Im Sog der Säkularisierung (Leseprobe)

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dernen, individualistischen Welt immer weniger Überzeugungskraft entfalten. Der römisch-katholischen Kirche gelang es erst im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965), zu einem neuen Kirchenbild zu finden, das dem einzelnen Gläubigen nun als Angehörigem des »Volkes Gottes« einen neuen Rang zuwies. Dies kam aber möglicherweise zu spät, um den Autoritätsverlust ihrer Hierarchien noch aufhalten zu können gegenüber Gläubigen, die zunehmend Eigenverantwortlichkeit für die Gestaltung ihres Lebens und Mitsprache einforderten. Über die Zeit des wilhelminischen Reiches hinweg – nachdem der Kulturkampf einmal ausgestanden war – wuchs der parteipo­litisch organisierte Katholizismus in Deutschland zu einer tragenden Säule des entstehenden Parlamentarismus heran, ironischerweise zusammen mit der anderen »Reichsfeindin«, der Sozialdemokratie. Der Erste Weltkrieg unterbrach diese Entwicklung, bahnte aber auch die Karriere sowohl der katholischen Zentrumspartei als auch der Mehrheitssozialdemokratie als der beiden tragenden Parteien der Weimarer Republik an. Während die episkopale Hierarchie durchweg ihrer monarchistischen Sozialisation verhaftet blieb, entwickelte sich der (partei-)politische Teil des deutschen Katholizismus parlamentarisch-demokratisch. Dabei konnten Spannungen mit der Hierarchie nicht ausbleiben; sie entluden sich gerade auch an den Schnittstellen zu den katholischen Organisationen und Verbänden.

Die Zeit des Nationalsozialismus

Der Nationalsozialismus forderte sowohl den Protestantismus als auch den Katholizismus heraus,10 mit dem Unterschied, dass der Katho­lizismus die Unvereinbarkeit christlicher Grundsätze mit Ideologie und Strategie dieser völkisch-rassistisch-revolutionären Bewegung von Anfang an erklärte, während der Protestantismus dem Nationalsozialismus eine Flanke öffnete. Aber auch die katholische Seite ließ sich zuletzt in die Irre führen. Ihre politischen Repräsentanten gaben sich mehrheitlich der Illusion hin, die Hitler-Bewegung sei nur temporär und ließe sich im Zaum halten; ihre geistlichen OberhirBegriffe, Entwicklungslinien, Strukturen

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