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AnselmGrün/RamonaRobben Grenzensetzen, Grenzenachten

WegezueinemglücklichenMiteinander

Taschenbuchneuausgabe2021

TitelderOriginalausgabe:Grenzensetzen–Grenzenachten. DamitBeziehungengelingen–SpirituelleImpulse ©VerlagHerderGmbH,FreiburgimBreisgau2004

©VerlagHerderGmbH,FreiburgimBreisgau2021 AlleRechtevorbehalten www.herder.de

Umschlaggestaltung:VerlagHerder Umschlagmotiv:RRA79/shutterstock

Satz:BarbaraHerrmann,Freiburg Herstellung:GGPMedia,Pößneck

ISBN:978-3-451-03399-5 ISBNE-Book(EPUB):978-3-451-33356-9

5.Grenzenmussmankennenlernen

11.Wennalleszuvielwird

Einleitung

InderBegleitungbegegnenwirimmerwiederdemThemader Grenze.EsgibtvieleRatsuchende,diedarunterleiden,dasssie sicheinfachnichtabgrenzenkönnen.Siekönnennichtneinsagen,sondernstehenunterdeminnerenDruck,alleWünsche,die ansieherangetragenwerden,zuerfüllen.Siemeinen,siemüssten allenmöglichenErwartungenandererMenschenentsprechen.Sie habenAngst,neinzusagen,weilsiebefürchten,sichsonstnicht mehrzugehörigzufühlenoderweilsiedenken,Ablehnungzuerfahren,wennsieetwasverweigern.Andereessengrenzenlos:Sie nehmenihreeigeneGrenzenichtwahr.Undsieleidendarunter, dasssiesichselbstkeineGrenzesetzenkönnen.

WiederanderehabendieFähigkeitverloren,sichgegenüber MenscheninihrerUmgebungabzugrenzen.IhreGrenzenzerfließen.Sienehmensofortwahr,wasdieanderenfühlen.Aber dasistkeineswegsnurpositiv.DennihreeigenenGefühlemischensichständigmitdenenderanderen.SiesinddenStimmungenihrerUmgebungausgesetztundlassensichdavonbestimmen.ManchmalhabensiesogardenEindruck,dasssie sichauflösen.Solebensieschutzlos.WerdieLebensgeschichten solcherMenschenuntersucht,merktbald,dassdieUrsachendafüroftweitzurückliegen.GrenzenloseMenschenhabenmeist inderKindheiteineMissachtungihrerGrenzenerfahren.SolcheErfahrungensindfürdieBetroffenenverletzend.Sietun nichtnurweh,siehabenoftauchproblematischeKonsequenzenundlanganhaltendeNachwirkungen:WirbrauchenalleunserenSchutzraum.AberdaistzumBeispieldieMutterohnezu klopfeninsZimmerihrerTochtereingetreten,hatinderenAb-

wesenheitindenSchubladengekramtoderihrTagebuchgelesen.Eszeigtsichimmerwieder:WerinderKindheitsolche Grenzverletzungenerlittenhat,tutsichnichtseltenseinLeben langschwerinseinenBeziehungen.DieBeispielelassensich fortsetzen.Wassieallezeigen:UnserLebenkannnurgelingen, wennesinnerhalbbestimmterGrenzengelebtwird.

WieabergelingtmenschlichesLebeneinerPerson,dasjaimmer einLebeninBeziehungenist?OhnedieFähigkeit,sichabzugrenzen,kannmanseineeigenePersonnichtwahrnehmenundsein Personseinnichtentwickeln.SchoneinBlickaufdieWortbedeutungdeutetdasan:„Person“heißtursprünglich„Maske“;dasist etwas,wasichvormichhalte.DurchdieMaskehindurchkannich Kontaktzumanderenaufnehmen.DaslateinischeWort„personare“heißt„durchtönen“.DurchmeineStimme,durchdasSprechenerreicheichdieanderePerson,aufdieseWeisegeschiehtBegegnung.DamitaberBegegnunggelingt,brauchteseinenguten AusgleichvonGrenzeundGrenzüberschreitung,vonSchutz undSich-Öffnen,vonSich-AbgrenzenundSich-Hingeben.Ich mussummeineGrenzewissen.Erstdannkannichsieimmerwiederüberschreiten,umaufdenanderenzuzugehenundihmzubegegnen,ihninderBegegnungzuberührenunddarinmöglicherweiseeinenAugenblickvonEins-Werdenzuerfahren.

