Natürlich Oktober 2021

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g e s u n d s e i n | themenstichwort

«Ich will bei meinem Sterben dabei sein» Thomas Gröbly leidet unter der als unheilbar geltenden Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). In seinem berührenden, sehr persönlichen Essay macht er sich Gedanken über die existenziellen Fragen zu Leben und Tod, über das Sterben und die Suizidbeihilfe. Text: Thomas Gröbly

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ch habe keine Angst vor dem Sterben, ich möchte nur nicht dabei sein, wenn’s passiert», soll der Regisseur Woody Allen gesagt haben. In dieser witzigen Aussage kommt ein verbreitetes Unbehagen zum Ausdruck. Um Leiden zu vermeiden, wählen immer mehr Menschen die Abkürzung durch Suizidbeihilfe. Als Mensch mit der schweren Krankheit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) habe ich Verständnis – und gleichzeitig ein paar kritische Einwände. Sterben mit ALS kann schrecklich sein. Ich kann mich verschlucken und ersticken oder stürzen und den Kopf verletzen. Aber schon vorher werde ich mit gelähmten Beinen, Armen und Händen auf eine Rundumbetreuung angewiesen sein – Zähne- und Hinternputzen werden zum Trauerspiel. Wenn das Schlucken kaum mehr möglich ist, werde ich mittels Magensonde ernährt, und ein Atemgerät gibt mir Sauerstoff. Heute kann ich mir das kaum vorstellen; noch bin ich weitgehend selbständig. Vollständig von anderen abhängig zu sein, ist wahrlich schwer vorstellbar.

Der Tod als bürokratischer Verwaltungsakt Ein «ALS-Bekannter» von mir starb in Begleitung der Schweizer Suizidbeihilfe-Organisation «Exit». Auch in mir drängt sich die Frage auf, wie mein Ende aussehen wird. Einen Suizid mit oder ohne Suizidbeihilfe-Organisation schliesse ich nicht aus. Trotzdem stimmt mich das Sterben mit assistiertem Suizid skeptisch. Ich habe in meiner Arbeit als Trauerredner schon einige Male Angehörige von Menschen erlebt, die sich

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so das Leben genommen hatten. Fast durchgängig lautete die Kritik, die planmässige Durchführung des Sterbens habe kaum Platz für den Abschied gelassen. Die genau bestimmte Uhrzeit am Tag X zerstöre das Geheimnis des Sterbens und degradiere es zu einem bürokratischen Verwaltungsakt. Ich verurteile niemanden, der dieses Sterben wählt. Ich masse mir nicht an, den Leidensdruck beurteilen zu können, der jemanden diesen Weg gehen lässt. Aber assistierter Suizid ist für mich ein Ausdruck von Todesverdrängung, von Sterbe- und Todesangst. Der Tod – und noch mehr das Leiden im Sterben – darf nicht sein. Das Sterben soll möglichst schnell, sauber und diskret veranstaltet werden. Mit Suizidbeihilfe wird das Unverfügbare des Sterbens verfügbar gemacht. Der Tod wird zu einem minutiös geplanten Projekt mit einer klar definierten Agenda. Wer diesen Weg wählt, will die Kontrolle behalten und nichts dem Zufall überlassen.

Ein letzter Akt der Selbstoptimierung Ich sehe darin die konsequente Weiterführung der Selbstoptimierungskultur. Lebenslang muss ich lernen und mich verbessern. Täglich 10 000 Schritte gehen und das Gesicht faltenfrei halten, damit ich in Beruf und Liebe Erfolg habe. Wenn mein Körper trotz allen Bemühungen Defizite zeigt und nicht mehr einwandfrei funktioniert, muss ich schnell und möglichst anonym verschwinden. Dahinter steckt eine lange Geschichte der Tabuisierung des Todes, das sich im neoliberalen Menschenbild zugespitzt hat. Demnach ist jede und jeder für seinen Marktwert und sein Sterben selbst verant-


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