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Adéla Grimes Neusachliche Verhaltenslehren in der Prager deutschen Literatur

Univerzita Palackého v Olomouci Filozofickå fakulta

Neusachliche Verhaltenslehren in der Prager

deutschen Literatur

Olomouc 2020

Adéla Grimes

Neusachliche Verhaltenslehren in der Prager deutschen Literatur:

Otto Roelds Malenski auf der Tour, Hans Natoneks Kinder einer Stadt und Paul Kornfelds Blanche oder Das Atelier im Garten

BeitrÀge zur deutschmÀhrischen Literatur

Band 35

Opponenten: doc. Mgr. Jörg Krappmann, Ph.D.

Mgr. Jan Budƈåk, Ph.D.

Das Verfassen und Erscheinen der Publikation wurde durch die Förderungen des Ministeriums fĂŒr Schulwesen, Jugend und Sport der Tschechischen Republik und durch die UnterstĂŒtzung des Ministeriums fĂŒr Bildung, Wissenschaft und Forschung der Republik Österreich (BMBWF) ermöglicht.

1 EinfĂŒhrung ...................................................................................................

1.1 Prolog: „Es liegt in der Luft eine Sachlichkeit“. Eine BegriffsklĂ€rung ....................................................................................

1.1.1 Literatur und bildende Kunst: AnfÀnge und AusprÀgung der Neuen Sachlichkeit .....................

1.1.2 Architektur und Soziologie der Großstadt ...................................

1.1.3 Gattung, ErzÀhlstil und Thematik der neusachlichen Literatur............................................................

Die neusachliche Schamkultur ......................................................

1.2 Einleitendes zur Neuen Sachlichkeit und Prager deutschen Literatur................................................................

Forschungsstand, -ziele und

Herausgegeben und gedruckt von der PalackĂœ-UniversitĂ€t Olomouc

Univerzita Palackého v Olomouci

KĆ™Ă­ĆŸkovskĂ©ho 8, 771 47 Olomouc www.vydavatelstvi.upol.cz www.e-shop.upol.cz

Eine unbefugte Handhabung dieses Werkes ist Verletzung des Autorenrechtes und kann ein zivil-, verwaltungs- oder strafrechtliches Verfahren zur Folge haben.

Umschlagabbildung: Archivist: A Montmartre ‘Dancing’. Date: 1929 (Adobe Stock)

1. Ausgabe, Olomouc, 2020

© Adéla Grimes, 2020, E-Mail: adela.grimes@seznam.cz

© Univerzita Palackého v Olomouci, 2020

doi: 10.5507/ff.20.24457659

ISBN (drucken) 978-80-244-5765-9

ISBN (online : PDF) 978-80-244-5766-6

VUP 2020-0214 (drucken)

VUP 2020-0215 (online: PDF)

5
Inhalt
9
9
10
15
18 1.1.4
24
27 1.2.1
27
-methoden ...................................... 29 2 Verhaltenslehre der Arbeit: Otto Roeld und sein Roman Malenski auf der Tour............................................................................... 37 2.1 Der poetische Kaufmann Otto Roeld: Leben und Werk....................... 37
Kindheit und Studentenjahre (1892–1915) .................................. 38 2.1.2 Karriere und Tod (1915–1943) ...................................................... 41 2.2 Zum
Neuer Sozialtyp der Neuen Sachlichkeit ................................................. 46 2.2.1 Amerikanismus in der Profitgesellschaft ...................................... 48 2.2.2 Figuren der GeschÀftsreisenden in der Literatur der Moderne ......................................................... 50
Forschungsgegenstand
1.2.2
2.1.1
Angestellten-Diskurs:
........ 51
2.2.2.1 GeschÀftsreisende und Kaufleute bei Franz Kafka
....... 54 2.3
GeschÀftsreisender Malenski .............................. 57
Forschungsstand und Publikationsgeschichte ............................. 57 2.3.2 Aufbau und ErzÀhlstrategie ............................................................ 60 2.3.2.1 Peritexte .............................................................................. 65
2.2.2.2 Fleißers weibliche GeschĂ€ftsreisende Frieda Geier
Roelds neusachlicher
2.3.1
67
2.3.3 Verhaltenslehre der Arbeit in Malenskis neusachlicher GeschÀfts- und Lebenstour.............................................................

2.3.3.1 Anthropologie der Neuen Sachlichkeit in der Arbeitswelt 74

2.3.3.2 Malenski in der Krise ........................................................ 87

2.3.4 ViehhÀndler, Fleischhauer und Schlachthöfe............................... 90

2.3.4.1 Schlachthöfe in anderen Werken der Moderne ............. 92

2.3.5 Raum: Malenski unterwegs in der Provinz .................................. 94

2.3.6 Verkehr als zentraler Topos ............................................................ 98

2.3.7 Der Ausklang .................................................................................. 102

3 Verhaltenslehre des Sportes: Hans Natonek und sein Roman Kinder einer Stadt.......................... 105

3.1 „The Czech humorist“ Hans Natonek: Leben und Werk .................... 105

3.1.1 Prager Kindheit und Adoleszenz (1892–1913) .......................... 107

3.1.1.1 Der Prager Kreis .............................................................. 109

3.1.2 Deutschland: Neue Heimat des jungen Journalisten (1913–1934) .................................................................................... 110

3.1.3 Exil in Europa: Prag und Paris (1934–1941) .............................. 113

3.1.4 Amerika: Natoneks letzte Heimat (1941–1963) ....................... 116

3.2 Sportliche Disziplin als neue Religion der 1920er und 1930er Jahre ................................................................... 117

3.2.1 Vier Pfeiler der Verhaltenslehre des Sportes .............................. 122

3.2.1.1 StabilitÀt: Training des Willens 122

3.2.1.2 Sport im Dienst der Ökonomie ..................................... 124

3.2.1.3 Fairplay.............................................................................. 127

3.2.1.4 Chancengleichheit ........................................................... 128

3.2.2 Körpermetaphorik in den Sportromanen .................................. 130

3.2.3 Kritik am Leistungssport: ‚Clash‘ zwischen dem Sport- und Kulturgeist ............................ 133

3.3 Hans Natoneks Kinder einer Stadt als Sportroman .............................. 135

3.3.1 Forschungsstand und Publikationsgeschichte ........................... 135

3.3.2 Aufbau und ErzÀhlstrategie .......................................................... 137

3.3.2.1 Peritexte ............................................................................ 144

3.3.2.2 Der Raum Prag: Kulturstadt oder Sumpf? ................... 146

3.3.3 Die Verhaltenslehre des Sportes in der Praxis ........................... 151

3.3.3.1 Dowidal als Sportler und Hochstapler.......................... 151

3.3.3.2 Epp: der ritterliche Sportler oder unbÀndiger Erotomane? ........................................ 163

3.3.3.3 Der KriegskrĂŒppel Waisl................................................. 174

3.3.4 Der Ausklang .................................................................................. 179

4 Verhaltenslehre der Liebe: Paul Kornfeld und sein Roman Blanche oder Das Atelier im Garten 181

4.1 Paul Kornfeld: der ‚kleinwĂŒchsige‘ Expressionist: Leben und Werk ....................................................................................... 181

4.1.1 Prager Kindheit und Jugend (1889–1914) ................................. 182

4.1.2 Frankfurt, Darmstadt und Berlin (1914–1927/28–1932)......... 185

4.1.3 Prag und Lodz (1932–1942) ......................................................... 187

4.2 Liebesbeziehungen und die Neue Frau ................................................. 188

4.2.1 Die neusachliche Liebe ................................................................. 188

4.2.2 Der Diskurs der Neuen Frau ........................................................ 194

4.3 Blanche oder Das Atelier im Garten als Vexierspiegel der Neuen Sachlichkeit .............................................. 198

4.3.1 Forschungsstand und Publikationsgeschichte ........................... 201

4.3.2 Aufbau und ErzÀhlstrategie ..........................................................

4.3.2.1 Der ErzÀhler ..................................................................... 208 4.3.2.2 Raumanalyse .................................................................... 212

4.3.3 Die unsachliche TrÀumerin Blanche vs. die Neue Frau als ihre Gegenspielerin................................... 214

4.3.3.1 Die Riedingers: traditionelle Mutter und moderner Vater ........................................................ 226

4.3.3.2 Die

4.3.3.4 Frau Leonhardt als unbeseeltes Objekt und der moderne Dandy ...................................

4.3.4 Blanches Bewerber und ihre Liebestaktik ..................................

4.3.4.1 Der verhinderte Frauenheld MĂŒller-Erfurt

4.3.4.2 Der selbstverliebte Reiche Heinzfurth ..........................

4.3.4.3 Der hochtrabende Radikale Stadel ................................

4.3.4.4 Passow als Vertreter der vorsachlichen Zeit.................

Feding, der nĂŒchterne Beobachter ..............................................

Der Ausklang ..................................................................................

6 7
205
fragile
Carola ........................................... 228 4.3.3.3 Die kampflustige Gisela 234
Vampirin
242
246
246
..................
250
254
257
260 4.3.6
262 5 Fazit ........................................................................................................... 265 6 Summary .................................................................................................. 271 7 Literaturverzeichnis ............................................................................... 275 7.1 PrimÀrliteratur .......................................................................................... 275 7.2 Forschungsliteratur .................................................................................. 277
4.3.5

1 EinfĂŒhrung

1.1 Prolog: „Es liegt in der Luft eine Sachlichkeit“.

Eine BegriffsklÀrung

Es liegt in der Luft eine Sachlichkeit

Es liegt in der Luft eine Sachlichkeit

Es liegt in der Luft, es liegt in der Luft, in der Luft

Es liegt in der Luft was Idiotisches

Es liegt in der Luft was Hypnotisches

Es liegt in der Luft, es liegt in der Luft

Es geht nicht mehr raus aus der Luft

Fort mit Schnörkel, Stuck und Schaden

Glatt baut man die Hausfassaden

NĂ€chstens baut man HĂ€user bloß

Ganz und gar fassadenlos

Krempel sind wir ĂŒberdrĂŒssig

Viel zu viel ist ĂŒberflĂŒssig

Fort die Möbel aus der Wohnung

Fort, mit was nicht hingehört

Ich behaupte ohne Schonung: „Jeder Mensch, der da ist, stört!“1

In diesem schneidigen Liedtext aus der Revue „Es liegt in der Luft (Ein Spiel im Warenhaus)“ verhöhnte das Erfolgsduo Schiffer und Spolianski bereits 1928 den Zeitgeist der sich etablierten Sachlichkeit sowie die neue Konsumgesellschaft, in der man immer mehr Zeit in Einkaufszen-

1 Carmela Thiele: „Es lag was in der Luft“, Beitrag vom 14. Juni 2005, URL: http:// www.deutschland./lag-was-in-der-luft.932.de.html?dram:article_id=129011, letzter Zugriff 8. 6. 2020.

