BödeliInfo Dezember 2019

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KOLUMNE

Erinnerungen konservieren Unser Gedächtnis lässt sich überlisten.

2019 ist fast Geschichte. Wie konnte das passieren? Es ist wissenschaftlich belegt, dass für Erwachsene die Zeit gefühlt schneller vorübergeht. Wir setzen die Zeit, die wir erleben, ins Verhältnis zu der Zeit, die wir schon erlebt haben. Der Mathematiker erkennt: Für einen Erstklässler ist 1/7 seines Lebens vorbei, während der Pensionierte auf 1/65 zurückblickt. Die Stücke des Kuchens werden kleiner, je länger wir davon naschen. Hinzu kommt: Je älter wir sind, umso langweiliger ist unser Alltag. Dem mögen Sie jetzt widersprechen – ich auch – aber vieles, das uns nach unserem 30. Lebensjahr widerfährt, geschieht nicht zum ersten Mal. Wir verfügen über einen Erfahrungsschatz, der uns hilft, mit vermeintlich neuen Situationen umzugehen. Als wäre das nicht genug, spielt uns unser Gedächtnis im Erleben der Zeit einen Streich: Langweilige Phasen sind in unserer Erinnerung als Momentaufnahme gespeichert und dem-

Irene Thali Interlaken

entsprechend kurz. Passiert viel, etwa die schönen Ferien, die im Nu vorbei sind, nehmen diese Erlebnisse viel mehr Raum ein. Das gilt für alle Altersstufen gleichermassen. Haben wir unsere Jugend und die ersten Schritte im Erwachsenenalter hinter uns, schaltet das Rad der Zeit im Kopf ein paar Gänge hoch. Die Jahre scheinen nur so vorbeizufliegen, auch wenn wir sie mit vielen

neuen Erlebnissen anreichern. Die Speicherkapazität in unserem Gedächtnis ist begrenzt – jedenfalls bei mir. Versuche ich mich daran zu erinnern, was in den letzten zwölf Monaten alles geschehen ist, stosse ich schnell an eine Grenze. Bei negativen Erlebnissen stört mich das kaum, oft sind es aber genau diese, die sich festbrennen. Auch zu diesem Phänomen gibt es viele Studien und Erklärungsversuche: Je emotionaler eine Situation empfunden wird, etwa ein Streit, umso länger und nachhaltiger bleibt sie in der Erinnerung gespeichert. Diese Erinnerung an Negatives hat auch evolutionsbiologische Vorteile. Nach der ersten Begegnung mit dem Säbelzahntiger wussten unsere Vorfahren, dass sie diesem besser fernblieben. Was ist aber mit all den schönen, kleinen Momenten? Ein feines Abendessen mit Freunden, ein beiläufiges Kompliment oder das kurze

«Haben wir unsere Jugend und die ersten Schritte im Erwachsenenalter hinter uns, schaltet das Rad der Zeit im Kopf ein paar Gänge hoch.»

Bödeli / BrienzInfo 106


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