Geteilte Beobachtungen
Wie wirkt sich die Coronavirus-Pandemie auf konkrete Lebensverhältnisse weltweit aus? Wie wirkt das Globale im Lokalen? Unter dem Titel Geteilte Beobachtungen versammelt die Akademie der Künste der Welt (ADKDW) in Kooperation mit dem Kölner Stadt-Anzeiger Texte von Mitgliedern der ADKDW zur weltweiten Situation seit Frühjahr 2020. Die ADKDW ist eine in Köln ansässige gemeinnützige Kultureinrichtung, die sich jenseits der eurozentristischen Doktrinen der Kulturgeschichte bewegt. Sie initiiert, produziert und organisiert Veranstaltungen in unterschiedlichen künstlerischen und diskursiven Sparten. Die Mitglieder – nationale und internationale Künstler*innen, Kurator*innen, Autor*innen und Wissenschaftler*innen – fungieren als Think-Tank und geben den Orientierungsrahmen für das künstlerische Programm der ADKDW.
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Chinas soziale Unterstützungsnetzwerke in Zeiten von Corona Jenseits der zentralisierten Corona-Maßnahmen leisten dezentrale Netzwerke Nothilfe für Tausende Text: MI YOU Übersetzung: KATHARINA FREISINGER
Ich schrieb diesen Artikel Anfang März, nachdem ich den gesamten Februar damit verbracht hatte, voller Sorge die niederschmetternden Nachrichten zu verfolgen und mich einigen, wenn auch begrenzten, Hilfsaktionen aus Europa anzuschließen. Doch eins machte mir in dieser düsteren Zeit Mut: Meine Freund*innen in China stellten zahllose Unterstützungsnetzwerke auf die Beine und setzten alles daran, Spenden für medizinische Versorgung zu sammeln, neue Kommunikationswege zu schaffen, psychologische Unterstützung zu organisieren und vieles mehr. Ihnen allen war es ein lebhaftes Bedürfnis, sich auf die Ausnahmesituation einzustellen und auf jede nur erdenkliche Art nützlich zu machen. Als mein Text kurz vor der Veröffentlichung stand, hatte die Pandemie gerade Europa erreicht. Der Herausgeber und ich hofften, dass die Ideen, die ich in meinem Artikel gesammelt und skizziert hatte, auch Menschen in anderen Kontexten eine Hilfe sein würden. Und tatsächlich: Ich war begeistert, welch großen Anklang die Initiativen bei meinen Freund*innen fanden. Von Berlin bis nach Kuala Lumpur organisierten sie Hilfsprojekte und Unterstützungsaktionen. Obwohl die einzelnen Staaten sehr unterschiedlich auf die Pandemie reagierten, ähnelten sich die Dynamiken innerhalb der Communitys: Bürger*innen solidarisierten sich und verschiedenste gesellschaftliche Akteur*innen schlossen sich auf Eigeninitiative zu sozialen Organisationen zusammen. Die Krise scheint den Gemeinschaftssinn in uns neu geweckt zu haben. Hoffen wir, dass er uns auch in besseren Zeiten erhalten bleibt.
Im Januar 2020 entwickelte sich die neuartige Coronavirus-Erkrankung (COVID-19) in China zur Pandemie und stellte das chinesische Gesundheitssystem massiv auf die Probe. Die eisernen Gegenmaßnahmen – eine Massenquarantäne der gesamten Provinz Hubei und Ausgangssperren für Millionen von Chines*innen – brachten den Alltag urplötzlich zum Stillstand. In dieser Ausnahmesituation entstanden neue Formen der sozialen Zusammenarbeit: von Regierungsbehörden und Medienunternehmen über Nichtregierungsorganisationen und ErsteHilfe-Gruppen bis zu Alumni-Netzwerken und selbst organisierten Freiwilligen-Gruppen. Ehrenamtliche Arbeit hat in China eine lange Tradition. Dieses Mal allerdings wurde sie in nie dagewesener Art und Weise von neuartigen Formen der organisatorischen Zusammenarbeit getragen und vorangetrieben. Die gesamte Gesellschaft mobilisierte sich, und allerorten schlossen sich Bürger*innen zu sozialen Unterstützungsnetzwerken zusammen. Einige helfen denjenigen, die im Kampf gegen die Pandemie an vorderster Front stehen, andere kümmern sich um Bevölkerungsgruppen, deren Bedürfnisse im Eifer des Gefechts unter den Tisch fallen, etwa schwangere Frauen, Arbeitsmigrant*innen oder Menschen mit chronischen Krankheiten, und wieder andere
MI YOU ist Kuratorin und Dozentin an der Kunsthochschule für Medien Köln und an der Aalto-Universität in Helsinki. Sie arbeitet mit altertümlichen und futuristischen Technologien und Netzwerken. Inspiriert von Science-Fiction versucht sie, ‚handlungsfähige Spekulationen‘ in Projekte zwischen Kunst, Technologie und sozialer Innovation einzuführen. Mi You ist Kuratorin der 13. Shanghai Biennale (2020/2021).
setzen sich dafür ein, das normale Leben in weniger betroffenen Regionen Chinas am Laufen zu halten. Im Folgenden werden einige dieser sozialen Netzwerke vorgestellt. Sie alle sind sowohl horizontal als auch vertikal organisiert und verfolgen ein humanitäres Ziel.
Peer-to-Peer-Netzwerke und Hackathons Die Internet- und Hacker-Communitys gehörten zu den ersten, die mit kreativen NetzwerkLösungen auf die Krise reagierten. Wuhan2020 ist die größte Open-Source-Initiative, die auf einer Plattform in Echtzeit Daten für Krankenhäuser und Fabriken bereitstellt und damit eine reibungslose Organisation von Materialbeschaffung und Spenden ermöglicht. Wuhan2020 verbindet Bedürftige mit denjenigen, die in der Lage sind, zu helfen. Außerdem organisierte die Gruppe den Hackathon Hack for Wuhan, bei dem Entwickler*innen, Designer*innen und Erfinder*innen aus der ganzen Welt gemeinsam an technischen Lösungen für die aktuelle Ausnahmesituation tüfteln. Zu den Früchten ihrer Zusammenarbeit zählen unter anderem eine Plattform, die sich der psychischen Gesundheit während des Lockdowns widmet, integrierte Informationssysteme zum Echtzeit-Tracking der Ausbreitung des Virus sowie ein virtueller Kiosk, in dem – teils herzerwärmende – Geschichten über gegenseitige Hilfe in Zeiten von Corona ausgetauscht werden. Doch Peer-to-Peer-Netzwerke brauchen nicht zwangsläufig eine ausgeklügelte technische Informationsstruktur. Unmittelbar nachdem der öffentliche Nahverkehr in Wuhan lahmgelegt worden war, stellten zahllose Stadtbewohner*innen einen freiwilligen Chauffeur*innendienst auf die Beine. Restaurants boten Arbeitsessen an, und Hotelbesitzer*innen schlossen sich zu einem Netzwerk zusammen, um in der Nähe arbeitenden Mediziner*innen Ruheräume zur