Einleitung
Im Herbst 1887 eröffnete das städtische Obdach von Berlin, das umgangssprachlich »Palme« genannt wurde. Der große Neubau im Nordosten der Stadt diente zur kurzzeitigen Aufnahme einer wachsenden Zahl obdachloser Menschen und galt wegen der großzügigen Planungen und modernen Ausstattung anfangs als mustergültige Anstalt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Kommune lediglich unzureichende und provisorische Unterkünfte bereitgestellt – ein Missstand, dem mit dem Neubau endlich abgeholfen werden sollte. In der alltäglichen Praxis offenbarten sich allerdings schon wenige Jahre nach der Eröffnung grundlegende Mängel in der Unterbringung: Eine regelmäßige Überbelegung des Obdachs, hygienische Probleme sowie tätliche Übergriffe des Aufsichtspersonals beschäftigten in wachsendem Maße die Öffentlichkeit und begründeten den schlechten Ruf dieser Einrichtung. In den folgenden Jahrzehnten sollte die »Palme« auf diese Weise immer wieder Schlagzeilen machen und wurde vielen Zeitgenossen weit über die Stadtgrenzen hinaus als Synonym für großstädtische Armut bekannt. Hier manifestierten sich die wirtschaftlichen und sozialen Krisen zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert besonders drastisch. Zu jener Zeit befand sich Berlin mitten im Prozess eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels, der sich mit der Reichsgründung von 1871 nochmals beschleunigt hatte. Insbesondere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts waren im Zuge einer rasant zunehmenden Industrialisierung und einer wachsenden Mobilität breiter Bevölkerungsschichten unzählige Menschen verstärkt in die Stadt gezogen. Durch die enorme und stete Zuwanderung vor allem aus den ländlichen Gebieten in der Hoffnung auf bessere Arbeits- und Lebensbedingungen stieg die Einwohnerzahl innerhalb weniger Jahrzehnte übermäßig an, sodass die Urbanisierung gerade im Großraum Berlin in ungeahntem Tempo voranschreiten sollte. Als ein gesellschaftliches Zentrum in Deutschland wurde Berlin zur Metropole, hatte bereits einige Jahre nach der Reichsgründung mehr als eine Million Einwohner und wuchs ungebrochen weiter. Infolge dieser Entwicklungen nahmen auch die sozialen Pro bleme in der Stadt dramatisch zu: Neben einer weit verbreiteten Armut waren es vor allem Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot, die zunehmend das Leben großer Teile der städtischen Bevölkerung prägten und häufig in existenzielle Not führten. Hinzu kamen die teils katastrophalen Wohn- und Lebensverhältnisse, die in sozialer und
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