ILLUSTRATION: DINAH WERNLI
VerkÀufer*innenkolumne
Der Mann in Orange Orange MĂŒtze, oranger Pullover, orange Jacke, orange Hose, orange Schuhe, oranger Rucksack. Welche Farben er drunter trĂ€gt, kann ich leider nicht sagen, aber ich tippe, so wie Sie vielleicht auch, auf â Orange. Immerhin bemĂŒhe ich mich redlich, mal einen Blick auf seine Socken zu erhaschen, doch blieb mir diese Offenbarung bisher verwehrt. Aber genug der Spekulationen. Ich wende mich wieder den gegebenen Tatsachen zu. Von Kopf bis Fuss ganz in Orange gekleidet, samt Accessoires. So kennt man ihn, den Mann um die vierzig. Mit erhobenem Haupt und verschmitztem LĂ€cheln, so, als wollte er sagen, ach rutscht mir doch alle den Buckel runter, bahnt er sich wĂ€hrend der Rushhour in der BahnhofunterfĂŒhrung zu Rapperswil seinen Weg durch die Menge, wohlwissend, dass er in seinem Aufzug einen unĂŒbersehbaren 6
Blickfang abgibt. Selbst im Winter, wenn sich die meisten in dunkle Farben kleiden, gibt er sich ganz in Orange, ohne Scheu, ohne Scham, wie eine wandelnde LitfasssĂ€ule. Er wĂ€re unzweifelhaft der ideale WerbetrĂ€ger fĂŒr jede Firma, die auffallen will. Doch neulich geschah das völlig Unerwartete, das Undenkbare, das Unvorstellbare. Und wenn das Unvorstellbare wahr wird, ist die Wirkung um ein Vielfaches stĂ€rker, als wenn das Vorstellbare wahr wird. Er kommt. MĂŒtze, Pullover, Jacke, Schuhe, Rucksack, wie gehabt und stilsicher in Orange. Aber was ist mit seiner Hose passiert? TrĂ€gt der Mann doch tatsĂ€chlich eine Jeans in schnödem Blau! Tags darauf thront auf seinem Kopf eine MĂŒtze in einem undefinierbaren Graublau, und noch einen Tag spĂ€ter erscheint er in hellblauen Sneakers, die auch schon
bessere Tage gesehen haben. Und ich sehe ihm tatenlos zu, wie er sein Image bröckeln lĂ€sst. Doch ich frage mich: Was ist bloss mit ihm passiert? Einst Stilikone und Trendsetter. Und jetzt? So verĂ€ndern wir Menschen uns stetig. Stets sind wir im Wandel begriffen. Was gestern gut fĂŒr uns war, muss es morgen nicht mehr sein. Ich geniesse diesen Wandel. Ich möchte keinen Tag zurĂŒck. URS HABEGGER, 65, verkauft Surprise seit dreizehn Jahren in der BahnhofunterfĂŒhrung von Rapperswil. Er schreibt nicht nur Kolumnen, sondern auch Kinderlieder. Und entwickelt sich dabei stetig weiter: Seit ein paar Tagen ist sein erstes Video mit fĂŒnfzehn seiner Kinderlieder auf YouTube zu ïŹnden: «Kinderlieder von Urs».
Die Texte fĂŒr diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern â Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
Surprise 502/21