Mittendrin in V
Beschwingt aus der Krise Ein musikalischer Streifzug durch zwei Jahre Pandemie – und die Playlist für den Weg aus ihr heraus
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Text und Foto rechts: Von Daniel Mutschlechner, probelokal.com
ede Zeit hat ihre Lieder. Wenn ich nur das Intro von „Un‘ estate Italiana“ von Gianna Nannini und Edoardo Bennato höre, fühle ich mich zurückversetzt in den unbeschwerten Sommer der Fußball-WM 1990. Und wenn jemand im Stile des Scorpions-Sängers Klaus Meine zu pfeifen beginnt, denke ich an „Wind Of Change“ und den unvergesslichen Zauber des Mauerfalls. Egal, ob es gute oder schlechte Zeiten waren – jeder Lebensabschnitt ist mit bestimmten Liedern verbunden. „Wonderwall“ von Oasis wurde zur Hymne der Maturareise ins spanische Lloret. Und in meinen Ohren liegt noch jetzt die Melodie, die im Radio lief, als ich an Omas Totenbett gerufen wurde.
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Die Musik wird bleiben
Als besondere Zeit wird dereinst auch die Corona-Pandemie in die Geschichte eingehen. Womöglich habe ich in ein paar Jahren den Baby-Elefanten vergessen. Und hoffentlich auch skurrile Kürzel wie FFP2 oder PCR aus den Erinnerungen gestrichen. Aber eines ist sicher: Die Lieder, die mich durch die Krise getragen haben, werden für immer nachklingen. Deshalb folgen nun ein paar subjektive Empfehlungen aus dem Probelokal: Welche Alben prägten die Pandemie? Und welche begleiten mich aus ihr hinaus? Der Reihe nach. In die Misere hineingeschlittert bin ich mit der Band The National, so viel steht fest. Als ich Ende 2019 unter tausenden Menschen in Zürich den mitreißenden Opener „Rylan“ mitsang, ahnte noch niemand, dass es das letzte große Konzert für lange Zeit sein würde. Der Bariton des Sängers Matt Berninger nahm beim wunderbaren „Light Years“ schon ein wenig der Tristesse vorweg, die uns wenig später ereilen sollte. Als mein Sohn Florian zu Beginn des ersten Lockdown Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ aus dem Fenster trompetete, zog die Gänsehaut über meinen Rücken. Denn es wurde uns bewusst: Es ist Krise. Aber wir halten zusammen und werden sie bewältigen. Naiv glaubte ich zunächst, dass der Spuk in wenigen Wochen vorbei sein werde. Und dass die Krise die Gesellschaft solidarischer und die Welt besser machen könnte. Man erfreute sich über den blauen Himmel ohne Flugzeuge, klatschte für Pfleger und Ärztinnen. Und lachte beim Anblick der noch ungewohnten Schutzmasken. Der anfänglichen Verwirrung versuchte ich mit Wortspielen zu begegnen. Ich kramte den Song „Die Wahrheit ist ein Virus“ des Elektro-Punk-Hoppers Rainer von Vielen aus der Plattenkiste. Oder Calexicos fast prophetischen Titel „Corona“, dessen Mariachi-Trompeten den Viren den Marsch blasen sollten. Angesichts zunehmender Aufregung erinnerte ich mein Umfeld an „Don’t Panic“ von Coldplay. Oder an einen der besten Popsongs aller Zeiten, Depeche Modes „Enjoy The Silence“, der die Empfehlung für die verordnete Ruhepause schon im Namen trägt.
Triste Zeiten, triste Lieder
Als ich den Ernst der Lage erkannte, suhlte ich mich in Nick Caves zutiefst spirituellen Album Ghosteen. Das Lied „Bright Horses“ wird meine Corona-Hymne bleiben. Es heißt zwar, dass in Krisenzeiten stets der Schlager boomt, um die Menschen abzulenken. Doch aufgesetzte Fröhlichkeit macht für mich alles nur noch schlimmer. Triste Zeiten erfordern melancholi-
© Mick Haupt via unsplash