabriella Alvarez-Hummel recht rational nachvollzogen werden: «  und weil ich irgendwie darauf vorbereitet war, hier allenfalls auf Kommando zu spĂŒren, atme ich einmal tief durch und: spĂŒre»).

Das vom Grafikdesigner Paolo Monaco sorgsam gestaltete Buch versammelt vielfÀltige ZugÀnge zu Mels, zu dem Stein, dem HÀuschen, der VergÀnglichkeit: in der einen Leserichtung mit einer Reihe von journalistisch-dokumentierenden BeitrÀgen, in der anderen mit lyrisch-literarischen Texten, und in der Mitte mit atmosphÀrischen Fotos von Ariane Pochon.

In den GesprĂ€chsrundfahrten im alten Mercedes wurde man, mit einem Verrucano-Stein als Souvenir in der Hand, in GesprĂ€che ĂŒber die VergĂ€nglichkeit verwickelt. Je nachdem lief ein eigens erstelltes Radioprogramm mit alten Songs, zu denen man durch die Landschaft fuhr, am zerfallenden HĂ€uschen vorbei (Seitenblick von ca. 11 Sekunden), um dann wieder ins GesprĂ€ch einzutauchen, in dem es um verstorbene MĂŒtter ging oder darum, was das heisst, «sein Leben gelebt haben». Um Demenz und dann doch wieder um die Frage, wieso der Verrucano eigentlich so rot sei (es liegt am hohen Eisengehalt). Keine Rundfahrt war gleich: «Bei einigen Passagier*innen ging es wirklich um den Tod, bei den nĂ€chsten ums LĂ€delisterben oder um die Landschaft rundherum, je nachdem, was sie selbst erzĂ€hlen und fragen mochten», sagt Keller.

Es sind gemeinschaftliche Momente, die hier entstanden. Die GesprĂ€chsrundfahrten gab es nur in der bereits vergangenen Etappe in Mels, es folgen nun aber weitere Stationen mit Lesungen, FilmvorfĂŒhrungen und einer Fotoausstellung. In ZĂŒrich gibt es zudem ein PodiumsgesprĂ€ch: «Wir versuchen das Element des GesprĂ€chs so an andere Orte zu transferieren – wenn auch in einer klassischeren Form.» Und am Literaturfestival «Die Rahmenhandlung» lesen viele der Autor*innen der «Oh, Darling»-Publikation am gleichen Abend in verschiedenen RĂ€umen eines Wohnhauses. «Das Thema an sich hat etwas sehr Verbindendes, weil VergĂ€nglichkeit letzten Endes alle betrifft», sagt Keller. Und im schönsten Fall verbindet es auch Menschen, die im Leben sonst sehr unterschiedlich unterwegs sind.»

«Oh, Darling, du zerfĂ€llst mir sehr», Etappe ZĂŒrich: Lesungen mit Gabriella Alvarez-Hummel, Katja Alves, Franziska Hidber, Andrea Keller, Sunil Mann, Alon Renner, Christian Ruch, Tom Zai, Sa, 1. Juni, «Die Rahmenhandlung»; Fotoausstellung, bis Ende Juni, Vernissage Do, 6. Juni, Di bis Fr, 10 bis 19 Uhr, Sa, 10 bis 17 Uhr, «Never Stop Reading», Spiegelgasse 18 / Untere ZĂ€une; Film und Installation, Fr, 28. bis So, 30. Juni, 11 bis 20 Uhr, mit Raphael ZĂŒrcher, Kulturhaus Helferei; PodiumsgesprĂ€ch, Sa, 29. Juni, 19 bis 20.30 Uhr, Kulturhaus Helferei. Oktober / November weiteres Programm in Bern, Schaan, Winterthur. oh-darling.ch

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Veranstaltungen

Schaffhausen

«Who Cares?! Aktuelle Perspektiven auf Sorgearbeit», Ausstellung, So, 2. Juni bis So, 21. Juli, Do 18 bis 20 Uhr, Fr 16 bis 18 Uhr, Sa/So 12 bis 16 Uhr, Vebikus Kunsthalle Schaffhausen; mit etlichen Rahmenveranstaltungen vebikus-kunsthalle-schaffhausen.ch