9

tren verbringt, um der Monotonie des Alltags zu entfliehen.2 Die (Neue) Sachlichkeit wird in der Zwischenkriegszeit also nicht nur als ein Terminus fĂŒr die neue Malerei und Literatur benutzt, sondern auch fĂŒr das LebensgefĂŒhl der Epoche der ‚Goldenen Zwanziger‘. Im Folgenden werden neben der KlĂ€rung des Begriffs der ‚Neuen Sachlichkeit‘ grundlegende Konzepte vorgestellt, anhand derer in der vorliegenden Publikation ErzĂ€hltexte der Prager deutschen Literatur analysiert werden, die man, wie sich zeigen wird, als neusachlich verstehen kann.

1.1.1 Literatur und bildende Kunst:

AnfÀnge und AusprÀgung der Neuen Sachlichkeit

Die literarische Neue Sachlichkeit etablierte sich allmĂ€hlich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und löste die turbulente Epoche des Expressionismus ab. In der grundlegend verwandelten Welt der 1920er Jahre gab es fĂŒr die kosmische Poesie, fĂŒr ekstatische GefĂŒhle und das Pathos der ‚O-Mensch-Periode‘ des Expressionismus keinen Raum mehr. Die Gesellschaft wurde zur ernĂŒchterten Massen-Geldgesellschaft und verließ folglich die Ideen des Expressionismus als einen Irrweg. Das Hier und Heute bzw. der Alltag und die unmittelbare Umgebung gerieten ins Zentrum des Interesses, wĂ€hrend der Mensch nicht mehr den ausschließlichen Fokus bildete. Gregor Streim spricht im Zusammenhang mit der neusachlichen Epoche sogar vom Ende des Anthropozentrismus, d. h. von einer anderen, nicht-mehr-anthropozentrischen Moderne.3

Die Ablehnung des Expressionismus ließ sich zwar auch in anderen avantgardistischen Bewegungen, wie dem Dadaismus oder dem Futurismus, beobachten, aber es war erst die Neue Sachlichkeit, die vollkommen gegensĂ€tzliche Tendenzen aufwies. Da die poetische Sprache der Neuen Sachlichkeit systematisch die dynamische, appellativische, symbolische oder pathetische Ausdrucksweise vermied, wurde sie sogar oft als Anti-

2 Marcellus Schiffer schrieb den Text des Liedes und Mischa Spoliansky komponierte die Musik. Das Duett wurde von Oskar Karlweis und der noch unbekannten Marlene Dietrich gesungen.

3 Siehe Gregor Streim: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950, Berlin, De Gruyter 2008, S. 8.

Expressionismus bezeichnet. Nach Baßler ist die Neue Sachlichkeit „die ernĂŒchterte, desillusionierte RĂŒckkehr zur realistischen Textur“4. Sie basiert also auf der Vermeidung der zertrĂŒmmerten und hochkĂŒnstlichen Darstellung der Wirklichkeit und kommuniziert diese in verstĂ€ndlichen Frames und Skripts: „Neusachliche Prosa prĂ€sentiert das Erwartbare.“5

Die Neue Sachlichkeit in der Literatur und der bildenden Kunst war eine ĂŒberwiegend deutsche Kunstströmung der 1920er und 1930er Jahre des 20. Jahrhunderts und als solche eng mit der Kultur der Weimarer Republik (1918–1933) verbunden.6 Der Begriff der Neuen Sachlichkeit entstammt der bildenden Kunst und ist untrennbar mit der Ausstellung der neusachlichen KĂŒnstlergruppe verknĂŒpft, die der Kunsthistoriker und Direktor der Mannheimer Kunsthalle Gustav Friedrich Hartlaub 1925 organisierte und fĂŒr die er den Titel ‚Neue Sachlichkeit‘ benutzte. Die neusachliche Malerei (vertreten von Otto Dix, George Grosz, Felix Nussbaum, Max Beckmann, Christian Schad, Rudolf Schlichter oder Gustav Wunderwald, um nur ihre bekanntesten ReprĂ€sentanten zu nennen7) hat viele Gemeinsamkeiten mit der literarischen Strömung der Neuen Sachlichkeit. Die KĂŒnstler waren von der alltĂ€glichen RealitĂ€t fasziniert und beschĂ€ftigten sich auch mit den kleinsten Objekten und Details.8 Ihre nĂŒchternen PortrĂ€ts stellten (oft nackte) Körper, Kriegsveteranen, Invaliden, Prostituierte, StĂ€dte, Nachtlokale, Jazzbands, Fabriken und moderne Technik und Sportarten dar. Wieland Schmied definierte fĂŒnf HauptzĂŒge der neusachlichen Kunst: Erstens, der Blick des Malers sollte nĂŒchtern, scharf und unsentimental sein. Zweitens, das Thema der Bilder sollte

4 Moritz Baßler: Deutsche ErzĂ€hlprosa 1850–1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren, Berlin, Erich Schmidt Verlag 2015, S. 294.

5 Ebd., S. 293.

6 Die neue Weltordnung, die nach dem Ende des Weltkriegs etabliert wurde, brachte auch die GrĂŒndung der demokratischen Tschechoslowakischen Republik (1918–1938/9) und der Ersten Republik Österreich (1919–1934).

7 Neben den deutschen Malern sollten hier auch die österreichischen wie Viktor Planckh, Ernst Nepo, Herbert Ploberger und Franz Sedlacek, sowie die böhmischen bzw. tschechoslowakischen Maler/innen VĂĄclav Vojtěch NovĂĄk, Vlasta VostƙebalovĂĄ FischerovĂĄ und Milada MareĆĄovĂĄ genannt werden. Siehe Alexandra Matzner: „Wie deutsch ist die Neue Sachlichkeit?“, Beitrag vom 5. Mai 2016, URL: https://artinwords.de/epoche-neue-sachlichkeit/, letzter Zugriff 11. 5. 2020.

8 Siehe Wieland Schmied: Neue Sachlichkeit und magischer Realismus 1918–1933, Hannover, FackeltrĂ€ger Verlag 1969, S. 11.

10 11

banal, alltĂ€glich und unwichtig bleiben, wobei auch die hĂ€ssliche Seite dargestellt werden soll. Drittens, das Bildnis sollte statisch wirken. Viertens, jede Spur des Malprozesses sollte beseitigt werden, und fĂŒnftens, die Maler sollten sich nur auf die materielle Welt konzentrieren.9 Wie gezeigt wird, können diese Punkte auch auf die literarische Neue Sachlichkeit ĂŒbertragen werden.

Im Jahre 1927 publizierte der Prager deutsche Kunsttheoretiker Emil Utitz seine Studie Die Überwindung des Expressionismus, in der er ĂŒber die ‚abgekĂŒhlte‘ Zeit und die neue Wirklichkeit spricht. Nach Utitz handelt es sich in der postexpressionistischen Epoche tatsĂ€chlich „um einen neuen Humanismus, um eine neue KlassizitĂ€t, um eine neue Sachlichkeit.“10

Noch vor Utitz stellte auch der deutsche Kunstkritiker Franz Roh das Aufkommen einer neuen Kunstepoche fest, die er als Nachexpressionismus bezeichnete. Ähnlich wie bei Schmied beziehen sich auch Rohs Charakteristika der nachexpressionistischen Epoche auf die bildende Kunst, trotzdem kann man ihre Entsprechung auch in der Literatur entdecken. Rohs Buch Nach-Expressionismus mit dem Untertitel Magischer Realismus: Probleme der neuesten deutschen Malerei aus dem Jahre 1925 verursachte auch eine gewisse Begriffsverwirrung, weil er mit dem Untertitel Magischer Realismus eine alternative Benennung der Neuen Sachlichkeit ins Spiel brachte.11 Ähnlich wie Sabina Becker, die 75 Jahre spĂ€ter in ihrer Monografie Neue Sachlichkeit die literarische Neue Sachlichkeit anhand von GegensĂ€tzen charakterisiert12, schuf Roh eine Tabelle mit typischen Merkmalen des Expressionismus einerseits und oppositionellen ZĂŒgen des Nachexpressionismus andererseits (an dieser Stelle werden nur ausgewĂ€hlte GegensĂ€tze angefĂŒhrt).13

9 Ebd., S. 26.

10 Emil Utitz: Die Überwindung des Expressionismus. Charakterologische Studien zur Kultur der Gegenwart, Stuttgart, Verlag von Ferdinand Enke 1927, S. 99.

11 Diese Begriffsverwirrung versucht in seinem doxografischen Buch Magischer Realismus Michael Scheffel zu erlĂ€utern. Siehe Michael Scheffel: Magischer Realismus, TĂŒbingen, Stauffenburg Verlag 1990.

12 Siehe Sabina Becker: Neue Sachlichkeit. Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920–1933), Bd. 1, Köln/Weimar/Wien, Böhlau Verlag 2000.

13 Siehe Franz Roh: Nach-Expressionismus. Magischer Realismus: Probleme der neuesten europÀischen Malerei, Leipzig, Klinkhardt & Biermann 1925, S. 119f.

Expressionismus Nachexpressionismus

■ Ekstatische GegenstĂ€nde

■ Viele religiöse VorwĂŒrfe

■ Objekt unterdrĂŒckend

■ Ausschweifend

■ Dynamisch

■ Laut

■ Monumental

■ Warm

■ Expressive Deformierung der Objekte

■ UrtĂŒmlich

■ NĂŒchterne GegenstĂ€nde

■ Sehr wenig religiöse VorwĂŒrfe

■ Objekt verdeutlichend

■ Eher streng, puristisch

■ Statisch

■ Still

■ Miniaturartig

■ KĂŒhl, bis kalt

■ Harmonische Reinigung der Objekte

■ Kultiviert

Auch die neusachliche Literatur konzentriert sich auf nĂŒchterne und detaillierte Beobachtungen von GegenstĂ€nden und Handlungen, die kalt, ernst, kultiviert, statisch und objektiv geschildert werden. Frank Matzke formuliert in seinem Bekenntnis der neuen (‚sachlichen‘) Jugend seine Auffassung der Neuen Sachlichkeit, die auf der Ablehnung von jeder Innerlichkeit basiert. Die neusachliche Literatur beschreibt er wie folgt:

Feststellung von Dingen oder Tatsachen ganz ohne GefĂŒhlsverbrĂ€mung, bei völliger Ausschaltung des eigenen Ich, seiner Freuden, Schmerzen oder Ansichten. Epischer Grundzug bei beiden, ruhig dahingehender Strom. Festigkeit im GefĂŒge des Baus; nichts Verschwimmend-Verschwommenes, nichts romantisch Verschwebend-Verklingendes. Nichts Überhitztes oder Aufgepeitschtes; völlige Ruhe des Berichterstatters, „teilnahmslose“ Sachlichkeit.14

