Die Intelligenzsiedlungen in Ost-Berlin (Leseprobe)

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Die Intelligenz in der SBZ/DDR

Gemäß der marxistisch-leninistischen Theorie wird »Intelligenz« unter zwei Perspektiven bestimmt:1 Einerseits erlebt die Intelligenz historisch gesehen ihre (bürgerliche) Blüte im Kapitalismus. In dieser Gesellschaft privater Aneignung entsteht durch die Trennung der Handarbeit von der Kopfarbeit zugleich deren Machtanspruch über die Handarbeit, eine Abgrenzung nach unten, besonders zum Proletariat. Ihr sozio-ökonomischer Status und im Besonderen ihre höhere Bildung wird nicht nur zu einem sozialen Unterscheidungsmerkmal, sondern beeinflusst Haltung, Einstellung, Habitus, Lebensweise. Auch wenn das Bildungsbürgertum ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich stärker differenziert, bleibt nach dem Verständnis des Sozialhistorikers Jürgen Kocka die Traditionslinie »Bürgerlichkeit als Lebensform und Verhaltensform« bis ins 20. Jahrhundert – auch in der DDR aufspürbar. Dazu zählen nach Kocka: Hochachtung der individuellen Leistung, Rationalität der Lebensführung, die Wertschätzung der Bildung für das Welt- und Selbstverständnis, eine enge Beziehung zur ästhetischen Kultur, Respekt vor der Wissenschaft (…), ein Minimum an liberalen Tugenden, hohe Bedeutung symbolischer Formen (Konventionen, Umgangsformen, Titel).« Diese Werte entwickelten »eine erhebliche Anziehungskraft auch für andere soziale Schichten und Gruppen.«2 Andererseits sollte diese im Kapitalismus politisch-praktisch gewordene Unterscheidung von Kopf- und Handarbeit in einer sozialistischen Gesellschaft, wie der SBZ/DDR und anderen sozialistischen Ländern aufgehoben werden. In der Entschließung zum II. Parteitag der SED im September 1947 heißt es: »Rückständige Stimmungen eines Gegensatzes zwischen den Arbeitern und den Intellektuellen müssen entschieden bekämpft werden.«3 Die Intelligenz war nach Auffassung der marxistisch-leninistischen Lehre eine Produktivkraft, die für den Aufbau des Sozialismus benötigt wurde. In pädagogisch-politischer Hinsicht sollte die Intelligenz der Nachkriegszeit den Kampf für antifaschistische Vorstellungen führen und bei der Verwirklichung des Humanismus in einem geeinten Gesamtdeutschland entscheidend mitwirken. Der schon kurze Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Berlin von dem sowjetischen Stadtkommandanten Generaloberst Bersarin angeregte und mit Genehmigung der sowjetischen Militärverwaltung (SMAD) am 8. August 1945 gegründete Kulturbund, mit dem späteren DDR-Kulturminister Johannes R. Becher als 1. Vorsitzenden,4 und die ab März 1952 entstandene Vielzahl von Klubs der Intelligenz in den größeren und mittleren Städten sollten dem Zweck dienen, Deutschland demokratisch, humanistisch und antinazistisch zu erneuern. Mitte der 1950er Jahre gab es ca. 5.000 Mitglieder

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