Begegnunggeschieht,sogesehen,immeranderGrenze.Ich mussbisanmeineGrenzegehen,biszumÄußersten,dasmir möglichist,umbeimanderenanzukommen.WennBegegnung gelingt,sindGrenzennichtmehrstarrundtrennend.DannwerdenGrenzenfließend,danngeschiehtanderGrenzeundüber dieGrenzehinwegEins-Werden.AberBegegnungistnichtsStatisches,sondernimmeretwas,wasimlebendigenVollzuggeschieht.NachderBegegnunggehtjederinseinenBereichzurück,bereichertvonderErfahrunganderGrenze.

DerrichtigeUmgangmitdenGrenzenistfürdenfranzösischen SchriftstellerRomainRollandsogarderentscheidendeSchlüssel zumGlück,wennersagt:„GlückheißtseineGrenzenkennen–undsielieben.“EsgehtalsoinseinerSichtnichtnurumdie Kunst,sichabzugrenzen,oderdarum,seineGrenzenzukennen.Wirsollensieauchlieben.Dasheißtnichtsanderesals: WirsolleneinverstandenseinmitunsererBegrenztheit,dankbar seinfürdieGrenzen,diewiranunsundandenandernerfahren. DerSchlüsselzumGlückliegtdarin,sichinseinereigenenBegrenztheitzuliebenundauchdieMenschenmitihrenGrenzen zulieben.Dasfälltnichtimmerleicht,dawirvonunslieberBildervonUnbegrenztheitentwickeln.DochfürRomainRolland giltesalsausgemacht:WersichmitseinenGrenzenaussöhnt undliebevollmitihnenumgeht,dessenLebengelingt,dererfährtGlück.

VieleMenschenleidenheuteanÜberforderung.Daskannviele Gründehaben.EinimmerwiederanzutreffenderGrund:ÜberforderteundausgebrannteMenschenhabenihreGrenzenicht beachtet.SielebenüberihreVerhältnisseundmerkenirgendwann,dasssieihrinneresMaßverlorenhaben.Ohnedasrechte MaßabergelingtdasLebennicht.

EsgibtaberauchMenschen,fürdieetwasandereszutrifft: VorlauterSich-AbgrenzenentdeckensieihreKraftgarnicht undsiewachsennieüberihreeigeneGrenzehinaus.ImGegenteil:SiebleibeninihrerEngestecken.VonsolchenMenschen sagenwir,sieseiensehrbegrenzt.SiesehennichtüberihrenengenGesichtskreishinaus.Siesindkaumbelastbar.Siesindunfähig,ihreeigenenGrenzen,aberauchdieihrerGruppe,auszuweiten,umneuesLebenzuzulassen.

WerüberdasThema„Grenzen“spricht,wirdauchimmerwiedermitaktuellenFragenkonfrontiert.InletzterZeitwirdetwa

dasThemadessexuellenMissbrauchszunehmenddiskutiert,ein langetabuisiertesProblem.Auchdabeihandeltessichimmer umNichtbeachtungvonGrenzen.AuchunsereigenerKörper istjaeineGrenze,undkörperlicheDistanzgehörtebensozuunseremLebeninderGemeinschaftwieNähe.Näheistdabei immerauchAusdruckvonVertrauen.Vertrauenkannabermissbrauchtundverletztwerden.UnsereSprachekenntdieFormulierung,dasseinemjemand„zunahekommt“,wennGrenzen überschrittenwerden.MissbrauchistvorallemdieVersuchung vonMenschen,dieineinerstärkerenPositionsind:vonVätern, Onkeln,älterenBrüdern,vonSeelsorgern,Therapeuten,Ärzten undLehrern.SienehmenwederihreeigenenGrenzennochdie derihnenAnvertrautenwahrundmissbrauchenNäheundVertrauen. UmgekehrterlebenwirfreilichinderBegleitungauchMenschen,dieunsereeigenenGrenzennichtwahrhabenwollen.Sie könneneinNeinnichtakzeptieren.Sieversuchen,mitallenMittelnihreeigenenErwartungendurchzusetzen.Undsiewollen nichtverstehen,dassauchwirGrenzenhaben,diewirnicht ständigausweitenmöchten.