Es gibt, so Sabina Becker, keine eindeutigere Weise, wie man die literarische Strömung der Neuen Sachlichkeit bestimmen könnte, als diese Bewegung durch GegensÀtze zu definieren, indem man klÀrt, was die

14 Frank Matzke: Jugend bekennt: So sind wir! Leipzig, Verlag von Philipp Reclam Jun. 1930, S. 269.

12 13

Neue Sachlichkeit nicht sei. Sie stellt eine Reihe von Begriffen auf, durch deren Negierung die Neue Sachlichkeit bestimmt wird. Sie wird also oft als Antiexpressionismus, Antisentimentalismus, Antipsychologismus, AntiÀsthetizismus oder Antiindividualismus charakterisiert.15

Obwohl generell angenommen wird, dass die Wortverbindung ‚Neue Sachlichkeit‘ im Zusammenhang mit der Mannheimer Ausstellung seinen Ursprung fand, wird dies von Schmied abgelehnt. Er behauptet, der Begriff wurde mindestens zwei Jahrzehnte vor der Hartlaubschen Ausstellung zum ersten Mal benutzt. Schmied fand heraus, dass der deutsche Architekt Hermann Muthesius diesen Ausdruck am Anfang des 20. Jahrhunderts verwendete, als er die neue, funktionalistische Architektur beschrieb.16 Nach Becker wiederum existierte die literarische Neue Sachlichkeit sogar vor der neusachlichen bildenden Kunst. Sie fĂŒhrt zwei Werke (Georg Kaisers Drama Nebeneinander (1923) und Egon Erwin Kischs Reportagebuch Der rasende Reporter (1924)) an, die vor 1925 veröffentlicht wurden und die mit der Neuen Sachlichkeit assoziiert werden.17 Außerdem betrachtet sie als entscheidend bereits das Jahr 1922, in dem von der anti-expressionistischen Haltung als vom neuen Naturalismus gesprochen wurde und in dem Feuchtwanger fĂŒr diesen Stil den Terminus Neue Sachlichkeit benutzt habe.18 Im gleichen Jahr wurde vom deutsch-schweizerischen Germanisten Fritz Strich der Begriff ‚magischer Realismus‘ geprĂ€gt, den Franz Roh erst drei Jahre spĂ€ter fĂŒr den Untertitel seiner Monografie wĂ€hlte (siehe oben).19

1.1.2 Architektur und Soziologie der Großstadt

Von der ‚Sachlichkeit‘ wird bereits um 1900 gesprochen, besonders im Bereich der Soziologie in Verbindung mit der sich wandelnden industrialisierten Gesellschaft. Georg Simmel benutzt den Begriff in seinem grundlegenden Aufsatz „Die GroßstĂ€dte und das Geistesleben“, in dem er Verhaltensmodelle in der urbanen Welt beschreibt. Nach Simmel mĂŒssen sich Großstadtbewohner rein nach ihrem Verstand benehmen und im Einklang mit dem Gebot der Sachlichkeit leben. Blasiertheit und sachliche Reserviertheit soll sie gegen die Reize der Metropolis schĂŒtzen, da sie sich ansonsten gĂ€nzlich atomisieren bzw. zersplittern wĂŒrden.20 Moderne GroßstĂ€dte mit ihrer sachlichen, hygienischen Architektur wurden zum wichtigen Schauplatz der Neuen Sachlichkeit. Um 1900 wurden Diskussionen ĂŒber den Ă€lteren, zu ĂŒberwindenden Jugendstil gefĂŒhrt und ein neuer funktionalistischer Ästhetizismus gefordert. Alle dekorativen Ornamente, die die pragmatische Funktion des GebĂ€udes oder des Objektes verbargen, wurden nun vermieden. Der Berliner Stadtplaner und Architekt Bruno Taut verlangte in seiner Schrift Die neue Wohnung (1924) eine praktische und hygienische Umgestaltung der Wohnungen sowie eine rasante Beseitigung aller schwerer Möbel, VorhĂ€nge, Kissen, Teppiche und des Ballasts, der nur NervositĂ€t und Krankheit verursache.21 Eine gleiche Haltung spiegelt sich auch in der neusachlichen Literatur wider, da sie nĂŒchtern, objektiv, kahl und ohne kĂŒhne Metaphern geschrieben wurde. Das Wort ‚neu‘ in der Verbindung ‚Neue Sachlichkeit‘ drĂŒckt nach Lindner

15 Siehe Sabina Becker: „Die literarische Moderne der zwanziger Jahre“, in: Internationales Archiv fĂŒr Sozialgeschichte der deutschen Literatur, hrsg. von Norbert Bachleitner, Bd. 27, H. 1, TĂŒbingen, Max Niemer Verlag 2002, S. 73–95, hier S. 76.

16 Siehe Schmied: Neue Sachlichkeit, S. 9.

17 Siehe Becker: „Die literarische Moderne der zwanziger Jahre“, S. 74f. Mit Egon Erwin Kisch tritt die Prager deutsche Literatur in den Vordergrund.

18 Siehe Sabina Becker: „Neue Sachlichkeit im Roman“, in: Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik, hrsg. von Sabina Becker und Christoph Weiß, Stuttgart/Weimar, Verlag J. B. Metzler 1995, S. 7–26, hier S. 14.

19 Siehe Jörg Krappmann: „Magischer Realismus“, in: Phantastik. Ein interdisziplinĂ€res Handbuch, hrsg. von Hans Richard Brittnacher und Markus May, Stuttgart, J. B. Metzler 2013, S. 529–537.

die Grunderfahrung der bĂŒrgerlichen Intelligenz aus, daß mit dem „Ende des BĂŒrgertums“ durchaus nicht die Dominanz der technischen Zivilisation gebrochen ist. Zum ersten Mal wird nun der systematische Versuch unternommen, sich mit

20 Siehe Georg Simmel: „Die GroßstĂ€dte und das Geistesleben“, in: Die Großstadt. VortrĂ€ge und AufsĂ€tze zur StĂ€dteausstellung. Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, hrsg. von Karl BĂŒcher, Friedrich Ratzel, Georg von Mayr, Heinrich Waentig, Georg Simmel, Theodor Petermann und Dietrich SchĂ€fer, Bd. 9, Dresden, Zahn und Jaensch 1903, S. 185–206, hier S. 193ff.

21 Siehe Bruno Taut: Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin, Leipzig, Klinkhart & Biermann 1928, S. 10–11.

14 15

den GesetzmĂ€ĂŸigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung auseinanderzusetzen, anstatt in Metaphysik auszuweichen.22

Was die neue Architektur betrifft, möchte ich hier zwei weitere wichtige funktionalistische Architekten anfĂŒhren, und zwar Adolf Loos und Walther Gropius. Der Wiener Architekt und Schriftsteller Loos entwickelte eine rein funktionalistische Architektur, die sich nur auf die pragmatische Nutzung des Objektes konzentrierte, was zum Beispiel das Looshaus am Michaelerplatz in Wien (1910) oder die Villa MĂŒller in Prag (1928) beweisen. Loos’ Ästhetik antizipierte die Ideale der Neuen Sachlichkeit. „Seine nĂŒchternen Interieurs konstruierte Loos als Kulisse fĂŒr die wahren, elementaren DurchbrĂŒche des ‚Lebens‘, im Gegensatz zur ornamentverliebten SentimentalitĂ€t des Jugendstils. [
] Loos trat fĂŒr eine moderne Ästhetik ein, die sich am ‚gesunden‘ StilgefĂŒhl des Amerikaners und des Arbeiters orientiert [
].“23

Gropius grĂŒndete im Jahre 1919 in Weimar das Staatliche Bauhaus, eine Kunstschule fĂŒr Architekten. Die Schule zog 1925 nach Dessau und spĂ€ter im Jahre 1932 nach Berlin um, wo sie dann in der NS-Zeit geschlossen wurde. Nennenswert ist auch Ludwig Mies van der Rohe, der letzte Direktor des Bauhauses, der in BrĂŒnn eine höchst moderne und funktionalistische Villa fĂŒr die Familie Tugendhat (1928) erbauen ließ.

Nach dem Soziologen Helmuth Plessner spiegelt die Bauhaus Architektur soziale BedĂŒrfnisse wider, die fĂŒr das Überleben in der sachlichen Weimarer Republik nötig waren. In diesen neuen GebĂ€uden konnten sich die Bewohner nahekommen, ohne in gegenseitige Konflikte zu geraten, und sich voneinander entfernen, ohne sich zu verletzen.24 Einfache geometrische Linien, blanke Fliesen an den WĂ€nden, ein offener Raum, keine Ornamente und industrielles Design helfen, der beklemmenden Koexistenz zu entfliehen, und unterstĂŒtzen die Verhaltenslehre der Distanz, die mit dieser Epoche eng verbunden ist. Sowohl die Seele (man kehrt vom

22 Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle MentalitÀt der klassischen Moderne, Stuttgart/Weimar, J. B. Metzler 1994, S. 157.

23 Ebd., S. 136.

24 Siehe Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Bonn, Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1924, S. 73.

Psychologismus ab) als auch der Wohnraum fallen der Versachlichung anheim, also der RationalitÀt und FunktionalitÀt der Einrichtung.

Das „GemĂŒt“ und die hiervon abgeleitete „GemĂŒtlichkeit“ haben ausgespielt, „Wohnmaschinen“ nehmen „Lebensfunktionen“ wahr. [
] In kĂŒhlen, leeren RĂ€umen finden SportgerĂ€te Platz und reprĂ€sentieren die Entseelung sprich „Verkörperlichung“ des Wohnens: physische BedĂŒrfnisse mĂŒssen befriedigt, den AnsprĂŒchen des Körpers – Fitness und Bewegung – GenĂŒge getan werden.25

Die AtmosphĂ€re ist durch eine radikale AuskĂŒhlung gekennzeichnet und der Wohnraum wird der Zweckdienlichkeit völlig untergeordnet. Die Goldenen Zwanziger (oder die Roaring Twenties), wie die Kulturpoche der Neuen Sachlichkeit am hĂ€ufigsten bezeichnet wird, evozieren das wilde Nachtleben in GroßstĂ€dten, das Tanzen in Kabaretts und Nachtklubs (Shimmy, Charleston, Jazzkultur), verfĂŒhrerische und oft androgyne Frauen mit Bubikopf, Kinos, Bars und FreudenhĂ€user. Wie oben gesagt, ist die Großstadt der wichtigste Schauplatz der neusachlichen Romane, weil sie positive Entfernung und AnonymitĂ€t anbietet. GroßstĂ€dte sind höchst industrialisiert und technisiert; besonders wichtig sind neue Verkehrsmittel und das schnelle Tempo des Großstadtlebens. Die Straßenbahn, die U-Bahn und ZĂŒge garantieren freie MobilitĂ€t und eine schnellere, wurzellose und oft hektische Lebensweise.26 Verkehr und Verkehrsmittel werden zum wichtigen Topos der neusachlichen Werke. Nach Lindner erscheinen „die Maschinen und damit immer auch die Organisation der technisierten Gesellschaft der jungen Generation in einer Welt der Verlogenheit, UnfĂ€higkeit und Unsicherheit als das einzig ZuverlĂ€ssige, exakt Arbeitende, niemals EnttĂ€uschende.“27 Alfred Döblin beschreibt Berlin, die goldene Hauptstadt der 1920er Jahre, mit folgenden Worten:

25 Frank Becker: Amerikanismus in Weimar: Sportsymbole und politische Kultur 1918–1933, Wiesbaden, Deutscher UniversitĂ€tsverlag 1993, S. 247.