Fudi putzen, Schuhe binden, Dreck wegrĂ€umen, Sachen aufrĂ€umen, Auftischen, Abtischen, Windeln wechseln, Kochen, Schnudernase putzen, KĂŒchenboden putzen, Einkaufen, Haushalten, Geschirr spĂŒlen: Vielleicht haben so manche von uns bei diesen Worten heute noch die FlĂŒche und den genervten Ton ihrer MĂŒtter im Ohr. (Meine warf jeweils mit den zynisch gefĂ€rbten Worten «Was kocht die kluge Hausfrau heute?!» und aggressivem Unterton Kartoffeln und Ă€hnliches in die Bratpfanne.) Nun, es sind viele Jahre verstrichen seit diesen Kindheitserinnerungen, aber Care-Arbeit gibt immer noch Stoff fĂŒr eine ganze Ausstellung her, was uns zu denken geben mĂŒsste. Und sie wird ja nicht nur von MĂŒttern geleistet, sondern auch von vielen anderen Menschen: auch ausserhalb des eigenen Haushalts, unter prekĂ€ren Arbeitsbedingungen und mit tiefen Löhnen. Covid sei dank reden wir heute mehr darĂŒber. Die Kunstschaffenden thematisieren in ihren Arbeiten fĂŒr «Who Cares?!» etwa, wie sich Sorgearbeit auf Emotionen auswirken. Oder sie formulieren WĂŒnsche, Begehren und Kritik, die hinter Care-Praktiken stecken. DIF

ZĂŒrich

«Symphony in the Streets of Addis», Fotoausstellung, bis Di, 9. Juni, Photobastei, Sihlquai 125 photobastei.ch derandereblick.ch

Eyerusalem Adugna Jiregna, geboren 1993, hat in Äthiopien und in den USA studiert und lebt und arbeitet seit knapp zehn Jahren als Fotografin und Modedesignerin in Addis Abeba. Als Fotografin arbeitet sie dokumentarisch und interessiert sich fĂŒr die Menschen ihrer Stadt, sie zeigt einfĂŒhlsame PortrĂ€ts und die lebendige AlltagsrealitĂ€t der Einwohner*innen. Gleichzeitig hat sie einen Blick fĂŒr knallige Farben. International bekannt wurde sie 2017 mit Bildern von Frauen in Harar, einer muslimischen Stadt im Osten des Landes. In ihren Bildern entfalten sich Er-

zĂ€hlungen, mit denen sie durchaus auch die Absicht verfolgt, Vorurteile ĂŒber ihr Land abubauen: «Es gibt viele Geschichten ĂŒber mein Land, die nur von Hungersnöten und Krankheiten handeln, aber es gibt

auch andere Dinge, die hier geschehen, die schön und fortschrittlich sind, und ich möchte, dass andere Menschen die Prozesse, die wir durchlaufen, zu schĂ€tzen wissen –dass sie die Schönheit darin sehen.» Die Ausstellung ist organisiert durch den Verein «Der andere Blick», der den Fokus auf Fotografinnen (explizit Frauen) aus Afrika und Asien richtet. DIF

Bern

«Obdachlosigkeit –sichtbar unsichtbar», Podiumsdiskussion, Di, 11. Juni, 18.30 bis 20 Uhr, Polit-Forum Bern, Podiumssaal, 4. OG, Demokratie-Turm, KĂ€ïŹgturm, Marktgasse 67 polit-forum-bern.ch

Eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW von 2022 zeigt, dass schweizweit schĂ€tzungsweise 2200 Menschen obdachlos sind. Die Ursachen sind vielfĂ€ltig und oftmals miteinander verbunden: Wohnungskrise und steigende Lebenskosten, gesellschaftlicher Ausschluss wegen fehlenden Aufenthaltsrechten, sowie psychische Erkrankungen und Suchtbeschwerden. Und: All das nimmt zu, die Zahl der obdachlosen Menschen steigt. WĂ€hrend das Europaparlament erklĂ€rt hat, es wolle die Obdachlosigkeit bis 2030 abschaffen, gibt es in der Schweiz keinen nationalen Ansatz. In einzelnen StĂ€dten gibt es aber Strategien, in der Stadt Bern etwa die «Strategie Obdach 2024 – 2027». Dennoch, das Thema Obdachlosigkeit bekommt in der Politik zu wenig Aufmerksamkeit. Warum ist das so und wie könnte das verĂ€ndert werden? Wer ist verantwortlich? Welche nachhaltigen Lösungen gĂ€be es? Es diskutieren Jörg Dittman, Autor der erwĂ€hnten Studie, Ruedi Löffel von der Kirchlichen Gassenarbeit Bern, Roger Meier, Surprise-StadtfĂŒhrer in Bern, und Franziska Teuscher, GemeinderĂ€tin Stadt Bern. Klaus Petrus, Co-Lei-

tung Strassenmagazin Surprise, moderiert. Die Veranstaltung entsteht in Zusammenarbeit mit dem Kornhausforum Bern und dem Strassenmagazin Surprise im Rahmen der Ausstellung «Wie Strassenzeitungen Leben verĂ€ndern –How Street Papers Change Lives» im Kornhausforum Bern. DIF