AuchFragenderpersönlichenLebensgestaltungstehenineinemgrößerengesellschaftlichenundpolitischenZusammenhang:IneinersichglobalisierendenWelt,dieimmerweniger Grenzenkennt,fälltesdenMenschenoffensichtlichebenfalls schwer,zuihrenGrenzenzustehen.Wirerlebenzwareinerseits, wiebefreiendesist,wennwiretwainnerhalbderEUvoneinem Landindasanderefahrenkönnen,ohneunsdenfrüheroftso langwierigenundunangenehmenGrenzkontrollenunterziehen zumüssen.AufderanderenSeiteerlebenwirauchdieGefahren derGrenzaufhebung.DieIdentitätwirdunklar.DurchdieoffenenGrenzenhabenzudemKriminellegrößereChancen,undes

gibtnichtnureinenZugewinnanFreiheit,sonderneswachsen beivielenMenschenauchAngstundUnsicherheit.

IneinerEpochezunehmenderBeschleunigungundständiger WachstumsforderungändertsichzudemauchdasLebensgefühl. Allesgleichzeitig,allessofortundjederzeit.SolautetdasgeheimeGrundgesetzineinerNonstop-Gesellschaft,einGesetz, nachdemvieleheuteleben.PausenlosjagendieMenschen nachdemGlückodernachdem,wassiedafürhalten.Unsere ZeitleidetanderMaßlosigkeitundGrenzenlosigkeit.Dasspürt mannichtnurimprivatenLeben,sondernimmeröfterauchim beruflichenUmfeld,woderDruckimschwierigerwerdenden wirtschaftlichenUmfeldzusteigendenBelastungenführt,die oftdieGrenzendesZuträglichenüberschreiten.Vielemeinen, sichimmermehraufbürdenzumüssen,umsichzubeweisen. Odersieerfahrenschmerzlich,wieihnenvonVorgesetztenimmermehranArbeitzugemutetwird.

FürvielegibtesauchkeineZeitgrenzenmehr.Alleslässtsich gleichzeitigerledigen:BeimReisentelefoniertman,umandere zuinformieren,womangeradeist.Manlässtsichnichtaufdie Fremdeein.ManfährtindieFremdeundmöchtedochdenKontaktnachHause.SoverwischensichdieGrenzen.ManüberschreitetdieGrenzeindieFremdenichtmehr,sondernlöstsie auf.SolcheGrenzenlosigkeit–inwelchenZusammenhängen auchimmersieauftaucht–tutdemMenschennichtgut.Häufig machtsiesogarkrank.MancheTherapeutenmeinen,dassdie heutesorapidzunehmendeKrankheitderDepressioneinHilfeschreiderSeelegegendieGrenzenlosigkeitsei:DieDepression zwingtdenMenschen,sichaufsichselbstzurückzuziehen.Sie sollihnsozusagenvordemZerfließenschützen.

EineandereGrenzenlosigkeitzeigtsichimKonsum.Es mussimmermehrgeben,allesmussunssofortzurVerfügung

stehen,jederzeit,sobaldwireinBedürfnisdanachverspüren. DashatdurchauseinDoppelgesicht:Wennwiralleskaufen können,istesschwer,dieeigeneGrenzezuerfahren.Immer mehrMenschenverschuldensich.SiekönnensichkeineGrenzeninihremKonsumsetzen,bisirgendwannderSchuldenberg aufihnensoschwerlastet,dasserihrLebenerneutundumso schmerzlicherinengeGrenzenweist.