26 Siehe Jost Hermand: „ ‚Neue Sachlichkeit. Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis?‘ “, in: WeltbĂŒrger – Textwelten. Helmut Kreuzer zum Dank, hrsg. von Leslie Bodi, Frankfurt am Main, Peter Lang 1995, S. 325–342, hier S. 325ff.

27 Lindner: Leben in der Krise, S. 166.

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Es ist wahrhaft eine moderne Stadt, eine großartige Stadt, eine Siedlung heutiger Menschen. Die Straßen sind mĂ€ĂŸig beleuchtet, man fliegt von Bahnhof zu Bahnhof [
], da ein helles Licht, das muß ein Kino sein, plötzliche Lichtwirbel, aber wie belanglos in diesem Dunkel, auf den Bahnhöfen nĂŒchterne eilige Menschen und wieder StraßenzĂŒge, Mietskasernen, Schornsteine, BrĂŒcken.28

Obwohl Berlin die typischste Hauptstadt der neusachlichen Romane ist (Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, Erich KĂ€stners Fabian. Geschichte eines Moralisten oder Gabriele Tergits KĂ€sebier erobert den KurfĂŒrstendamm spielen in Berlin), kann man neusachliche Beschreibungen und Werke auch ĂŒber andere GroßstĂ€dte finden; namentlich ĂŒber MĂŒnchen, Hamburg, Köln, Stuttgart, Frankfurt am Main, Dresden, Leipzig, Wien oder Prag. Wenn man die Großstadt und ihre Bewohner möglichst realitĂ€tsnah und wahrhaftig beschreiben wollte, musste man nach Schmied seinen Blick „auf das Hier und Heute [richten], darum ging es, den Blick aus dem Fenster und auf den Alltag und den Asphalt vor dem Haus, den Blick auf die Gasse und in die Gosse, in die Fabrikhalle und in die Schiffswerft, in den Operationssaal und ins Bordell [lenken].“29 Dies lĂ€sst sich auch in den meisten neusachlichen ErzĂ€hltexten erkennen.

1.1.3 Gattung, ErzĂ€hlstil und Thematik der neusachlichen Literatur

Das Leben in einer Großstadt der Weimarer Republik war leider nicht nur mit dem hedonistischen Nachtleben und dem Spaß in den neuen Unternehmen verbunden. Es war auch die Zeit der ökonomischen Krise, der Inflation und der hohen Arbeitslosigkeit. Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und der Verlust der traditionellen WertmaßstĂ€be spiegelten sich in der Literatur wider.

28 Alfred Döblin: „Geleitwort“, in: Berlin, hrsg. von Mario von Bucovich, Berlin, Albertus Verlag 1928, S. 7–12, hier S. 10.

29 Schmied: Neue Sachlichkeit, S. 13.

Die Neue Sachlichkeit erscheint hier als ein Kunstwollen, das sich dem TatsĂ€chlichen verschreibt, um sich in einer zutiefst fragwĂŒrdig gewordenen Welt seiner selbst zu vergewissern, in einer Welt, die nach der katastrophischen Erfahrung des Ersten Weltkrieges und der Niederlage gerade in Deutschland in dramatischer Weise problematisch erscheinen mußte. [
] FĂŒr die Geschichte der Neuen Sachlichkeit stellt der Krieg ein zentrales, ja konstitutives Ereignis dar. Unter den Schrekken der Materialschlachten und StellungskĂ€mpfe formten einige der fĂŒhrenden Vertreter des Stils ihre veristische Formensprache aus, die bis ca. 1923 eindeutig dominierte.30

Der Zeitraum zwischen 1923 und 1929 wird in der Geschichte der Weimarer Republik als Phase der relativen Stabilisierung betrachtet und die Neue Sachlichkeit als ihre charakteristische Richtung. Die darauffolgende Etappe bis zum Jahre 1933 wird als Phase der Wirtschaftskrise und der Faschisierung der Weimarer Republik gesehen, fĂŒr die allerdings keine dominante Strömung bestimmt werden kann. Es gibt jedoch eine große Menge von neusachlichen Romanen, die erst in den 1930er Jahren geschrieben und veröffentlicht wurden, wie z. B. Irmgard Keuns Das kunstseidene MĂ€dchen (1932), Martin Kessels Herrn Brechers Fiasko (1932) oder Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? (1932). Der Verfall der Weimarer Republik und Hitlers Machtergreifung bedeuten zwar das Ende der neusachlichen Literatur in Deutschland, aber in der Tschechoslowakei, wo noch mehrere deutschsprachige Autoren tĂ€tig waren, weil sie Prag oft als ihren ersten Zufluchtsort wĂ€hlten, kam es erst 1938/1939 zum Verbot der ‚entarteten‘ Literatur, als Deutschland das Sudentenland annektierte.

Was die hĂ€ufigsten Gattungen der literarischen Neuen Sachlichkeit anbelangt, wird in der Lyrik von der sog. Gebrauchslyrik gesprochen. In der Epik entstehen neue Roman-Genres wie der Großstadtroman, der Kriegs- und Nachkriegsroman, der Sportroman, der Roman der Neuen Frau und der Angestelltenroman mit allen seinen Subgenres wie der Arbeitslosenroman, SekretĂ€rinnenroman bzw. Stenotypistinnenroman, Presseroman, Filmroman, Industrieroman usw. Zu weiteren typischen

30 Olaf Peters: Neue Sachlichkeit und Nationalsozialismus. Affirmation und Kritik 1931–1947, Frankfurt am Main, Reimer 1998, S. 25f.

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Textsorten der Literatur in der Zwischenkriegszeit zĂ€hlen auch Ratgeber, HandbĂŒcher und verschiedenste Handlungsanweisungen. Diese behandeln alle Gebiete des modernen Lebens – von allgemeinen Verhaltenslehren in der Nachkriegswelt bis zu ganz spezifischen BĂŒchern ĂŒber das Liebes-, Arbeits- oder Sportleben. Als die bekanntesten und fĂŒr dieses Buch interessantesten ‚HandbĂŒcher‘ sind Bertold Brechts Hauspostille. Aus einem Lesebuch fĂŒr StĂ€dtebewohner (1926), Walter Serners Ein Handbrevier fĂŒr Hochstapler und solche die es werden wollen (1927) oder das von Hermann Graf Keyserling herausgegebene Ehe-Buch (1925) zu nennen.

Im Vergleich zum Expressionismus, der mit einigen Veröffentlichungen von expressionistischen Manifesten und Sammlungen verknĂŒpft ist, gab es in der Epoche der Neuen Sachlichkeit weder eine klar umrissene Gruppe von Autoren noch Manifeste, die das Programm der Neuen Sachlichkeit festgelegt hĂ€tten. Die neusachlichen Schriftsteller schufen ihre Werke vielmehr als Einzelpersonen. Sie schrieben Romane, Gedichte und Dramen in einer neuen, kalten und dokumentarischen Weise. DarĂŒber hinaus hat sich im Jahre 1925 eine Gruppe von KĂŒnstlern in einem Berliner Lokal (CafĂ© in der Motzstraße) getroffen, um ĂŒber die moderne Ästhetik Diskussionen zu fĂŒhren. Diese heterogene Gruppe von etwa 40 (vorwiegend) linken Schriftstellern wurde unter dem Namen ‚Gruppe 1925‘ bekannt. Die Hauptaufgabe war es, den deutschen Schriftstellern aus ihrer Isolation herauszuhelfen31. Ihre programmatischen Texte wurden in Zeitschriften wie Der Querschnitt, Das Tage-Buch, Der Scheinwerfer, Die Literarische Welt oder Die WeltbĂŒhne publiziert. Unter den KĂŒnstlern befanden sich u. a. Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, Walter Hasenclever, Alfred Döblin, Leonhard Frank, Erwin Piscator, George Grosz, Kurt Tucholsky, Robert Musil, Joseph Roth, Max Brod, Ernst Toller oder Ernst Blass. Auch wenn diese Autoren Ă€hnliche Meinungen ĂŒber die Lage der neuen Literatur hatten und sich als Teil eines Kollektivs fĂŒhlten, traten sie in der Öffentlichkeit nicht als eine organisierte Gruppe auf. Sie veranstalteten keine öffentlichen Lesungen und stellten gemeinsam keine Literaturprogramme vor.32 Außer diesen Autoren sind an

31 Siehe Klaus-Peter Hinze: „Gruppe 1925. Notizen und Dokumente“, in: Deutsche Vierteljahrschrift fĂŒr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 54, H. 2, Stuttgart, 1. Juni 1980, S. 334–346, hier S. 336.

32 Siehe Becker: Neue Sachlichkeit, S. 47f.

dieser Stelle noch zwei österreichische Schriftsteller und ihre Werke der Neuen Sachlichkeit zu nennen, und zwar Robert Neumanns (1897–1975) Novellen Hochstaplernovelle (1930) und Karriere (1931) oder sein Roman Die Sintflut (1929) sowie Rudolf Brunngrabers (1901–1960) Dokumentarroman Karl und sein 20. Jahrhundert (1932).33 Eine ErwĂ€hnung verdient auch der Roman Jaƛ, der Flieger (1935) des oberschlesischen bzw. deutschmĂ€hrischen Autors August Scholtis (1901 in Bolatitz, Hultschiner LĂ€ndchen – 1969 in West-Berlin), der unter dem Pseudonym Alexander Bogen publizierte.

Nach Sabina Becker könnte Egon Erwin Kischs Vorwort zu seinem Reportagebuch Der rasende Reporter (1924) als das eigentliche theoretische Manifest der Neuen Sachlichkeit verstanden werden.34 In diesem hĂ€ufig zitierten Vorwort wurden die HauptzĂŒge der neusachlichen Dichtung wie folgt erlĂ€utert:

Die spĂ€rlichen Versuche [
] die Gegenwart festzustellen, die Zeit zu zeigen, die wir leben, leiden vielleicht daran, daß ihre Autoren eben nicht die „ganz gewöhnlichen Menschen“ [
] sind. Ihre Memoiren sind Rechtfertigungen, ihre Artikel sind Tendenz, ihre BĂŒcher sind von ihrem Standpunkt geschrieben – also von einem Standpunkt. Der Reporter hat keine Tendenz, hat nichts zu rechtfertigen und hat keinen Standpunkt. Er hat unbefangen Zeuge zu sein und unbefangene Zeugenschaft zu liefern [
]. Nichts ist verblĂŒffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit, in der man lebt!35

33 Siehe Austria-Forum (Technische UniversitĂ€t Graz): „Neue Sachlichkeit“, URL: https://austria-forum./af//Neue_Sachlichkeit, letzter Zugriff 11. 5. 2020.

