Via Storia 01/2021

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LANDSCHAFT UND VERKEHRSWEGE Hans-Ulrich Schiedt

Landschaft und Verkehrswege stehen in wechselseitigen Bezügen zueinander. Die Wege und Strassen führen in und durch die Landschaft und sie sind gleichzeitig ein Teil von dieser. Landschaft ist wahrgenommene Umwelt und subjektiver Eindruck. Starke diesbezügliche Effekte hatte der Chaussee- und Kunststrassenbau der zweiten Hälfte des 18. und des 19. Jahrhunderts.1

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er Begriff der Landschaft bezieht sich auf unterschiedliche Phänomene:1 auf die Region, den topographischen Raum, die politisch-territoriale Einheit, die wahrgenommene Umwelt. Letzteres schliesst die Betrachterin, den Betrachter mit ein. Im alltäglichen Sprachgebrauch hat sich die Landschaft auch als Gegenwelt zur Stadt etabliert.2 Landschaft resultiert nicht zuletzt aus der bestimmten, unterschiedlichen, kulturell präformierten Wahrnehmung. In der Landschaft vermittelt das Netz der Verkehrswege die tatsächlichen und die empfundenen Raum­be­ züge. Auf ihnen wird die Landschaft erfahren und manchmal auch erwandert. Sie bieten Aussicht auf die Landschaft und sind gleichzeitig integraler Bestandteil von dieser. In der spannenden Mehrdeutigkeit kommt die Wahrnehmung der Landschaft einerseits eher als abstraktes Erfassen und anderseits als hauptsächlich auf das Sehen bezogene Praxis zur Sprache: Der panoramatische Blick der Eisenbahnreise (Schievelbusch) oder der nach vorne fokussierte Frontscheibenblick des Automobilausflugs (Zeller). Diese verkehrs- und verkehrsmittelbezogene Präformationen der Landschaftswahrnehmung, die als Phänomene der Moderne interpretiert werden, möchten wir in doppelter Hinsicht erweitern. Wir schlagen vor – wie könnten wir anders mit unserer IVS-Vergangenheit –, auch die Sinneseindrücke der zeitlich weiter zurückreichenden Fuss- oder Kutschenreise auf den Wegen und

Chausseen des 18. und des 19. Jahrhunderts und dabei nicht nur die Augen, sondern alle Sinne einzubeziehen, also die Landschaft nicht nur als gesehenen oder gedachten Raum, sondern in besonderer Weise auch als Klang- oder Geruchslandschaft vorzustellen (Baratay). Mozart verbrachte beinahe einen Drittel seines Lebens auf ­Reisen, in Kutschen auf den Landstrassen und Chausseen. Da werden nicht nur die Augen, sondern auch Sinneseindrücke der Nase und Ohren oder die Erschütterungen der Kutsche zur Entstehung der einen oder anderen Melodien oder Rhythmen beigetragen haben. Landschaft und Verkehrslandschaft in Texten im Laufe der Zeit Wer über Landschaft oder gar über Verkehrslandschaft spricht oder schreibt, tut gut daran, sich zu vergegenwärtigen, dass die Begriffe selbst ihre Geschichte und ihre Konjunkturen haben. Die Geschichte des Landschaftsbegriffs ist auch eine Geschichte der Reise zu und in diesen Landschaften. Davon zeugen die vielen gezeichneten und gemalten Landschaftsminiaturen der Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts und davon zeugen auch die unzähligen fotografierten landschaftlichen Reiseeindrücke im Internet.

Die Häufigkeit der ­Ver­wendung des Begriffs Landschaft in den in Google Books ­erfassten deutschsprachigen ­Text­beständen. (Google Ngram)3

4 Wege und Geschichte | Les chemins et l’histoire | Strade e storia

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