Grußwort Medizin kann nicht unhistorisch sein. Man kann zwar aus der Geschichte nicht im vordergründigen Sinne lernen, aber man kann an der Geschichte lernen, indem man die historischen Verhaltensweisen analysiert und die Ergebnisse dazu benutzt, die aktuellen Entwicklungen vor ihrem historischen Hintergrund einzuordnen und zu verstehen. Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ist in diesem Zusammenhang eine wesentliche Aufgabe. Es gab im sogenannten Dritten Reich Ärzte, die in der Perversion ihrer medizinischen Tätigkeit Schuld auf sich geladen haben. Andere sympathisierten mit dem Nationalsozialismus, weil dieser Teilen ihres Weltbildes entsprochen hat. Nur wenige Ärzte und Medizinstudenten haben Widerstand geleistet – wie z.B. die Gruppe um die Geschwister Scholl in München. An Sophie Scholl, deren Geburtstag sich am 9. Mai 2021 zum 100. Male jährt und die am 22. Februar 1943 wegen ihrer Mitgliedschaft in der Widerstandsgruppe Weiße Rose zum Tode verurteilt und am selben Tag hingerichtet wurde, sei in diesem Zusammenhang in besonderer Weise erinnert! Mit diesem verdienstvollen Symposium soll den Fragen nachgegangen werden, wie sich die Protagonisten der universitären Berliner Frauenheilkunde zum Nationalsozialismus gestellt haben; wie sich deren offizielle Vertreter auf Gynäkologenkongressen und in der Fachöffentlichkeit äußerten; ob es zumindest im lokalen Bereich Widerstand, Nicht-Mitmachen, Verweigerung gegeben hat; ob sich einzelne Wissenschaftler in besonderem Maße mit dem nationalsozialistischen System einließen; ob sie die vom Regime gebotenen Chancen, ihre wissenschaftlichen Forschungen voranzubringen, ergriffen und ob sie dabei die Grenzen der Ethik und Menschlichkeit überschritten haben. Es soll also exemplarisch aufgezeigt werden, wie eine bestimmte Berufsgruppe deutscher Ärzte sich verhalten hat. Die Kenntnis solcher Verhaltensweise ist wichtig. Diese Auseinandersetzung macht es uns möglich, Scham zu empfinden und über unsere heutige Situation nachzudenken. Der Nationalsozialismus entstand nicht aus dem Nichts, sondern konnte sich vor allem in der Anfangsphase auf die nationalkonservative, vielfach auch an der Charité vorhandene antisemitische Gesinnung von Hochschullehrern und Studenten stützen. Nichts wurde neu erdacht oder erfunden, sondern nur akzentuiert, potenziert, und grausam realisiert, was in den Köpfen von Wissenschaftlern, Hochschullehrern und Ärzten, aber auch großer Teile der deutschen Bevölkerung bereits schwelte.
Grußwort 9
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