34 Becker: Neue Sachlichkeit, S. 41.

35 Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter. Hetzjagd durch die Zeit. Wagnisse in aller Welt. Kriminalistisches Reisebuch, Berlin/Weimar, Aufbau Verlag 1978, S. 659f.

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Ähnlich wie bei Kisch wurde auch in Joseph Roths Vorwort zu seinem Roman Flucht ohne Ende (1927), dessen Untertitel Bericht lautet, der Hauptgedanke der literarischen Neuen Sachlichkeit artikuliert: „Im Folgenden erzĂ€hle ich die Geschichte meines Freundes [
] Franz Tunda. Ich folge zum Teil seinen Aufzeichnungen, zum Teil seinen ErzĂ€hlungen. Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum, zu ‚dichten‘. Das wichtigste ist das Beobachtete.“36 Auch dieses Bekenntnis zur Neuen Sachlichkeit wird oft zitiert und als der Inbegriff des neusachlichen ErzĂ€hlstils angesehen. In der Literaturgeschichte ist fĂŒr die Etablierung der Neuen Sachlichkeit die erweiterte Fassung der Literaturgeschichte von Werner Mahrholz aus der Mitte der 1920er Jahre von Bedeutung. Sie wurde von Max Wieser ĂŒberarbeitet, wobei sie um die Neue Sachlichkeit ergĂ€nzt wurde, denn Wieser fĂŒgte zu der Ausgabe einen weiteren Band mit dem Titel Vom Expressionismus zum neuen Realismus (Die neue Sachlichkeit) hinzu.37

Obwohl die Neue Sachlichkeit nicht von dem dokumentarischen Stil, der nĂŒchternen ObjektivitĂ€t, der sachlichen Ausdrucksweise, der schlichten Klarheit, der NeutralitĂ€t des Blicks, der PrĂ€zision der Schilderung, der guten Observation und der Technik der Montage und Reportage zu trennen ist, ist die Funktion des neusachlichen ErzĂ€hltextes kritisch, d. h. „der Text zielt auf die geistige kathartische Reduktion, die Voraussetzung einer GesellschaftsverĂ€nderung ist.“38 Dementsprechend kann nach Sabina Becker die Neue Sachlichkeit als die letzte Phase des Naturalismus verstanden werden.39 Auch Döblin, einer der Hauptvertreter sowohl des literarischen Expressionismus als auch der Neuen Sachlichkeit, bekannte sich offen zu der Ästhetik des neuen Naturalismus in seinem Artikel

36 Joseph Roth: Flucht ohne Ende, Köln, Kiepenheuer und Witsch 1994, S. 7. Roth verdammte jedoch spĂ€ter die Neue Sachlichkeit in seinem Artikel „Schluss mit der Neuen Sachlichkeit!“ und distanzierte sich von der nĂŒchternen, dokumentarischen Wirklichkeit, die laut ihm mit einer kĂŒnstlerischen Gestaltung nichts zu tun hatte. Siehe Joseph Roth: „Schluss mit der Neuen Sachlichkeit“, in: Die literarische Welt, Jg. 6, Nr. 3, 17. 1. 1930, S. 3–4 und Jg. 6, Nr. 4, 24. 1. 1930, S. 7–8.

37 Siehe Werner Mahrholz: Deutsche Literatur der Gegenwart. Probleme. Ergebnisse. Gestalten, durchgesehen und erweitert von Max Wieser, Berlin, Sieben-StĂ€beVerlag 1930, S. 421–438.

38 Linder: Leben in der Krise, S. 361.

39 Siehe Becker: Neue Sachlichkeit, S. 108.

„Bekenntnis zum Naturalismus“ aus dem Jahre 1920. Hier drĂŒckt er seine Kritik an der letzten Phase des Expressionismus und dessen utopischen Gedanken aus und lobt die Neue Sachlichkeit als Wiedergeburt des Pragmatismus, Alltagrealismus und von sozio-politischen Themen in der Literatur.40 Fotografische und realitĂ€tsbezogene Beschreibungen der Außenwelt, ein Er-ErzĂ€hler, prĂ€zise Observation, der Blick der Kamera und die Montage von verschiedenen Stilen und Dokumenten zĂ€hlen zu den weiteren ZĂŒgen der Neuen Sachlichkeit.41 Neusachliche Romane sind ĂŒberwiegend Zeitromane, d. h. sie sind eng mit der Zeitepoche verknĂŒpft, in der sie entstanden sind.

Was die eigentliche Thematik angeht, werden meistens kalte und gefĂŒhllose Beziehungen, Arbeitslosigkeit, Selbstmord und Erotik (auch HomosexualitĂ€t, Prostitution und unverbindliche VerhĂ€ltnisse) geschildert. Die in der Weimarer Zeit ‚entfesselte‘ SexualitĂ€t wurde fĂŒr die junge Generation zu einer SelbstverstĂ€ndlichkeit. ‚Der Mensch ist gut‘, der Hauptgedanke des literarischen Expressionismus, schlug in sein Gegenteil um, sodass in den neusachlichen Werken meistens keine ‚guten Menschen‘ mehr dargestellt werden; wie Goerge Grosz, deutscher Maler der Neuen Sachlichkeit am Anfang der 1920er Jahre erklĂ€rte: „Der Mensch ist ein Vieh.“42

Die Neue Sachlichkeit bringt auch einen neuen Typus der Frau hervor: Sie ist stark, unabhÀngig, emanzipiert, zielbewusst und oft androgyn. Die fortschrittliche Garçonne kann ihr eigenes Auto fahren, Zigaretten rauchen, kurzgeschnittenes Haar haben und sich sogar scheiden lassen.43 Aus den Vereinigten Staaten kam unter anderem auch der Kult des Körpers und des Sports (Boxen, Autorennen, Schwimmen) und damit die

40 Siehe Alfred Döblin: „Bekenntnis zum Naturalismus“, in: Kleine Schriften I, Olten und Freiburg im Breisgau, Walter-Verlag 1985, S. 291–294.

41 Siehe Becker: Neue Sachlichkeit, S. 97ff.

42 Schmied: Neue Sachlichkeit, S. 14.

43 Lindner spricht in diesem Zusammenhang von der VermĂ€nnlichung der Kultur, siehe Lindner: Leben in der Krise, S. 175. Weitere Titel, die sich mit dem neuen Typus der Frau auseinandersetzen, sind zum Beispiel Hartmut Vollmers Liebes(ver) lust. Existenzversuche und Beziehungen von MĂ€nnern und Frauen in deutschsprachigen Romanen der zwanziger Jahre (1998), Kirsten Reinerts Frauen und Sexualreform: 1897–1933 (2000), Kerstin Barndts Sentiment und Sachlichkeit: der Roman der neuen Frau in der Weimarer Republik (2003) oder Julie Bartoschs Frauen in Metropolen (2012).

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Orientierung der Gesellschaft an Leistung. Im Sport sollen allen Teilnehmern gleiche Chancen garantiert werden – auf der Startlinie stehen alle Sportler unabhĂ€ngig vom Klassensystem. Jeder will sich verbessern und Rekorde brechen, was im Sport möglich wird. Die Ideologie des Sports setzt sich also zum Ziel, die egalitĂ€re Massendemokratie und den Privilegienabbau als neue Ideale zu vermitteln.44

1.1.4 Die neusachliche Schamkultur

Nach dem kulturanthropologischen Ansatz Helmut Lethens ist die Gesellschaft der Neuen Sachlichkeit vom Leben in der Schamkultur geprĂ€gt.45 Diese ist typisch fĂŒr die 1920er und 1930er Jahre; die zweite (expressionistische) Dekade des 20. Jahrhunderts ist dagegen mit dem Begriff der Schuldkultur zu verbinden. Beide Kulturen bestimmen das richtige Verhalten in der Gesellschaft, d. h. ob man sich entweder im Einklang mit der inneren Stimme (Schuldkultur) oder mit der Erwartung der Gesellschaft (Schamkultur) verhalten sollte. Lethens Polarisierung der beiden Kulturen verdeutlicht, wie stark sich die Gesellschaft in den 1920er und 1930er Jahren verĂ€nderte, was auch von den neusachlichen Werken reflektiert wird.

44 Siehe Becker: Amerikanismus, S. 172ff.

45 Siehe Helmut Lethen: Verhaltenslehren der KĂ€lte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag 1994, S. 32. Die Terminologie der ‚shame culture‘ und ‚guilt culture‘ wurde von der amerikanischen Anthropologin Ruth Benedict (1887–1948) in den 1940er Jahren popularisiert.

Aspekte der Schuldkultur Aspekte der Schamkultur

■ Innere Stimme, interne Kontrollinstanz

■ Überwachung: Introspektion

■ Soziale Sanktion: Rituale des Tribunals, des GestĂ€ndnisses und der Reue

■ GefĂŒhlte Sanktion: Gewissensangst

■ Normen internalisiert im Individuum

■ Kriterium der Beurteilung: verborgene Absicht oder unbewusstes Motiv

■ Ziel: gutes Gewissen

■ Konzentration auf: der Öffentlichkeit verborgene Gewissensregungen

■ Äußere Stimme, externe Kontrollinstanz

■ Überwachung: das Auge der anderen

■ Soziale Sanktion: Rituale der Ausgrenzung und der Wiedergutmachung

■ GefĂŒhlte Sanktion: Soziale Angst

■ Normen gesichert in Konventionen

■ Kriterium der Beurteilung: sichtbarer sozialer Effekt

■ Ziel: angemessenes Verhalten

■ Konzentration auf: frei zu Tage liegende, an den Körper gebundene Zeichen46 46

In der Schuldkultur wird man stets von der Introspektion kontrolliert. Wenn man sich nicht angemessen verhĂ€lt, wird man unter Gewissensbissen leiden. Das gute Gewissen und innere Impulse stellen die Kontrollinstanz dar. Die Schamkultur basiert dagegen auf externer Kontrolle, d. h. darauf, was die anderen Mitglieder der Gesellschaft fĂŒr richtig halten. Unser Körper und unsere GebĂ€rden reflektieren unsere GefĂŒhle, darum muss man sie stĂ€ndig unter Kontrolle haben. Konventionen und die unmittelbare Umgebung bestimmen die Normen des Verhaltens. Die Generation der Zwischenkriegszeit muss die Erwartungen der anderen erfĂŒllen und ihre subjektiven Motive zĂ€hmen. Nur auf diese Weise kann man der öffentlichen Blamage entkommen. Die von Lethen thematisierten Verhaltensmuster der Schamkultur lassen sich problemlos in der