Winterthur

«Reality Check! Arbeit, Migration, Geschichte(n)», Ausstellung, bis Jan. 2025, Mi bis So, 11 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Museum Schaffen, Lagerplatz 9 museumschaffen.ch

Die Themen Arbeit und Migration sind aufs Engste miteinander verbunden. Beide haben Winterthur gross gemacht, sind prĂ€gend fĂŒr Kultur und Gesellschaft in dieser Stadt, in der Schweiz ĂŒberhaupt. Das Museum Schaffen lĂ€dt nun ein, sich dem Thema Migration aus der Perspektive der Arbeit zu nĂ€hern. Zugewanderte Menschen waren stets prĂ€gend, fĂŒr die einst industriell geprĂ€gten Arbeiterstadt genauso wie fĂŒr die gegenwĂ€rtige Wissens- und Kulturstadt. Die Vielfalt der Migrationsstadt ist aber auch mit HĂŒrden und Ungerechtigkeit verbunden. Der Zugang ins Einwanderungsland und die Arbeitsmöglichkeiten sind streng reguliert. Im nachgebauten Migrationsamt beleuchtet die Ausstellung die komplexen Regelungen

der MigrationsbĂŒrokratie. Sind die Zulassungsverfahren fĂŒr viele Migrant*innen eine prĂ€gende Erfahrung, sind diese fĂŒr Schweizer BĂŒrger*innen meist eine unbekannte Welt. Davon berichten Winterthurer*innen mit Migrationsgeschichte. Zugleich geht «Reality Check!» der Frage nach, wie das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft der letzten 100 Jahre organisiert und im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen BedĂŒrfnissen, staatlichen Regulierungen und zivilgesellschaftlichen Anliegen immer wieder neu verhandelt wurde. DIF

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BILD(1): MARVIN JUMO, BILD(2): EYERUSALEM ADUGNA JIRENGA, BILD(3): KLAUS PETRUS, BILD(4): WINBIB

Tour de Suisse

Pörtner in WĂŒrenlingen

Surprise-Standorte: Aarepark

Einwohner*innen: 5 116

Anteil AuslÀnder*innen in Prozent: 27,2

Sozialhilfequote in Prozent: 0,7

Ausbau und Eröffnung Megastore Aarepark: MÀrz bis November 2022

Junge MĂ€nner in T-Shirts, die erschossener Rapper gedenken, schlĂŒrfen an den Tischen des Grossverteilerrestaurants MilchkaffeegetrĂ€nke aus Plastikflaschen, was nicht so recht zur Gangster-AttitĂŒde passen will. Der Familienvater, der um vier Uhr nachmittags Bratwurst mit Pommes isst, trĂ€gt eine LA-BaseballmĂŒtze und TĂ€towierungen, seine Begleiterin einen pinken Haarschopf auf dem Kopf und Piercings im Gesicht, was aber keinerlei Aufsehen erregt. In dem Restaurant sitzen ausserdem Dreigenerationenfamilien, alte Ehepaare mit kleinen Hunden, Senioren, die auf Handys starren und hier parkiert wurden, damit sie beim Einkaufen nicht im Weg herumstehen, aber danach die TĂŒten ins Auto tragen helfen. Es gibt auch Leute, die dieselben festen Einkaufstage haben und sich dabei «wie immer» zu einem Kaffee treffen. Sie

berichten, was in der vergangenen Woche so geschehen ist, welches Auto erworben wurde, denn ohne das geht es hier nicht. Dringlich abgeraten wird von Fahrten in die Grossstadt, aufgrund der dort erhobenen horrenden ParkgebĂŒhren. Hier ist es weitaus gĂŒnstiger.

