RUDOL STEINER DIE RÄTSEL IN GOETHES «FAUST» - EXOTERISCH Berlin, 11. März 1909
Es war im August 1831, da siegelte Goethe ein Paket ein und übergab es seinem treuen Sekretär Eckermann und traf die testamentarische Verfügung zur Herausgabe des eingesiegelten Schatzes. Denn dieses Paket enthielt in einem umfassenden Sinne Goethes ganzes Lebensstreben. Es enthielt den zweiten Teil von Goethes «Faust», der erst nach Goethes Tod veröffentlicht werden sollte. Goethe hatte selbst das Bewusstsein, dass er den Inhalt seines reichen, weit verzweigten und in die Tiefen des Menschendaseins gehenden Lebens in dieses Werk hineingelegt hatte; und wie sehr für ihn selbst dieser Augenblick bedeutungsvoll war, das mag aus den Worten hervorgehen, die er in dieser Zeit sprach. Er sagte: Nun habe ich eigentlich mein Lebenswerk abgeschlossen; was ich weiterhin tue, und ob ich überhaupt noch etwas tue, das ist gleichgültig! Wenn man eine solche Tatsache auf die Seele wirken lässt, dann sagt man sich: In schönerer und harmonischerer Weise kann eigentlich nicht leicht ein Menschenleben für die übrige Menschheit fruchtbar gemacht werden, und zwar, was das Wesentliche ist, bewusst fruchtbar gemacht werden. Und es hat etwas tief Erschütterndes, wenn man Goethes Leben von diesem Zeitpunkt an - es dauerte ja nicht mehr ein Jahr - verfolgt und eine solche Tatsache auf sich wirken lässt wie die, dass er dann noch einmal Ilmenau besuchte und jene schönen Verse wieder las, die er am 7. September 1783, also sozusagen in seiner Jugend, geschrieben hatte: Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch;