Wirtschaft April 2022

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WIRTSCHAFT

Umworbene Lehrstellensuchende Weil es weniger Jugendliche gibt und diese häufiger ins Gymnasium gehen, können rund 10 000 Lehrstellen nicht besetzt werden. Besonders unbeliebt sind Aus­bildungen für Berufe mit langen Arbeitszeiten oder körperlich harter Arbeit. Jugendliche begeistern sich deshalb kaum für Berufe auf dem Bau oder in der Nahrungsproduktion. Der KGV bietet Hand und lancierte die Lehrstellenbörse, damit die Jugendlichen eine Anschlusslösung finden.

Die Schweiz ist in vieler Hinsicht ein Glückskind. Ganz beson­ ders glücklich kann sich das Land schätzen, wenn es um die Ju­ gendarbeitslosigkeit geht. Die Jugendlichen sind in einer kom­ fortablen Situation. Gemäss dem Lehrstellenbarometer des Bundes kommen auf 78 000 interessierte Jugendliche 81 500 Lehrstellen. Für die Lehrbetriebe ist diese Situation natürlich weniger erfreulich. Fest steht: Viele Betriebe müssen ohne Lehrling auskommen. Statt vom Lehrstellenmangel ist heute vom Lehrlingsmangel die Rede. Rund 10 000 Ausbildungsplät­ ze blieben letztes Jahr unbesetzt. Das hat zwei Hauptgründe: die Demografie und der Trend hin zum Gymnasium. Sprich: Von den immer weniger werdenden Jugendlichen machen im­ mer weniger eine Lehre. Rund 75 000 Lehrverträge werden in der Schweiz jedes Jahr abgeschlossen. Diejenigen für die beliebten Lehrstellen sind bereits Ende des Vorjahres unter­ schrieben. Die zukünftigen Lernenden und die Lehrbetriebe machen sich gleichsam ein kleines Weihnachtsgeschenk und starten mit einer Sorge weniger ins neue Jahr. Bis im März/ April des Folgejahres sind dann rund 60 Prozent aller Lehr­ verträge unter Dach und Fach. Wegen dieser Entwicklung ver­ schärft sich der Kampf um die besten Lehrlinge unter den Un­ ternehmen. Das einst propagierte «Gentlemen's Agreement», keine Lehrstellen vor dem 1. November des Vorjahres zu ver­ geben, ist heute kein Thema mehr. Die Jagd nach den Jugendli­ chen beginnt also schon 12 Monate vor Lehrbeginn. April 2022

Die Baubranche ist am stärksten betroffen Unbeliebt sind vor allem Berufe, bei denen harte körperli­ che Arbeit zur Norm gehört, die einen tiefen sozialen Status haben oder die Arbeitszeiten mit sich bringen, die sich schwer mit einem aktiven Sozialleben vereinbaren lassen. Dazu zäh­ len zum Beispiel Berufe der Baubranche und der Coiffeur­­beruf. Im Mittelfeld sind die Verkaufsberufe angesiedelt, die eine durchschnittliche Anzahl offener Lehrstellen aufwei­ sen. Dort liegt das Hauptproblem im geringen Unterschied zwischen den Löhnen von Gelernten und Ungelernten – teils macht er nur 200 bis 300 Franken im Monat aus. Da fragen sich manche Jugendliche, warum sie eine Ausbildung zum Lehrlingslohn machen sollen. In der Informatik, bei den Finanz­ dienstleistern, in der öffentlichen Verwaltung und im Gesund­ heitswesen wiederum gibt es einen Lehrstellenmangel. Unter­ schiede bestehen nicht nur zwischen den Branchen, sondern auch innerhalb. Bei den Pflegeberufen etwa ist die Ausbildung zur Fachangestellten Gesundheit (FaGe) beliebt, diejenige zur Fachangestellten Betreuung eher nicht. Gründe für Letzteres sind die vergleichsweise tiefen Löhne und die geringen Auf­ stiegsmöglichkeiten. Corona hat die Lehrstellensituation ziem­ lich durcheinandergewirbelt. Bei vielen Lehrbetrieben herrscht Unsicherheit darüber, welche Lehrstellen sie in naher Zukunft anbieten werden. So wussten gemäss «Nahtstellenbarometer» des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation mehr als ein Viertel der Lehrbetriebe im Juli 2021 noch nicht, ob sie 2022 die Anzahl ihrer Lehrstellen beibehalten würden. Bereits gestrichen wurden Lehrstellen in der Tourismusbran­ che und im Gastgewerbe, wo sich gleichzeitig weniger Jugend­ liche bewerben, zumal Schnupperlehren schwieriger waren. Höhere Lehrlingslöhne nützen wenig Wie können sich die Unternehmen hier von der Konkurrenz abheben? Höhere Löhne seien kein Thema, sagen alle ange­ fragten Unternehmen. Man halte sich an die Richtlöhne der jeweiligen Branche. Die meisten der Unternehmen nennen ih­ ren guten Ruf als wichtiges «Verkaufsargument». Sowohl die Branchenverbände wie auch die einzelnen Lehrbetriebe ver­ mögen nur wenig gegen den Lehrlingsmangel auszurichten. Die Löhne für die Lernenden anzuheben, ist als zweischneidiges zu


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