46 Ebd., S. 32f.

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Mehrheit der neusachlichen Werke finden und die in dieser Arbeit analysierten Romane sind keine Ausnahme. Max Brod, der sich jedoch bald von der Ästhetik der Neuen Sachlichkeit distanzierte, beschrieb diese in einer Art Vorwegnahme der spĂ€teren Definition der Schamkultur als

die Forderung, das private Ich auszuschalten, ĂŒber den Wichtigkeiten der MassenbedĂŒrfnisse und Massennöte die SubtilitĂ€ten der eigenen Seele fĂŒr gering [
] zu achten, [
] alle Gesinnung von derartiger Ich- und Herzbetonung als Romantik, als Illusion zu bekĂ€mpfen – nur die Tatsachen, nicht aber Deutungen und Sinngebungen und Probleme zu schĂ€tzen.47

Neben der Schamkultur und der Schuldkultur unterscheidet Lethen drei Typen des neusachlichen Menschen: die kalte persona, den RadarTyp (mit seiner stĂ€ndigen Alarmbereitschaft, Beobachtung der Konkurrenten und LĂ€ssigkeit), und die Kreatur als unmaskiertes Wesen. Die kalte persona ist durch ihr Verhalten der Distanz und FĂŒhrung der sogenannten Als-ob-Existenz gekennzeichnet. Sie passt sich schnell an die Gesellschaft an und diszipliniert ihre Affekte unter allen UmstĂ€nden. Die meisten neusachlichen literarischen Figuren ‚verstellen‘ sich und verstecken so ihre inneren Empfindungen und Eigenschaften, um in der modernen Schamkultur zu ĂŒberleben. Nach Plessner trĂ€gt nĂ€mlich alles Psychische, das sich ‚nackt‘ hervorwagt, das Risiko der LĂ€cherlichkeit in sich.48 DarĂŒber hinaus wird von einer Maske ggf. einem Panzer gesprochen, die alle Menschen als Schutz von der Ă€ußeren Welt tragen.49 Verstellung ist erlaubt, weil sie vor der EntblĂ¶ĂŸung der Gedanken und SentimentalitĂ€t schĂŒtzt. Das Ich der kalten persona ist einerseits wegen des Schutzes vor der RealitĂ€t eingefroren, andererseits weil sie „kein konstantes Ich besitzen darf, da sie sich des Mittels der TĂ€uschung bedient, um im (sozialen, politischen) Wettkampf zu bestehen. [
] Die

47 Max Brod: „Die Frau und die Neue Sachlichkeit“, in: Die Frau von morgen, wie wir sie wĂŒnschen, hrsg. von Friedrich Huebner, Frankfurt am Main, Insel Verlag 1990, S. 38–46, hier S. 39.

48 Siehe Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, S. 64.

49 Der Thematik der Maske widmet sich außer Lethen auch der Psychoanalytiker LĂ©on Wurmser. Siehe LĂ©on Wurmser: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, Berlin, Springer 1990.

stĂ€ndige Verwandlung des Ichs zum Zwecke der TĂ€uschung darf zudem nicht durch Moral oder GefĂŒhle gehindert werden, so dass die GefĂŒhle ebenfalls eingefroren werden mĂŒssen.“50 Infolgedessen mĂŒssen sich aber alle immer bewusst werden, dass alles nur gespielt und vorgetĂ€uscht sein kann. Diese Tatsache, d. h. die Maskierung und die EntblĂ¶ĂŸung, wird oft zum Hauptthema im Leben der Protagonisten der neusachlichen Werke.

1.2 Einleitendes zur Neuen Sachlichkeit und Prager deutschen Literatur

1.2.1 Forschungsgegenstand

Warum kann ich dieses kleine Buch Roelds, das gewiß nicht, wie da angegeben steht, ein Roman ist, sondern eine kleine Geschichte
 warum kann ich das auf einen Sitz zu Ende lesen? Weil er den Ton hat; weil er die Kraft hat; weil er zwingt. [
] Viele, viele kleine EinzelzĂŒge, auf die es bei jedem Kunstwerk ankommt.51

Unter den BĂŒchern, die ich in der letzten Zeit gelesen habe, hat mich dies besonders berĂŒhrt. Es schildert ein Milieu, das mir bisher aus BĂŒchern nicht bekannt war, und hinter dem Helden als Einzelerscheinung steht neu und melancholisch eine etwas bedrĂ€ngte soziale Schicht.52

50 Stefan, Tuczek: „Eiskalte Lebenswelten. Vom KĂ€ltekult in der Weimarer Republik“, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik, hrsg. von Sabina Becker und Rober Krausse, Jg. 2017/18, Bd. 18, MĂŒnchen, edition text + kritik 2017, S. 137–158, hier S. 144.

51 Kurt Tucholsky: „Auf dem Nachttisch. Otto Roeld ‚Malenski auf der Tour‘ 1930“, in: Gesammelte Werke in zehn BĂ€nden, hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Bd. 8, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag 1975, S. 312, URL: http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt /Werke/1930/ Auf+dem+Nachttisch+%5B6%5D, letzter Zugriff 8. 6. 2020.

52 Gottfried Benn: „Roman des GeschĂ€ftsreisenden“, in: SĂ€mtliche Werke. Prosa 1, hrsg. von Gerhard Schuster, Bd. 3, Stuttgart, Klett-Cotta 1987, S. 259–263, hier S. 259.

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So rezensierten im Jahre 1930 zwei der einflussreichsten Schriftsteller und Literaturkritiker der Zwischenkriegszeit Kurt Tucholsky und Gottfried Benn den Prager Kurzroman Malenski auf der Tour (1930) von Otto Roeld und ein Ă€hnliches Lob wurde Roelds Text auch von dem nicht weniger bekannten Autor Max Brod zuteil.53 Trotz positiver Rezensionen wurde das Buch nicht in den Kanon ‚aufgenommen‘ und in der Nachkriegszeit erschien auch keine Neuauflage, obwohl sie Brod nachdrĂŒcklich empfohlen hatte. Auch Hans Natoneks literarische Werke (die Romane Der Mann, der nie genug hat, 1929; Geld regiert die Welt oder die Abenteuer des Gewissens, 1930; Kinder einer Stadt, 1932) fanden trotz Natoneks außergewöhnlicher Begabung und PopularitĂ€t als Publizist in der Weimarer Republik keine besondere Beachtung. Seiner publizistischen TĂ€tigkeit wurden zwar in der letzten Zeit mehrere Arbeiten gewidmet, z. B. Steffi Böttgers Hans Natonek. Im GerĂ€usch der Zeit. Gesammelte Publizistik 1914–1933 (2006) und Letzter Tag in Europa. Gesammelte Publizistik 1933–1963 (2013), von seinen Prosawerken nimmt die literarische Öffentlichkeit aber weiterhin kaum Notiz. Eine Ausnahme ist sein Roman Die Straße des Verrats, dem im Rahmen eines internationalen studentischen Projektes (Leipzig und Prag) im Jahre 2016 ein ganzer Band „Ich trĂ€umte: ich saß in der Schule der Emigranten
“ Der jĂŒdische Schriftsteller und Journalist Hans Natonek aus Prag gewidmet wurde.54

Blanche oder Das Atelier im Garten, der einzige Roman des aus Prag stammenden Paul Kornfelds, der als Autor von hochgeschĂ€tzten (nach)expressionistischen Dramen berĂŒhmt wurde, erlebte seine erste Auflage nach mehreren Komplikationen erst 1957, weswegen es keine zeitgenössischen Rezensionen und Kritiken gibt und man ĂŒber seinen eventuellen Erfolg nur spekulieren kann. Nach seinem Erscheinen wurde aber auch dieser ErzĂ€hltext von bekannten GrĂ¶ĂŸen der deutschsprachigen literarischen Szene gepriesen, wie u. a. von Siegfried Lenz: „Um es sogleich und nachdrĂŒcklich zu sagen: Ich halte Blanche
 nicht nur fĂŒr

53 Siehe Max Brod: „Die ‚Handelskammer‘“, in: Prager Tagblatt, Jg. 53, Nr. 235, 5. Oktober 1930, S. 17 und Max Brod: Der Prager Kreis. Mit einem Nachwort von Peter Demetz, Stuttgart, Suhrkamp Verlag 1979, S. 40.

54 Siehe Viera GlosĂ­kovĂĄ, Sina Meißgeier und Ilse Nagelschmidt (Hrsg.): „Ich trĂ€umte: ich saß in der Schule der Emigranten
“ Der jĂŒdische Schriftsteller und Journalist Hans Natonek aus Prag, Literaturwissenschaft Bd. 61, Berlin, Frank & Timme Verlag, 2016.

eine Kunstleistung ersten Ranges, sondern auch fĂŒr einen Roman, der ein großes Leseerlebnis bereithĂ€lt [
].“55 Obwohl sowohl Roelds Malenski (1987 und 2018) als auch Natoneks Kinder einer Stadt (1987) sowie Kornfelds Blanche (seit 1957 sogar noch sechsmal) seit den 1960er Jahren neu aufgelegt und fĂŒr die Leserschaft ‚wiederentdeckt‘ wurden, bleiben sie von der Forschung weitgehend ignoriert. Dieses Buch setzt sich als eines seiner Ziele, diesen Mangel zu beheben.

Da die Entstehungszeit aller drei Romane in die Zwischenkriegszeit fĂ€llt und da sie ZĂŒge der damals dominierenden Strömung der Neuen Sachlichkeit aufweisen, bildet auch die neusachliche Schreibweise den Schwerpunkt der Analyse. Jedes Jahr werden der neusachlichen Stilrichtung in der Weimarer Republik zahlreiche Monografien, Konferenz- und SammelbĂ€nde sowie Diplomarbeiten gewidmet und die Literatur der Neuen Sachlichkeit steht, allein wegen der ungebrochenen PopularitĂ€t der ‚Goldenen Zwanziger‘, im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses.56 Texte der deutschen Literatur Prags, auch wenn sie ebenfalls eng mit der Ästhetik und Anthropologie der neusachlichen Epoche verbunden sind, werden allerdings von der Forschung in diesem Zusammenhang kaum beachtet. Diese Ausgrenzung der aus Prag stammenden bzw. der im Umfeld der Prager deutschen Literatur entstandenen Texte der Neuen Sachlichkeit bedeutete einen weiteren wichtigen Beweggrund fĂŒr die Ausarbeitung der vorliegenden Publikation. Als Untersuchungsgegenstand wurden die drei oben genannten Romane der drei ‚Pragerdeutschen‘ Autoren Roeld, Natonek und Kornfeld gewĂ€hlt.