DieangedeutetenErfahrungeninderBegleitungundunsereBeobachtungderZeitverhältnissehabenunsermutigt,diesem ProblemderGrenzenachzugehen.WirhabeninderBibel nachGrenzerfahrungengefragtunddasThemaderGrenzein seelsorglichenGesprächenbewusstbeachtet.Eshatunsselbst erstaunt,wiehäufigunsinletzterZeitdiesesProblembegegnet ist.Sobaldmandafürsensibilisiertist,tauchtesimmerwieder auf.Wirwollenfreilichkeinesystematischepsychologische odergesellschaftlicheDarlegungüberdenUmgangmitGrenzen schreiben,sondernnuraufeinigeAspekteaufmerksammachen, dieunsinunsererArbeitwichtiggewordensind,Aspekte,die etwasüberunseregegenwärtigeSituationaussagenunddieoffensichtlichaberauchzumMenschseingehören.Dabeihelfen unsdiebiblischenBilderundeinigeMärchen,dieumdieses Themakreisen,dieeigenenErfahrungenbesserzuverstehen. Weildassoist–undumdaraufaufmerksamzumachen–haben wirschoninderÜberschrifteinzelnerKapiteleinWortoder eineErzählungausderBibelanklingenlassen.Manchmalhaben wirdieBibelstelleausderlateinischenÜbersetzungderVulgata übernommen.DortistoftvonGrenzedieRede,wodieEinheitsübersetzungandereWorteundBildergebraucht.DieWorte ausderBibelundandereTexteausdermenschheitlichenÜberlieferungversuchenwiralsBilderzuerschließen,indenendas GeheimnisderGrenzeunddesAbgrenzensaufleuchtet.

WirhabendiesesBuchinvielenGesprächenundinmehreren KorrekturdurchgängendesGeschriebenengemeinsamerarbeitet.WennalsoimText„wir“steht,drücktesunseregemeinsamenErfahrungenaus.WennFormulierungenwie„ich“, „meineSchwester“usw.auftauchen,dannbeziehensiesichauf denSchreiberdesTextes:AnselmGrün.DiebeschriebenenErfahrungenbeziehensichmeistaufdieBegleitungvonMenschen.RamonaRobbenbegleitetimGästehausderAbteiMünsterschwarzachEinzelgäste,diesichfüreinigeTageinsKloster zurückziehen.PaterAnselmbegleitetvorallemPriesterundOrdensleuteimRecollectiohaus.WirhabenimTextnichtangegeben,auswelcherBegleitungdieBeispielestammen.Undwirhabendarüberversucht,dieBeispieleallgemeinzufassenund manchmalleichtzuverändern,sodassmandiebetroffenenPersonennichterkennenkann.DieGrenzederMenschenzuwahren,dieindieBegleitungkommen,istunseinwichtigesAnliegen.DaherhabenwirwenigerkonkreteBeispieleerzähltals vielmehrunsereErfahrungeneinfließenlassen,diewirüber denVerlaufeinerlangenZeitinderBegleitunggemachthaben.

VonderBalancezwischenNäheundDistanz

Interessenkonflikte

AbgrenzungisteinaltesMenschheitsthema.AuchinderBibel findenwiresanzentralerStelle.InderGeschichteIsraelsreflektiertsichMenschheitsgeschichte,unddieGeschichteIsraelsbeginntmitAbraham.AbrahamhörtdenRufGottes,auszuziehen ausseinerHeimatundseinemVaterhausindasLand,dasErihm zeigenwollte.DieGrenzenseinesVaterlandessindihmzueng geworden.Gottbefiehltihm,auszubrechenausdembegrenzten Raum,indemerbishergelebthat.AbrahamgehorchtdiesemRuf undnimmtseineFrauundseinenNeffenLotmitsowiedieganze Habe,diesieerworbenhatten.DasLandimNegeb,indemAbrahamundLotmitihremViehhin-undherzogen,warzukleinfür beide.WeilesständigStreitzwischendenHirtenAbrahamsund denHirtenLotsgab,sagteAbrahamzuLot:„Zwischenmirund dir,zwischenmeinenunddeinenHirtensolleskeinenStreitgeben;wirsinddochBrüder.LiegtnichtdasganzeLandvordir?

Trenndichalsovonmir!Wenndunachlinkswillst,geheich nachrechts;wenndunachrechtswillst,geheichnachlinks“ (Gen13,8f).LotziehtnunnachOstenundAbrahamnachWesten.ErlässtsichinKanaannieder.NachdemAbrahamdiebisherigenGrenzenhintersichgelassenhat,musserneueGrenzenziehen,damiterundseinNeffeLotinFriedenlebenkönnen.

