Ü wie Überraschung
Freitagmittag, letzter Schultag
„Puh!“ Erleichtert schmiss Johanna ihren Rucksack in den Flur. Draußen brannte die Sonne schon fast senkrecht vom Himmel. Es war so heiß, wie es sich für Ende Juli gehörte. Sommerferien! Sorgfältig zog sie den Schlüssel aus dem Schloss. Das Mädchen lächelte und merkte es nicht. An diesem besonderen Tag vor zwei Jahren, als sie Jan kennenlernte, hatte sie genau das vergessen: den Haustürschlüssel abzuziehen. Deshalb erinnerte sie dieser Handgriff jedes Mal an ihr gemeinsames Abenteuer am Donnerfelsen. Sie schloss die Haustür und seufzte, weil Mama ihr nicht wirklich glaubte, dass sie vier Monate unter Piraten verbracht hatte. Wie sollte sie auch? Für Mama waren in dieser Zeit nur einhundertzwanzig Minuten vergangen, und sie war der festen Überzeugung, Johanna hätte alles nur geträumt. Schade. Dabei war es die Wahrheit.
„Mama?“, rief sie. „Ich bin da!“
„Ja, ich habe es gehört“, antwortete eine freundliche Stimme aus dem Arbeitszimmer. „Komme sofort, nur noch eine Naht schließen.“
Schon surrte die Nähmaschine weiter. Neugierig schielte das braunhaarige Mädchen um die Ecke.
„Was wird das denn, wenn’s fertig ist?“, fragte sie.
„Bleibst du wohl draußen! Privatgeheimnis!“, schimpfte ihre Mutter in gespieltem Ernst.
„Ich sehe doch nichts.“
Johanna hatte sich die Hände auf die Augen gelegt und lachte. Die kleine blonde Frau stand auf und streckte sich.
„Für heute reicht es. Finito! Ab mit dir in die Küche, und dann will ich dein Zeugnis sehen!“
Julia Müller schubste ihre Tochter sanft in den Flur und zog die Tür hinter sich zu. Leichtfüßig lief Johanna die Treppe hinauf.
„Was gibt es denn?“
Noch bevor ihre Mutter antworten konnte, hatte das Mädchen die Fritteuse und die leise vor sich hin blubbernde Currysoße entdeckt.
„Oh – Pommes mit Currywurst: lecker!“, freute sie sich und fiel ihrer Mutter um den Hals. „Beste Mama der Welt!“
Julia erwiderte die Umarmung und küsste Johanna auf das Haar.
„Liebe geht durch den Magen, hm? Warte, bis du den Berg Salat siehst, den es dazu gibt“, meinte sie und zwinkerte ihrer Tochter zu.
Während das Fett heiß wurde, las Frau Müller Johannas Jahreszeugnis. Sie hatte gerade erst angefangen, da blieben ihre Augen auch schon bei den Noten für Deutsch und Englisch hängen.
„Hey! Du hast in beiden Fächern doch die Drei bekommen!“
Auf einmal sprang sie auf und tanzte mit dem Zeugnis um den Tisch herum.
„Juchhuh! Johanna hat die Drei! Johanna hat die Drei! Zweimal die Drei!“
Dann hörte sie auf mit ihrer Tanzeinlage und wischte sich eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel. Sie zog ihre Tochter
an sich und zerquetschte sie fast zwischen ihren kräftigen Armen.