1.2.2 Forschungsstand, -ziele und -methoden

Das ursprĂŒngliche Ziel der Arbeit war eine ‚simple‘ ÜberprĂŒfung der Zugehörigkeit der drei gewĂ€hlten Werke zu der literarischen Epoche der Neuen Sachlichkeit. Dieses Vorhaben entwickelte sich wĂ€hrend der For-

55 Siegfried Lenz: „Die Bitterkeit der glĂ€sernen Menschen“, in: Romane von gestern –heute gelesen. 1933–1945, hrsg. von Marcel Reich-Ranicki, Bd. 3, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag 1990, S. 271–276, hier S. 271.

56 Siehe z. B. die Reihe Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik, die 1997 entstanden ist, bisher neunzehn BÀnde umfasst und in der fast jedes Jahr neueste AufsÀtze zu dieser Thematik veröffentlicht werden.

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schungsarbeit dahingehend, dass auch die neusachliche Anthropologie und die damals dominierenden Verhaltenslehren ins Zentrum des Interesses rĂŒckten. Das Standardwerk zu diesem Thema ist nach wie vor Helmut Lethens Monografie Verhaltenslehren der KĂ€lte. Lebensversuche zwischen den Kriegen (1994), in der die ‚modernen‘ Verhaltenslehren der kalten persona als eine spezifische Strategie zum Überleben in der chaotischen Zeit der Weimarer Republik diskutiert werden.57 Bei der Analyse der drei Romane konnte ich drei weitere Varianten der neusachlichen Verhaltenslehren der KĂ€lte ausmachen, und zwar bei Roeld die Verhaltenslehre der Arbeit, bei Natonek die Verhaltenslehre des Sportes und bei Kornfeld die Verhaltenslehre der Liebe. Diese drei Gebiete – (1) die Verhaltenslehre im Rahmen der von der Geldwirtschaft geprĂ€gten Angestellten-Welt, (2) gezielte ‚KörpertĂŒchtigung‘ sowie das geistige Training des modernen Menschen und (3) schließlich die entromantisierten, nĂŒchternen Beziehungen, die auf den versachlichten Liebesregeln basieren – boten sich als grundlegende Bereiche des Lebens in der modernen SozietĂ€t fĂŒr die Untersuchung der einzelnen Spielarten der Verhaltenslehren der KĂ€lte an.

Neben Lethens ‚Klassiker‘ hat dieses Buch auch Gregor Streims Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950 (2008) und Martin Lindners Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle MentalitĂ€t der klassischen Moderne (1994) viel zu verdanken. Da sich Lindner in seiner Arbeit auf die Entwicklung des lebensideologischen Denksystems in der „Übergangszeit zwischen 1890 und 1955“58 (die Neue Sachlichkeit ist fĂŒr ihn nur eine Teilepoche) konzentriert und da seine Beschreibung des Krisenzustandes als Zentrum der Lebensideologie auf mehrere Epochen appliziert werden kann, schien seine Arbeit wegen ihrer Allgemeinheit nicht fĂŒr die Untersuchung von allen drei Romanen geeignet. Das von ihm rekonstruierte, stark strukturalistische Modell, nach dem in der Zeit zwischen 1890 und 1955 das Denken durch die PolaritĂ€t von Tiefe und OberflĂ€che geprĂ€gt wurde59, erwies sich jedoch besonders bei der Analyse von Roelds Malenski als fruchtbar.

57 Siehe Lethen: Verhaltenslehren, S. 7–132.

58 Lindner: Leben in der Krise, S. 9.

59 Siehe ebd., S. 7.

Mit der Frage der neusachlichen Ästhetik und ErzĂ€hltechnik haben sich zuletzt umfassend, wie bereits im Prolog angefĂŒhrt, Sabina Becker in Neue Sachlichkeit. Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920–1933) (2000) und Moritz Baßler in Deutsche ErzĂ€hlprosa 1850–1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren (2015) befasst, wobei Baßler als das Hauptmerkmal der Neuen Sachlichkeit die desillusionierte „RĂŒckkehr zum realistischen Schreibverfahren“60 betrachtet. Becker widmet dem RealitĂ€tsbezug, dem Reportagestil („Entfiktionalisierung und Entidealisierung“61 stehen im Vordergrund) sowie der ErnĂŒchterung in ihrer Monografie viel Aufmerksamkeit und der Begriff der ErnĂŒchterung verzeichnet bei ihr „drei Bedeutungsebenen: NĂŒchternheit, Einfachheit und Klarheit.“62 Die konkrete AusprĂ€gung dieser Schreibweise wird nicht nur in den hier diskutierten Romanen ĂŒberprĂŒft, sondern diese werden nicht zuletzt auch mit anderen grundlegenden Werken der Neuen Sachlichkeit in der Weimarer Republik verglichen. Obwohl Beckers Bestimmung der neusachlichen Literatur, die von ihrer Ästhetik bzw. deren Reflexion in der zeitgenössischen Publizistik und Literatur ausgeht, eine erschöpfende Liste der Dimensionen und Stilmittel der neusachlichen Ästhetik anbietet (Antiexpressionismus, ‚Neuer Naturalismus‘, NĂŒchternheit, PrĂ€zisionsĂ€sthetik, RealitĂ€tsbezug und AktualitĂ€t, Reportagestil, Beobachtung, Antipsychologismus, NeutralitĂ€t und ObjektivitĂ€t, Bericht, Dokumentarismus, Tatsachenpoetik, Gebrauchswert, Entsentimentalisierung und Entindividualisierung)63, wĂ€ren diese an sich fĂŒr eine sinnvolle Analyse der drei Romane nicht ausreichend, weil ihr Vorkommen in den jeweiligen Werken nur einen begrenzten Erkenntnisgewinn garantieren wĂŒrde. Darum werden sie in den jeweiligen Kapiteln als Einstieg in die Problematik der ErzĂ€hlstruktur der Romane behandelt und es wird ihre Rolle in der Inszenierung der neusachlichen Anthropologie ĂŒberprĂŒft. Im darauffolgenden, grundlegenden Teil des jeweiligen analytischen Kapitels werden konkrete Spielarten der neusachlichen Verhaltenslehren untersucht und ihre NĂŒtzlichkeit im Leben der Figuren sowie ihre ‚Haltbarkeit‘ innerhalb der fiktionalen Welt des Romans ĂŒberprĂŒft.

60 Baßler: Deutsche ErzĂ€hlprosa 1850–1950, S. 294.

61 Becker: Neue Sachlichkeit, S. 154.

62 Ebd., S. 117.

63 Siehe ebd., S. 10.

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Was das komplexe PhĂ€nomen der deutschen Literatur Prags betrifft, wird in der Forschung die Aufmerksamkeit ĂŒberwiegend dem Expressionismus und der Neuromantik geschenkt, also der Zeit, in der sich das ‚literarische Prag‘ am prĂ€gnantesten entwickelte.64 Üblicherweise wird ihr ein Hauch des Magischen, Fantastischen und Mystizismus zugeschrieben, welche man mit ihr bis heute assoziiert.65 „Die ‚Prager deutsche Literatur‘ stellt ein Faszinosum dar; die immer wieder beschworene KreativitĂ€t und SchaffensfĂŒlle, der ihr zugesprochene Weltrang, ihr Magisches, Groteskes und gleichzeitig paradigmatisch Modernes, und dies alles trotz oder gerade wegen ihres immer wieder unterstellten Insel-, Ghetto- und Treibhausdaseins, [
].“66 Da die Neue Sachlichkeit in der deutschen Literatur Prags bis heute als eine untypische Randerscheinung betrachtet wird, setzt sich diese Publikation nicht zuletzt auch das Ziel, an dieser ‚Voreingenommenheit‘ eine Korrektur vorzunehmen. Das unvollstĂ€ndige Bild der deutschsprachigen Literatur aus Prag wird hier also um eine ausfĂŒhrliche Analyse der drei spĂ€teren Prager deutschen Romane aus der neusachlichen Epoche ergĂ€nzt. In dieser Publikation konzentriere ich mich eher auf die Epoche und Literatur der Neuen Sachlichkeit als auf das PhĂ€nomen der deutschen Literatur Prags als solcher, deshalb finde ich es im Rahmen dieses Buches unnötig, auf ihre detaillierte Geschichte und Entwicklung einzugehen.67

64 Siehe Michael M. Schardt und Dieter Sudhoff: „Einleitung“, in: Prager deutsche ErzĂ€hlungen, hrsg. von Michael M. Schardt und Dieter Sudhoff, Stuttgart, Philipp Reclam jun. 1992, S. 9–46.

65 Siehe Claudio Magris: „Prag als Oxymoron“, in: Neohelicon. Acta comparationis litterarum universarum, 1979/80, Bd. 7, Nr. 2, S. 11–65 oder Angelo Mario Ripellino: Magisches Prag, TĂŒbingen, Wunderlich 1982.

66 Kristina Lahl: Das Individuum im transkulturellen Raum. IdentitĂ€tsentwĂŒrfe in der deutschsprachigen Literatur Böhmens und MĂ€hrens 1918–1938, Bielefeld, transcript Verlag 2014, S. 16.

67 In den 1960er Jahren entwickelte Eduard GoldstĂŒcker u. a. auf den beiden Konferenzen von Liblice ein Beschreibungsmodell, welches eine germanistische Behandlung Kafkas und weiterer Autoren aus den Böhmischen LĂ€ndern unter den Bedingungen einer rigiden kommunistischen Kulturpolitik ermöglichen sollte. Dabei setzte er auf eine strikte Absonderung der humanistischen und meist jĂŒdisch geprĂ€gten ‚Prager deutschen Literatur‘ von der ‚sudetendeutschen‘ Literatur in der Provinz, die meist nationalistischen, völkischen oder gar antisemitischen Ideen anhing. Diese absichtlich vereinfachende Konzeption setzte sich infolge

Erstens wĂŒrde eine solche Auseinandersetzung den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen und zweitens handelt es sich hier um keinen Versuch der Neubestimmung des Begriffs, sondern nur um eine ErgĂ€nzung des bisher unvollkommenen Ganzen. Ende 2017 erschien bei J. B. Metzler das Handbuch des deutschen Literatur Prags und der Böhmischen LĂ€nder, das eine transkulturelle Betrachtung der ganzen Region vorlegt und eine Neuvermessung der deutschsprachigen Literatur der Böhmischen LĂ€nder bietet. Auch dieses Handbuch verzichtet jedoch auf die Epoche der Neuen Sachlichkeit und konzentriert sich stattdessen auf die Erste Republik mit ihrer politischen Entwicklung in ihrer Gesamtheit, also auf die Zeit zwischen 1918 und 1938.68

Wie bereits angedeutet wurde, stellte ich fĂŒr die Auswahl der zu untersuchenden ErzĂ€hltexte am Anfang meiner Forschung folgende Kriterien auf:

1. Der Autor des Romans lÀsst sich der deutschen Literatur Prags zuordnen.

2. Der ErzÀhltext entstand um 1930, also in der Kernzeit der literarischen Neuen Sachlichkeit.

3. Der ErzĂ€hltext weist formale und/oder thematische ZĂŒge der Neuen Sachlichkeit auf und entwickelt eine neusachliche Verhaltenslehre. auch innerhalb der westlichen Literaturwissenschaft durch. Seit einiger Zeit wird auf eine derartig scharfe Trennung verzichtet und die deutsche Literatur Prags wird zusammen mit der Literatur Böhmens, MĂ€hrens und (Österreich-)Schlesiens in ihrer Gesamtheit untersucht, wobei auch ihre Wechselwirkungen beachtet werden. Siehe Eduard GoldstĂŒcker, FrantiĆĄek Kautmann und Pavel Reiman (Hrsg.): Franz Kafka. LiblickĂĄ konference 1963, Prag, ČSAV 1963, Eduard GoldstĂŒcker: Weltfreunde. Konferenz ĂŒber die Prager deutsche Literatur, Prag, Academia 1967, Schardt und Sudhoff: „Einleitung“, S. 9–46 und in kritischer Auseinandersetzung Jörg Krappmann und Manfred Weinberg: „Region – Provinz. Die deutsche Literatur Prags, Böhmens, MĂ€hrens und Sudetenschlesiens jenseits von Liblice. Mit Anmerkungen zu Franz Kafka als Autor einer Regionalliteratur“, in: Prag – Provinz. Wechselwirkungen und GegensĂ€tze in der deutschsprachigen Regionalliteratur Böhmens, MĂ€hrens und Sudetenschlesiens, hrsg. von Peter Becher, Jozo DĆŸambo und Anna Knechtel, Wuppertal, Arco Wissenschaft 2014, S. 17–52.