EsisteineSituation,diewirallekennen.AbrahamundLotsind miteinanderverwandt.AbertrotzdemgibtesInteressenkonflikte. WeilfürdieHerdenvonbeidennichtgenügendWeideflächeda

ist,kommteszumStreit.DieGeschichtespieltsichauchheute nochab:DagibtesBrüder,diemiteinandereinGeschäftführen. Dochfürbeideisteszuklein.Stattsichständigzustreiten,trennensiesichundeinigensich,wiesiedasbisherGemeinsameverteilen.WennsieinangemessenemundgeklärtemAbstandzueinanderlebenundarbeiten,könnensieinFriedenmiteinander sein.Wennsiezuengbeisammensind,gibtesnurStreit.

InjederFamiliekannsichähnlichesereignen.DasGesagte giltnichtnurfürdasVerhältnisunterGeschwistern,sondern auchfürdieBeziehungzudenEltern.AufunseremLebensweg brauchenwirzuerstdieNähederElternundderFamilie.Doch irgendwannwirdeszueng.Dannistesbesser,sichgütlichzu trennen.IchmussmiraufmeinemWeginsLebenmeineneigenenBereicherobernundindasLandziehen,dasGottmirzugedachthat.DasVerhältnisvonNäheundDistanzmussdann neugeregeltwerden,damitwiraufDauergutauskommen.

Entfaltungsräume

AuchausdemUmfeldmeineseigenenOrdenskenneichsolche Geschichten:UnterdenMissionaren,dieseit1888ausSt.OttiliennachOstafrikaauszogen,warenrichtigeHaudegen–Männer,diegeprägtwarenvongroßerAbenteuerlustundungeheuremTatendrang.DochsiehattenProblememiteinander.Wenn solcheHaudegengemeinsameinWerkvollbringensollten,gab esnachkurzerZeitregelmäßigStreit.SozogdereinenachOsten,deranderenachNorden.AufdieseWeiseverbreitertensie dasMissionsgebiet–undhattendort,wosiejeweilswirkten, auchgroßenErfolg.EswarauchbeiihnenwieinderGeschichtevonAbrahamundLot:WeilsiedieGebieteaufteilten, konntejederinseinemGebietdieeigenenIdeenverwirklichen. SoentstandeinpositiverWetteiferinihremTun.Wennsieim

gleichenGebietgebliebenwären,hättensiesichbekämpftund blockiert.IhrstarkerUnabhängigkeitsdrangunddasAufteilen derGebietewurdezumSegenfüralle.

WichtigistdieBalancezwischenNäheundDistanz.DieBegründung,dieAbrahamfürdieTrennungvonseinemNeffenLotangibt,istinteressant:„WirsinddochBrüder.“Geradeweilsieeine soengeBeziehunghaben,müssensiesichvoneinanderabgrenzenundtrennen,damitjederinnerhalbseinerGrenzengutleben kann.ZuvielNäheschafftsogarzwischenBrüdernStreit.Auch wennsiesichnochsogutverstehen,wirdeszuKonfliktenkommen,wennsienäherzusammenwohnen,alsihnenguttut.Inder biblischenGeschichtewirddamitargumentiert,dassdasLandfür beideHerdennichtgroßgenugwar.DasisteinBilddafür,dass jederMenschseinenEntfaltungsraumbraucht.Erbrauchtseine Freiheit,umdaslebenzukönnen,wasihmwichtigist.Wenner dabeidemanderenständigindieQuerekommt,gibtesKonflikte,auchwennmansichpersönlichnochsogutversteht.InFamilienistdasnichtandersalsinanderenGemeinschaften,indenen dieMenschenzuengaufeinandersitzen.DieKonsequenz,obim privatenoderberuflichenUmfeld:SiekontrollierensichgegenseitigundbeschneideneinanderinihrenEntfaltungsmöglichkeiten.DamitdieMitgliedereinerGemeinschaftgutmiteinander auskommen,brauchtesimmereineklareGrenzziehung.DieArbeitsbereichesolltenklarvoneinandergetrenntsein,damitjeder seineFähigkeiteninseinemBereichentfaltenkann.Zugleich brauchtesabereingutesMiteinanderinderArbeit,dieBereitschaft,sichetwadurchTerminabsprachenGrenzenzusetzen unddieeigenenGrenzenunddiederanderenArbeitsbereiche zuwahren.DieausgewogeneBalancevonNäheundDistanzim MiteinandergehtbisinganzpraktischeräumlicheFragen.Es brauchtdieRückzugsmöglichkeitindieeigenenvierWände. WenneinHauszuhellhörigist,wenndieZimmernichtgutiso-

liertsindundmandasHustendesNachbarnständighört,wird solcheNäheschnellAggressivitäterzeugen.Nurwennmansich zurückziehenkann,kommtmanauchgernezusammen.Es brauchtalsoimmerbeides:NäheundDistanz,Sich-reibenund Sich-zurückziehen,VerbindlichkeitundFreiraum,Einsamkeit undGemeinschaft.