„Ich bin so stolz auf dich.“
Ihr wisst doch noch, warum sie sich so freute, oder? Zu meiner Schulzeit sagten die Lehrer manchmal: „Die Drei ist die Eins des kleinen Mannes.“ Ich weiß bis heute gar nicht so genau, was das bedeuten soll. Ist das eine Entschuldigung für jemanden, der nur keine Lust zum Lernen hat und deshalb mit der Drei zufrieden ist? Oder soll es die trösten, die sich furchtbar anstrengen müssen und trotzdem nicht über eine Drei hinauskommen, einfach weil ihnen das Fach sehr schwerfällt? Wenn Letzteres der Fall ist, dann trifft es genau auf Johanna zu. Sie war ganz und gar nicht faul und hatte auch Einser und Zweier auf dem Zeugnis. In Sport war sie immer noch die Beste. Aber sie hat eine Lese- und Rechtschreibschwäche, aber nein, was rede ich ... Hier ist das richtige Wort ein Fremdwort: Sie hat Legasthenie. Mit so einem Handicap ist es gar nicht selbstverständlich, dass man in zwei Sprachen ein Befriedigend bekommt. Johanna musste und muss sich immer noch sehr anstrengen, um mit den anderen mithalten zu können. Aber sie hat zum Glück Lehrer, die auf ihre Schwäche Rücksicht nehmen. Leider ist das auch in Deutschland längst nicht immer der Fall. Da darf also ruhig tüchtig gefeiert werden, und das taten die beiden Müller-Frauen mit einer Riesenportion Pommes und Currywurst und etwas Salat. Zur Krönung des Tages aßen sie noch ein selbst gequetschtes Spaghetti-Eis auf dem Balkon.
„Ach, war das gut!“
Johanna lehnte sich zurück und leckte genüsslich den letzten Tropfen Erdbeersoße vom Löffel. Ihr Blick fiel auf die alte Linde am Ende des Gartens, und sie überlegte. Sollte sie noch einmal
versuchen, Mama davon zu überzeugen, dass sie es dem Jungen vom Donnerfelsen verdankte, dass sie so viel besser im Lesen geworden war? Wie schön wäre es, wenn sie ihrer Mutter diese andere Welt zeigen und Mama Jan kennenlernen könnte. Aber das war unmöglich! Außerdem würde sie es wahrscheinlich selbst dann nicht glauben. In diesem Punkt war sie so stur wie ein Esel.
„Oh, nein, nicht schon wieder. Ich sehe es dir an der Nasenspitze an, woran du gerade denkst“, sagte Julia und kratzte das schon leere Eisschälchen noch einmal aus.
Sie klang enttäuscht. Oder war sie nur besorgt? Johanna fasste sich an die Nase und schüttelte den Kopf, als könnte sie die Erinnerung herausschütteln. Es war sinnlos, sie brauchte es gar nicht zu versuchen.
„Johanna, hör bitte auf damit!“
Das klang eindeutig besorgt. Ihre Mutter schob das Schälchen von sich. Johanna nickte ihr beruhigend zu und versuchte zu grinsen.
„Lass uns lieber überlegen, was wir in den Sommerferien machen wollen“, schlug Julia vor.
Das war ein ziemlich plumper Versuch, das Thema zu wechseln. Sie hatten schon oft genug darüber gesprochen, was in den Ferien zu erledigen war, aber ihrer Mutter zuliebe ging Johanna darauf ein.
„Ich freue mich auf mein neues Zimmer. Oder willst du plötzlich nicht mehr renovieren?“
„Was? Natürlich. Versprochen ist versprochen. Ich bin ganz wild darauf, dir zu zeigen, wie gut ich streichen und tapezieren kann. Außerdem macht es mir Spaß.“ Julia streckte sich. „Und wenn alles fertig ist, belohnen wir uns mit einer Fahrt zu Oma und Opa nach Thüringen.“
Bei dem Wort „belohnen“ stand Julia auf, um sich einen Kaffee zu kochen. Den musste sie unbedingt direkt nach dem Mittagessen haben. Johanna beobachtete, wie sie durch die offene Balkontür ins Haus verschwand. Dann wagte sie einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Linde und seufzte vor sich hin. Plötzlich guckte ein blonder Kopf zwischen den Blättern hervor! Nur ganz kurz war er zu sehen. Vor Schreck blickte Johanna durch die Glasscheibe zu ihrer Mutter, aber die hatte ihr den Rücken zugewandt und hantierte an der Kaffeemaschine herum. Johanna blinzelte und sah noch einmal auf den mächtigen Baum. Nichts! Sie hatte sich bestimmt getäuscht. Oder? Doch, da! Wieder blitzten blonde, kurze Haare zwischen den Blättern hindurch, genau da, wo der Ast, auf dem sie selbst so gerne saß, vom Stamm abzweigte. Wer in aller Welt war das, und warum saß er da?