Neben dem obligaten LebensmittelhĂ€ndler gibt es ein paar KleidergeschĂ€fte, fĂŒr Frauen, fĂŒr Kinder, fĂŒr Jugendliche. Nur MĂ€nner scheinen sich anderswo einzukleiden. Schuhe und Sportartikel sind erhĂ€ltlich, ebenso Haushaltwaren und elektronische GerĂ€te. Es gibt eine Buchhandlung, die neben BĂŒchern einen Haufen anderer Dinge verkauft, die der Freizeitgestaltung oder Hausdekoration dienen, wie Yogamatten, GymnastikbĂ€lle, MassagegerĂ€te, Badesalze, Duftkerzen. Buddhastatuen oder Klangschalen. Ein gewisser Überhang an

entspannungsfördernden Artikeln ist nicht zu verkennen. Wahrscheinlich ist das Leben auf dem Land eben doch stressiger, als es scheint, denn das Zentrum liegt idyllisch in einer HĂŒgellandschaft, die namengebende Aare fliesst in der NĂ€he vorbei. Das GebĂ€ude verfĂŒgt ĂŒber zwei Stockwerke und eine Tiefgarage, eine geschwungene FussgĂ€ngerbrĂŒcke fĂŒhrt ins Do-it-Yourself-Center hinĂŒber, das Restaurant bietet eine grosszĂŒgige Terrasse mit Aussicht ins GrĂŒne und auf den Fussballplatz. Drinnen verspricht der Kids Club im 1. OG ein Jahr voller Spass. Das Programm diesen Monat unter anderem: Glitzer-Tattoos, Handballspass, Fajita- und Foto-Spass. Am Ausgang wirbt eine Demenzklinik, Zielpublikum sind Personen am anderen Ende des Generationenspektrums.

Der Elektronikhandel ist bereit fĂŒr den Sommer, es stehen Ventilatoren und Luftbefeuchter bereit. Weiter vorne warten hochgezĂŒchtete Wasserpistolen, Poolnudeln und Plastikschwimmbecken auf den Sommer, der bald hereinbrechen sollte. Die Einkaufswagen, in denen Kleinkinder mitgefĂŒhrt werden können, haben die Form von Rennwagen und sehen aus, als wĂ€ren sie Ă€hnlich schwierig zu steuern.

Vor dem GeschĂ€ft des Telekom-Anbieters gibt es eine kleine Lounge mit gelborangen Polstermöbeln und einem zweiplĂ€tzigen Minikarussell, das mittels MĂŒnzeinwurf in Betrieb gesetzt werden kann. Dahinter wird Schmuck angeboten, der Verlobungsring scheint sich auch bei uns langsam durchzusetzen. Kinderkleider werden nebenan verkauft.

STEPHAN PÖRTNER

Der ZĂŒrcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzĂ€hlt, wie es dort so ist.

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Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfĂ€ltige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstĂŒtzen Sie Menschen in prekĂ€ren Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die EigenstĂ€ndigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fÀllt jenes Unternehmen heraus, das am lÀngsten dabei ist.

Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-RĂŒti

Arbeitssicherheit Zehnder, ZĂŒrich

Beat HĂŒbscher - Schreiner, ZĂŒrich

KMS AG, Kriens

Brother (Schweiz) AG, DĂ€ttwil Coop Genossenschaft www.wuillemin-beratung.ch

Stoll Immobilientreuhand AG GemeinnĂŒtzige Frauen Aarau

movaplan GmbH, Baden

Maya Recordings, Oberstammheim

Madlen Blösch, Geld & so, Basel onlineKarma.ch / Marketing mit Wirkung

Scherrer + Partner GmbH www.dp-immobilienberatung.ch

Kaiser Software GmbH, Bern

BuchhaltungsbĂŒro Balz Christen, DĂŒbendorf Heller IT + Treuhand GmbH, Tenniken

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden Bodyalarm GmbH - time for a massage Anyweb AG, ZĂŒrich

Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, ZĂŒrich FĂ€h & Stalder GmbH, Muttenz

Hypnose Punkt, Jegenstorf Unterwegs GmbH, Aarau

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto:

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel

Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewĂŒnschter Namenseintrag (max. 40 Zeichen inkl. Leerzeichen). Sie erhalten von uns eine BestĂ€tigung.

SURPLUS – DAS

NOTWENDIGE EXTRA

Das Programm

Wie wichtig ist Ihnen Ihre UnabhÀngigkeit?