JenseitsdesParadieses

InGesprächenmitMenschen,dieunterdemProblemderrichtigenGrenzziehungleiden,hörtmanmanchmal:„Wirverstehen unsdochsogut.“WennjemandzusehraufdasgegenseitigeVerständnisbaut,übersiehterallerdingsoftdieGrenzen,dieer braucht,umsichmitdemanderengutzuverstehen.Wennman immerzusammenist,danngibtesProbleme.Dasgiltauchfür jedeEhe.Auchdabrauchtjederundjede,MannundFrau,den eigenenRaum,indemerfürsichselbstseinkann.Frauenerzählenoft,dasseszuProblemenkam,alsderMannpensioniertwordenist.ErsitztnunimmerzuHause.Vorherhabensiesichgut verstanden.DawardasMiteinanderaufdenMorgen,denAbend unddasWochenendebeschränkt.IndiesenGrenzenwarHarmonie.Aberjetzt,daderMannständigumdieFrauherumist,istihr dieNäheaufeinmalzuviel.Siewirdaggressiv.DieAggressionen sindeinZeichendafür,dasssiemehrDistanzbraucht.DieFrau spürt,dassesauchfürdenMannnichtgutist,immerimHauszu bleiben.ErbrauchtauchnachderPensionierungseineneigenen Raum,indemersichengagierenoderseinenHobbysnachgehen kann.EinpensionierterSchulleitererzählte,wiedieersteZeit nachderPensionierungfürihnundseineFrauzumHorrorwurde.Erselbermussteerstdamitfertigwerden,dassernichtmehr imMittelpunktstandundnichtmehrineinemvorgegebenen Rahmengebrauchtwurde.Erwollteesjedochnichtwahrhaben,

dassihmdasLoslassenschwerfiel.SoprojizierteerseineProblemeaufseineFrauundkritisierteanallemherum.Siemerkten schließlichbeide,dassessonichtweitergehenkönne.IhreLösung:SieeinigtensichaufeinegesundeTagesstruktur,indersie fürjedengenügendFreiraumvorsahen.Undsieheda:Aufeinmal konntensiewiedergutmiteinanderauskommen.

DerPaartherapeutHansJellouscheksiehtalsUrsachevieler EheproblemediezugroßeNähederEhepartner,diemeinen, siemüssteninderLiebeimmerverschmelzen.DochPartner, diesolebenwollen,findenniezuihremeigenenSelbst.Und dieKonsequenz:IrgendwannleidensieanihrerzugroßenNähe.SiekönnenihreSexualitätnichtmehrgenießen.SieentwickelnpsychosomatischeSymptomeundstreitenständigmiteinander.EineEhegelingtnur,wennsieeinausgeglichenes MiteinandervonNäheundDistanzwird.VieleEhepaare,die überständigeKonflikteinderBeziehungklagen,verstehen nicht,wennderTherapeutihnensagt:„Ihrseidvielzunahzusammen!“Siemeinenoftgerade,dassihrständigesStreiteneher AusdruckeinerzugroßenDistanzsei.DochfürJellouschek stehtfest,„dassderStreitgeradeeineFormdesKlammernsaneinanderist“.ErrätdaherdenPaaren,dasssiesichgenügend Freiräumeschaffen,etwaeineneigenenRauminderWohnung odereinen„freien“TaginderWoche,densiefürsichselber gestalten.ManchebekommenbeieinemsolchenRatAngst undmeinen,dasseieinersterSchrittzurTrennung.Dochnur wennsiesichdieeigenenGrenzensichern,werdensieauf Dauerfriedlichzusammenbleiben.EineDauerverschmelzung gibtesnicht.Biblischgesprochen:DerEngelverwehrtunsendgültigdenZutrittzumParadies.EsgibtinunseremLebenkein ZurückindasParadiesdesununterbrochenenEinsseins.WirlebenimHinundHerzwischenNäheundDistanz,zwischenEinheitundTrennung.DasParadiesendgültigerEinheiterwartet

unserst,wennwirimTodeinswerdenmitGottundmituns selbstundmiteinander.