„Hilfst du mir, die Küche sauber zu machen?“
Die Bitte ihrer Mutter riss Johanna aus ihren Gedanken. Ihr Kopf fuhr herum. Sie sah Julia an, die abwartend in der Tür stand.
„Ich hätte gerne alles fertig, bevor ich nachher in die Klinik fahre. Frau Gölles ist da, wenn irgendetwas ist.“
„Ja, geht klar“, sagte ihre Tochter und nickte. Sie stand auf und zwang sich, nicht noch einmal zu dem Baum zu gucken. Mama würde sich nur wieder aufregen, wenn sie dauernd da hinsah. Also räumte Johanna ihren Teller in die Spülmaschine und wischte sorgfältig den Tisch ab. Sie würde gleich nachsehen, und wenn dieser Eindringling dann immer noch da war, konnte er was erleben.
„Ach, Mama! Jetzt hätte ich es beinahe vergessen: Laura wollte heute kommen, ist das in Ordnung?“
„Kein Problem.“
Frau Müller nahm vorsichtig einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse neben der Spüle ab. Sie füllte den Rest der Currysoße in eine Plastikdose und nahm einen zweiten Schluck von ihrem flüssigen Nachtisch. Dann spülte sie die sperrigen Teile, die zu groß für die Spülmaschine waren. Johanna griff nach einem Geschirrtuch und trocknete ab. Aber sie war heute gar nicht bei der Sache. Sie wollte unbedingt wissen, wer da auf ihrem Lieblingsplatz saß! Hoffentlich war die Hausarbeit bald erledigt. Nachdenklich polierte sie den Soßentopf, obwohl er längst glänzte. Wer war da nur im Garten!?
„So, es reicht“, meinte Johannas Mutter lachend. „Sonst reibst du noch ein Loch in den Topf!“
Sie nahm Johanna das Trockentuch aus der Hand und wischte die Spüle damit trocken.
„Nun lauf schon endlich. Ich sehe doch, dass du in den Garten willst.“
„Danke, Mama!“
Erleichtert stellte das Mädchen den Kochtopf in den Schrank und lief die Treppe hinunter. Über die Terrasse verließ sie das Haus und trat auf den Rasen. Langsam und leise näherte sie sich der Linde, um den Eindringling nicht durch Geräusche zu warnen. Eine Frechheit, einfach so ein fremdes Grundstück zu betreten und sich häuslich niederzulassen. Und dann auch noch auf meinem Baum. Auf meinem Lieblingsplatz! Sie musste einfach nachsehen, wer das wagte! Vielleicht der freche Kevin aus ihrer Klasse? Der war zwar blond, aber eigentlich viel zu dick, um so hoch zu klettern. Im Sportunterricht kam er nicht mal auf einen kleinen Kasten. Na, warte! Gleich habe ich dich!, dachte Johanna. Ein letzter Schritt, und schon stand sie unter dem Blätterdach und konnte auf die Gestalt im Baum sehen. Nein! Johanna blieb
regungslos stehen, als hätte sie der Anblick des ungebetenen Gastes gelähmt. Das konnte doch nicht wahr sein! Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit. Der blonde, große Junge, der da auf dem Ast saß, war so in das dicke Buch auf seinem Schoß vertieft, dass er das Mädchen gar nicht kommen gehört hatte. Erst als Johanna schon so nah war, dass sie an den Baumstamm greifen und ihm von unten ins Gesicht sehen konnte, blickte er von den Seiten auf und starrte sie entgeistert an.
„Jo... Johanna!“, stotterte er. „Wie kommst du denn hierher?“
Das Mädchen starrte stumm zurück.
„Dasselbe wollte ich dich gerade fragen“, sagte sie, als sie die Sprache wiedergefunden hatte. „Denn ich wohne hier.“