68 Siehe Peter Becher, Steffen Höhne, Jörg Krappmann und Manfred Weinberg (Hrsg.): Handbuch des deutschen Literatur Prags und der Böhmischen LÀnder, Stuttgart, J. B. Metzler 2017.

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Das erste Kriterium war verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig unproblematisch: Alle drei Autoren wurden in Prag geboren und verbrachten dort ihre Jugendzeit. Im Gegensatz zu Roeld, der Prag nie verließ, gingen Kornfeld und Natonek spĂ€ter in die Weimarer Republik, kehrten aber wieder nach Prag zurĂŒck, um hier Zuflucht nach Hitlers MachtĂŒbernahme zu finden.

Das zweite Kriterium kann durch die Publikationsdaten bzw. Entstehungsdaten der Romane von Roeld (1930), Natonek (1932) und Kornfeld (veröffentlicht zwar erst 1957, aber das Manuskript entstand in den 1930er Jahren, siehe das Kapitel 4.3.1) als erfĂŒllt gelten.

Den eigentlichen Schwerpunkt der Untersuchung, also ob der ErzĂ€hltext formale oder thematische ZĂŒge der Neuen Sachlichkeit aufweist und eine neusachliche Verhaltenslehre entwickelt, bildet das letzte, spannendste Kriterium. Rein formal lĂ€sst sich der Neuen Sachlichkeit hundertprozentig nur Roelds Malenski auf der Tour zuordnen. Natoneks und besonders Kornfelds Roman stehen zwar der Gattung nach (Kinder einer Stadt als Sport- und Presseroman, Kornfelds Blanche als Zeitroman der Neuen Frau) der neusachlichen Literatur nahe, erzĂ€hltechnisch weichen sie allerdings mehr oder weniger von der sachlich-objektiven, ‚mĂ€nnlichen Literatur‘ ab, die fĂŒr die Literatur der Neuen Sachlichkeit entscheidend war. Dagegen sind die meisten Protagonisten und das Milieu in diesen zwei Romanen eindeutig neusachlich. In allen drei Romanen werden Verhaltenslehren angeboten, die den Figuren zum Fortschritt und Erfolg in der modernen Gesellschaft verhelfen sollen und in den Werken zu ihrer Lebenspraxis werden. Trotzdem wurde keiner dieser Romane bis heute ausfĂŒhrlich, d. h. auch im Hinblick auf die literarische Neue Sachlichkeit und ihre Verhaltenslehren, analysiert.

Wie oben angefĂŒhrt, wird Natoneks und Kornfelds literarisches und journalistisches Schaffen zwar ab und zu in der gegenwĂ€rtigen Forschungsliteratur besprochen, die in dieser Publikation gewĂ€hlten Romane werden jedoch meistens gegenĂŒber Natoneks publizistischen Texten und Kornfelds (nach-)expressionistischen Dramen vernachlĂ€ssigt. Die neueste Arbeit, die ausfĂŒhrlicher auch auf diese zwei Romane eingeht und in ihnen die Rolle des Individuums, der IdentitĂ€t und TranskulturalitĂ€t unter die Lupe nimmt, ist Kristina Lahls Das Individuum im transkulturellen Raum. IdentitĂ€tsentwĂŒrfe in der deutschsprachigen Literatur Böhmens und MĂ€hrens 1918–1938 (2014). Die literarische Neue Sachlichkeit gehört jedoch nicht zum Schwerpunkt von Lahls Interesse und

als solche widmet sich ihre Monografie ĂŒberwiegend der Analyse der BeweggrĂŒnde der Protagonisten, die durch das Milieu und die Zeitepoche selbst determiniert werden.

Hinsichtlich der literarischen Neuen Sachlichkeit selbst lassen sich nur zwei Forschungstitel finden, die auf diese Strömung im Zusammenhang mit dem jeweiligen Roman eingehen:

Susanne Fritz (1) bringt Natoneks Roman Kinder einer Stadt in ihrem Buch Die Entstehung des ‚Prager Textes‘. Prager deutschsprachige Literatur von 1895 bis 1934 (2005)69 direkt in Verbindung mit der Neuen Sachlichkeit. Sie analysiert den Roman in einem kurzen Kapitel aber zu oberflĂ€chlich und widmet die meiste Aufmerksamkeit der Thematik der Massenmedien. In der vorgelegten Arbeit wird die einseitige Zuordnung zum Journalistenroman richtiggestellt und um das Genre des Sportromans erweitert.

Zu Kornfelds umfangreichem Roman liegt eine Publikation von Markus Weber (2) vor, die sogar den Begriff ‚Neue Sachlichkeit‘ im Titel trĂ€gt, dieser lautet Expressionismus und Neue Sachlichkeit. Paul Kornfelds literarisches Werk (1997)70, aber auch diese Arbeit geht auf die Thematik der Neuen Sachlichkeit leider nur sehr begrenzt ein. Dieser Mangel wird im Rahmen dieser Publikation behoben. Was Roelds Kurzroman Malenski anbelangt, bietet er als bisher wissenschaftlich nicht bearbeiteter Text das grĂ¶ĂŸte Operationsfeld und kann hier zum ersten Mal als ein neusachlicher Prager deutscher Roman einer grĂŒndlichen Untersuchung unterzogen werden. Als ErzĂ€hltexte, die bisher noch nie oder nur sehr begrenzt erforscht wurden, stellen alle drei Romane nicht nur ein ergiebiges und spannendes literarisches Korpus dar, sondern sind auch dazu geeignet, ein Desiderat der Auseinandersetzungen mit der Literatur der Böhmischen LĂ€nder zu beheben.

Was die Struktur der vorliegenden Arbeit angeht, wird diese in drei Hauptteile gegliedert, in denen die Romane nacheinander analysiert werden. Die ersten Teile, Kapitel 2.1, 3.1 und 4.1, sind biografische Kapitel und bilden einen unentbehrlichen Teil des Buches, weil die Biografie des jeweiligen Autors den Hintergrund zur darauffolgenden Untersuchung

69 Susanne Fritz: Die Entstehung des ‚Prager Textes‘. Prager deutschsprachige Literatur von 1895 bis 1934, Dresden, Thelem Verlag 2005.

70 Markus Weber: Expressionismus und Neue Sachlichkeit. Paul Kornfelds literarisches Werk, Frankfurt am Main, Peter Lang 1997.

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darstellt sowie eine bessere Orientierung im Kontext der deutschen Literatur Prags garantiert. Darauf folgt je ein allgemein theoretischer Teil, in dem die Problematik der entsprechenden Variante der Verhaltenslehre erlĂ€utert wird. Im dritten Teil, der sich ausschließlich mit dem entsprechenden ErzĂ€hltext beschĂ€ftigt, werden neben den ErzĂ€hlstrategien die einzelnen neusachlichen Verhaltenslehren diskutiert. So ergibt sich eine klare Struktur der Arbeit: Jedes der drei zentralen Kapitel ĂŒber den jeweiligen Text enthĂ€lt drei weitere Kapitel, die die ErzĂ€hltexte einer grĂŒndlichen Analyse unterziehen.

2 Verhaltenslehre der Arbeit: Otto Roeld und sein Roman

Malenski auf der Tour

2.1 Der poetische Kaufmann Otto Roeld: Leben und Werk

Otto Rosenfeld, der spĂ€ter unter dem Pseudonym Roeld publizierte, könnte als einer der „vergessenen Autoren im Schatten Kafkas“71 bezeichnet werden, die erst in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts allmĂ€hlich wiederentdeckt wurden. Trotzdem wurde er im Unterschied zu Kornfeld oder Natonek weder in JĂŒrgen Serkes Böhmischen Dörfern (1987) noch in Hartmut Binders Prager Profilen (1991) noch in JĂŒrgen Borns Deutschsprachige Literatur aus Prag und den böhmischen LĂ€ndern 1900–1925 (1993) miteinbezogen.72 Erst im Jahre 2008 widmete ihm Binder zwei AbsĂ€tze in seiner Studie Kafkas Welt: Eine Lebenschronik in Bildern, in denen er kurz auf seine schriftstellerische TĂ€tigkeit und auf seinen Lebenslauf eingeht.73 DarĂŒber hinaus gibt es ĂŒber Roeld keine einheitlichen und leicht zugĂ€nglichen (d. h. publizier-

71 „Vergessene Autoren im Schatten Kafkas“ ist der bekannte Untertitel von Hartmut Binders Prager Profilen (1991), in denen Prager deutsche Schriftsteller, die bis dahin in der Forschung vernachlĂ€ssigt wurden (wie z. B. Rudolf Fuchs, Gustav Janouch, Hans Klaus oder Ernst Feigl), entdeckt werden. Siehe Hartmut Binder: Prager Profile: Vergessene Autoren im Schatten Kafkas, Berlin, Gebr. Mann Verlag, 1991.

72 Siehe Binder: Prager Profile, JĂŒrgen Serke: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft, Wien/Hamburg, Paul Zsolnay Verlag 1987 und JĂŒrgen Born: Deutschsprachige Literatur aus Prag und den böhmischen LĂ€ndern 1900–1925: chronologische Übersicht und Bibliographie, MĂŒnchen, K. G. Saur 1993.

73 Hartmut Binder: Kafkas Welt: Eine Lebenschronik in Bildern, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag 2008, S. 229.

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