Rudolf Steiner - 'Heinrich von Offerdingen' von Novalis (Kóln, 26. April 1905)

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Rudolf Steiner

«Heinrich von Ofterdingen» von Novalis Köln, 26. April 1905 Vortrag vor Mitgliedern der Theos. Gesell.

Unser Novalis ist mehr eine Erinnerung an ein früheres Leben als ein Leben selbst, eine Persönlichkeit, welche die Innigkeit vom Anfang an in der Anlage in sich hatte, eine feine, ätherische Persönlichkeit. Man ist gerade deshalb über Novalis erstaunt, weil er die höchste Intellektualität, das schärfste Denken mit einer wunderbaren Spiritualität verbindet. Er war ausgebildeter Bergbautechniker, der Mathematik [etc. / und so weiter] vollständig beherrschte, der das mathematische Denken mit einer feinen, zarten, äthergleichen Geistigkeit verband, der das ins Leben einführte, wie vielleicht kein zweites Beispiel im Leben zu finden ist. Man muss nachfühlen können, was in Novalis’ kleinen Aussprüchen enthalten ist. Man muss auch seinen Enthusiasmus für die Mathematik nachfühlen. Die Mathematik ist ihm ein großes Gedicht. Der Mensch sinnt über die Zusammenhänge von Raum 1

und Zeit nach. Wenn er sich mit den Harmonien der Sterne erfüllen kann, die um die Sonne kreisen, mit den Harmonien, die unter der Erde wirken, in den Erzadern im Inneren der Erde und so weiter, so kann er das Wesen der Welt empfinden. Novalis ist erfüllt von einem wahren Enthusiasmus, er nennt die Mathematik eine erhabene Religion. Das ist etwas Wunderbares bei Novalis, dass er die scheinbar trockenste Wissenschaft mit inbrünstiger Verehrung zu umfassen vermag. Die Sinnenwelt war für ihn praktisch wenig vorhanden. Er verliebte sich in ein dreizehnjähriges Mädchen, welches bald starb. Er kannte dann keinen Unterschied zwischen der Lebenden und der Verstorbenen. Er nannte sein ganzes Leben ein «ihr Nachsterben». Mit aufrichtigem Gefühl spricht er zu der Verstorbenen wie zu einer Lebenden. Später trat ihm ein anderes Mädchen nahe. Er trat ihr in übersinnlicher Weise entgegen, sodass sie für seine Gemütswelt vollständig mit dem ersten Wesen zusammenfloss, das er geliebt hatte. Sie war für ihn wie ein Symbol. Das Sinnliche wurde für ihn ein Sinnbild für das, was darüber schwebte. Es war in ihm eine Anlage zur Spiritualität, die in der neueren Zeit in beispielloser Weise dasteht. Er war in einem früheren Leben tief eingeweiht worden. Er trat in dies Leben mit der Anlage zur Erfassung der Welt. Wie ein Komet erschien er am geistigen Himmel, überall Geist ausstreuend in einer Weise, die nur in wenigen Kundgebungen der neueren Geister zu finden ist. 2


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