Einige unserer VerkĂ€ufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestĂ€rkt sie in ihrer UnabhĂ€ngigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewĂ€hlten VerkĂ€ufer*innen zusĂ€tzliche UnterstĂŒtzung. Sie erhalten ein Abonnement fĂŒr den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei ïŹnanziellen Notlagen aber auch fĂŒr Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere UnterstĂŒtzungsbeitrĂ€ge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

Eine von vielen Geschichten Lange bemĂŒhte sich Haimanot MesïŹn um eine feste Arbeitsstelle in der Schweiz, doch mit einem F-Ausweis sind die Chancen klein. Sozialhilfe kam fĂŒr sie nie in Frage – sie wollte stets selbststĂ€ndig im Leben auskommen. Aus diesem Grund verkauft Haimanot MesïŹn seit ĂŒber zehn Jahren das Surprise Strassenmagazin am Bahnhof Bern. Dort steht sie bereits frĂŒh morgens und verkauft ihre Magazine. Das Begleitprogramm SurPlus unterstĂŒtzt sie dabei mit einem ÖV-Abo sowie Ferienund Krankentaggelder. Dank der Begleitung auf dem Berner Surprise-BĂŒro hat sie eine neue Wohnung gefunden. Nach langer Zeit in einer 1-Zimmer-Wohnung haben sie und ihr Sohn nun endlich etwas mehr Platz zu Hause.

Weitere Informationen gibt es unter: surprise.ngo/surplus

UnterstĂŒtzen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende

Derzeit unterstĂŒtzt Surprise 29 VerkĂ€ufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

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· 1 Jahr: 6000 Franken

· œ Jahr: 3000 Franken

· Œ Jahr: 1500 Franken

· 1 Monat: 500 Franken

· oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

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Kontakt: Clara Fasse Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 AB 500.– SIND SIE DABEI!

#571: Hier steckt Potenzial Die schlichten – aber vielleicht gerade darum so ausdrucksstarken – Illustrationen dieser jungen Menschen von Anwar haben mich sehr berĂŒhrt. Vielleicht war es die Perspektive (das Bild erlaubte nur einen Blick auf den Hinterkopf), die nicht nur die empörende Namenlosigkeit einïŹng (keine Gesichter) und gleichzeitig so stark ausdrĂŒckte, dass diese Gesichter (die man nicht sieht) Augen haben, die in die Weite schauen, Perspektiven suchen, Zukunft ersehnen.

MARTA LOCKRIDGE, ohne Ort

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#572: TrÀumen von der weiten Welt

Kompliment zu eurem Marokko-Schwerpunkt! Interessant fand ich vor allem die PortrĂ€ts von jungen Menschen, die sich trotz aller Widrigkeiten dazu entschieden haben, ihre berufliche Zukunft in Marokko zu suchen. Allerdings wĂ€re da und dort eine kritische Nachfrage am Platz gewesen, etwa wo die junge StadtfĂŒhrerin in Rabat ihren Hass auf Frankreich Ă€ussert. Dass sie «damit vielen jungen Marokkaner*innen aus der Seele spricht», mag sein. Dennoch interessiert hier etwas genauer, womit der Hass auf die ehemalige Kolonialmacht genau begrĂŒndet wird, und worin sich das von ihr beobachtete «rassistische Verhalten» vieler (aller?) Franzosen Ă€ussert. (Zum Vergleich: wĂŒrde eine junge PalĂ€stinenserin Ă€hnlichen Hass auf Israel Ă€ussern, könnte Surprise es sich unmöglich erlauben, dies ohne weitere Kontextualisierung verstĂ€ndnisvoll stehen zu lassen.)

HEINZ GABATHULER, ZĂŒrich

#Strassenmagazin

Vor einigen Jahren habe ich per Zufall die Surprise Zeitschrift kennengelernt und sie recht regelmĂ€ssig gekauft. Ich finde die Idee sehr gut und das Lesen hat mir die Augen fĂŒr eine «andere Welt» in der Schweiz geöffnet. Wann Sie mit dem Gender-Stern begonnen haben, weiss ich nicht mehr. Ich fand es schade, dass Sie auf diesen Zug aufgesprungen sind. Ich finde diese Leseart nicht nur unnötig, sondern auch mĂŒhsam.

M. KURATLI, Riehen

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Surprise 576/24 29 Wir alle sind Surprise

«Zum GlĂŒck kann ich trotzdem arbeiten»

«Ich bin in RumĂ€nien aufgewachsen, in einem kleinen Dorf in der NĂ€he der Hauptstadt Bukarest. Ich habe fĂŒnf Geschwister, drei BrĂŒder und zwei Schwestern. Meine Mutter schaute zu uns Kindern und machte den Haushalt, der Vater hatte mal hier einen Job, mal dort, er brachte uns gerade so ĂŒber die Runden. In RumĂ€nien musste man froh sein, ĂŒberhaupt Arbeit zu haben, was sich bis heute nicht geĂ€ndert hat. Nach der obligatorischen Schulzeit, sie dauert bei uns acht Jahre, konnte ich keine Lehre machen, ich musste Geld verdienen. Mit neunzehn habe ich dann geheiratet. Mein Mann hatte MĂŒhe, Arbeit zu finden. In RumĂ€nien hat man nicht viele Perspektiven, und das ist auch der Grund, wieso viele junge Leute das Land verlassen.

Auch mein Mann und ich entschlossen uns fĂŒrs Weggehen. Wir lebten zuerst fĂŒnf Jahre in Frankreich, doch es war wirklich schwierig, dort Fuss zu fassen. Ich war zuhause bei meinen beiden Töchtern. Ich habe erst spĂ€t Kinder bekommen, das erste mit 31, beim zweiten war ich bereits Mitte dreissig. Ich weiss nicht wieso, ich nenne es Schicksal. Mein Mann lebte damals von Gelegenheitsjobs, die mehr oder weniger schlecht bezahlt waren. Also zogen wir weiter in die Schweiz, das war vor vier Jahren. Schon bald nach unserer Ankunft habe ich begonnen, Surprise-Hefte zu verkaufen. Mir gefĂ€llt es hier sehr gut, die Leute sind sehr freundlich, es gibt Arbeit, man kann ĂŒberleben.

Schwierig ist fĂŒr mich immer noch die Sprache. Ich spreche französisch, aber mein Deutsch ist nicht gut genug, um mich mit den Leuten, die bei mir Surprise kaufen, lĂ€nger zu verstĂ€ndigen. Allerdings gibt es auch viele Leute, die Französisch können. Ich bin sehr dankbar fĂŒr diese Arbeit und fĂŒr all die Kontakte –auch wenn es manchmal nur ein kurzes GesprĂ€ch ist und die Leute sich bei mir nach meiner Familie erkundigen, das tut mir gut.

Ich weiss, dass Menschen aus RumĂ€nien in der Schweiz kein so ein gutes Image haben, es heisst, wir wĂŒrden betteln oder seien kriminell. Vielleicht gibt es solche Leute, ich habe jedenfalls keinen Kontakt zu ihnen. So oder so ist RumĂ€nien ist ein sehr grosses Land, da kennt man nicht alle. Auch finde ich es nicht so gut, wenn man alle Menschen in einen Topf wirft.

Ich habe regelmÀssig Kontakt zu meinen Eltern in RumÀnien, sie sind jetzt beide bald achtzig Jahre alt. Meine

Geschwister sind dort geblieben. ZurĂŒck nach RumĂ€nien möchte ich trotzdem nicht, fĂŒr uns ist es besser hier. Meine beiden Töchter leben gerne in der Schweiz, sie gehen hier zur Schule, haben hier ihre Freunde.

Letztes Jahr erkrankte meine Mutter an Hautkrebs, das war sehr schlimm, denn sie musste lange im Spital bleiben. Seither versuche ich, sie möglichst oft zu besuchen. Allerdings ist das nicht gerade gĂŒnstig. Ein Flug nach RumĂ€nien kostet bald einmal 200 Franken, was viel Geld fĂŒr mich ist. Miete, Krankenversicherung, Essen – die Schweiz ist kein billiges Land. Aber das ist ja nicht nur fĂŒr mich so, sondern fĂŒr alle anderen auch. Umso wichtiger ist fĂŒr mich der Verkauf von Surprise. Ich wĂŒsste wirklich nicht, was ich ohne dieses Einkommen machen wĂŒrde.

Was ich mir wĂŒnsche fĂŒr die Zukunft? Ich leide inzwischen an Arthrose und habe im RĂŒcken und den Beinen die ganze Zeit Schmerzen. Das ist mĂŒhsam, aber wenn ich Schmerzmittel nehme, geht es, und ich kann zum GlĂŒck trotzdem arbeiten. Deswegen wĂŒnsche ich mir, meiner Familie und allen anderen fĂŒr die Zukunft eigentlich nur eines: eine gute Gesundheit.»

Aufgezeichnet von KLAUS PETRUS

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Surprise-PortrÀt
Sita Sarateanu, 51, verkauft Surprise in Lausen und Bubendorf. Sie kommt aus RumĂ€nien und wĂŒnscht sich fĂŒr die Zukunft vor allem gute Gesundheit.
FOTO: KLAUS PETRUS

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