ÄußereundinnereAbgrenzung

JungeEhepaare,dienochimHausderElternwohnen,leidenoft unterderzugroßenNähederEltern.DieFrauhatdannoftden Eindruck,dassderMannständigzurMuttergehtundsichvonihr tröstenlässt,wennesKonfliktezwischendenEhepartnerngibt. OftsinddieWohnräumenichtgenügendvoneinandergetrennt. NichtselteneinAuslöserfürSchwierigkeiten:DieSchwiegermuttererscheintunangemeldetinderWohnung,alsobesihreeigene wäre.Esistzwarbequem,wenndieSchwiegermutteraufdieKinderaufpasstunddiejungenElterndadurchFreiräumehaben. DochwennsiedenErziehungsstilständigkritisiert,dannistein Dauerkonfliktvorprogrammiert.AbweichendeVorstellungendavon,wasgutistfürdieKinder,gehörenzudiesenproblematischenBereichen.Schwierigwerdenkannes,wennsichdie Schwiegertochterzwardarüberärgert,dassdieOmadenKindern Süßigkeitenzusteckt,ihraberkeineklarenGrenzensetzenund derSchwiegermutternichtunmissverständlichklarmachenkann, dasssiealsMutterihreErziehungsverantwortungselberwahrnehmenwill.DasKlimawirdinsolchenFällenimmermehrvergiftet.DasinddannnichtnuräußereTrennungennötig,sondern aucheineklareinnereAbgrenzung.SonstkannsichdieFamilie nieentfalten.DieseSchwiegertochterbrauchtdannebenihreigenesGebietwieAbrahamundLot,damitdiejungeFamiliezusammenwachsenundihreKonflikteselberlösenkann.

DieinnereAbgrenzungistoftschwereralsdieäußere.Dakreist etwaeinjungesEhepaarimmerwiederdarum,wasdieEltern oderSchwiegerelternübersieundihreKindergesagthaben

oderwassiedarüberdenken.UndwennsiedieElternbesuchen, fühlensiesichsofortkontrolliert,beobachtetundzubestimmtenVerhaltensweisengedrängt.IneinersolchenKonstellation isteswichtig,sichinnerlichabzugrenzen.DieMutterundder Vaterdürfendenken,wassiedenken.SiedürfenihreWünsche äußernundnatürlichauchihreMeinunghaben.Ichmussmich darübernichtaufregen.Ichkannesbeiihnenlassen.Wennich dieGrenzezwischenmirunddenElternklarziehe,kannichmit ihnengutauskommen.Ichfühlemichnichtständiginmeiner Freiheitbeschnitten.Ichentscheide,wannichihreWünscheerfüllenmöchteundwannnicht.UndichstehenichtunterDruck, sievonderRichtigkeitmeinerMeinungüberzeugenzumüssen. IchhabemichabgegrenztundrespektieredieBegrenztheitihrer Weise,dieWeltzubetrachtenundzudeuten.

WennmanvielZeitmiteinanderverbringtundallesgemeinsam tunmöchte,dannerzeugtdasofteinaggressivesKlimawiebei denHirtenAbrahamsundLots.Aberwennman–wieetwain einerklösterlichenGemeinschaft–daschristlicheGemeinschaftsidealhochhängt,übersiehtmannichtselten,dassdieAggressivitätmenschlichundnormalistunddassgeradedieproblematischeEngedanachschreit,mehrFreiraumzuschaffen. UndanstatteinegesundeDistanzzuermöglichen,appelliert manandieNächstenliebe:Mansollesichdochvertragenund einanderachten.DochdiemoralischenAppellefruchtennicht, wenndieäußerenBedingungennichternstgenommenwerden, unterdeneneingutesMiteinandermöglichwird.ImGegenteil, dieständigeErmahnung,einandermehrzuliebenundzuverstehen,erzeugtneueAggressivitätoderinnerenRückzug.Da wäreeinenüchterneAnalyse,warumdasMiteinandersoschwierigist,vielfruchtbarer.EinesolcheAnalysewürdesicherergeben,dassdasMiteinandervonNäheundDistanznichtausgewogenist.

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