Wenn man vom Teufel spricht - Heinz Rudolf Kunze

Page 35

KÖNNEN UND WOLLEN Früher wollten wir, daß der Spaß zur Pflicht wird. Heute wollen wir, daß die Pflicht Spaß macht.

Früher schlugen wir uns den Bauch voll und hatten

keinen. Heute haben wir den Salat und haben einen.

Früher näherten wir uns schockierend der Schallgrenze

und waren Fußball-Ultras. Heute nähert sich uns der Ver-

trauensarzt mit der Glitschcreme und dem Kolben der Ultra­ schalluntersuchung, der aussieht wie ein E ­ lektro­schocker.

Früher stellten wir uns die Nachrichtensprecherinnen

nackt vor. Heute sehen wir keine Nachrichten mehr.

Früher war die Selbstbefriedigung ein warmes Gefühl

in der rechten Hand. Heute lassen wir sie kühl links liegen. Früher waren wir überzeugt von jedem Wetter. Heute

haben wir immer den Verdacht, daß der Sonnenschein trügt und daß das Blaue am Himmel gelogen ist.

Früher schnupften wir den Schnee, als gäbe es kein

Morgen. Heute ist er der von gestern.

Früher waren wir hinterher völlig hin. Heute sind wir

schon vorher meistens weg. Und dabei immer diese fast

schon schmerzhafte Gewißheit, daß es gerade die Löcher in unserem Gedächtnis sind, in denen sich etwas Drittes verbirgt, das den Unterschied ausmachen könnte zwi-

schen früher und heute auf der einen Seite und etwas ganz anderem.

Eigentlich möchte man fließend rückwärts sprechen

können, um sich all das Entschwundene wiederzuholen.

37


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.