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HEUR EKA 1/22 : T I T ELT HE MA

Wir werden anders essen müssen Wie in mittlerer Zukunft mehr Menschen ernährt werden können icht nur ethisch und humanitär ist Russlands Angriffskrieg in der Ukraine eine Katastrophe. Er trifft auch die Welt an vitalen Punkten. Zu deren gravierendsten gehört die Lebensmittelversorgung. Russland und die Ukraine liefern gemeinsam fast ein Drittel des weltweit gehandelten Weizens. 2020 war Russland mit 37,3 Millionen Tonnen der weltgrößte Weizenexporteur, die Ukraine mit 18,1 der fünftgrößte. Länder, die Probleme haben, ihre Bevölkerung ausreichend zu ernähren, wie Indonesien, Ägypten, die Philippinen oder Brasilien, sind auf diese Exporte angewiesen. Besonders dramatisch wirken die Folgen des Kriegs auf die globale Landwirtschaft: Russland ist der weltgrößte Exporteur von Stickstoffdünger und der zweitgrößte Produzent von Kalium- und Phosphordünger. Nun sind die Exporte gedrosselt worden und die Preise für Dünger gestiegen. Diese Entwicklung hat bereits vor dem Krieg durch stark gestiegene Preise für Erdgas begonnen. Es kommt bei der Produktion von Düngern in großen Mengen zum Einsatz. Russland war wegen seiner großen Erdgasvorkommen in der Lage, billigen Dünger zu liefern. Durch die Sanktionen fehlt dieser nun am Weltmarkt. Das trifft neuerlich Brasilien. Es importiert 84 Prozent seiner Düngemittel, was wiederum Folgen für die ganze Welt hat. Brasilien ist einer der wichtigsten landwirtschaftlichen Produzenten, bei Soja, das vor allem in der Massentierhaltung als Futter verwendet wird, der weltgrößte. Muss das Land seine Produktion infolge Düngermangels zurückfahren, sind kleinere Ernten und steigende Lebensmittelpreise die Folge. Die Lebensmittelproduktion ist ein komplexes Bedingungsgefüge mit nervösem Sensorium für Verwerfungen aller Art. Über zwei Milliarden Menschen sind mangelhaft ernährt „Die Weltbevölkerung wächst, vor allem aber wächst der Wohlstand in asiatischen und afrikanischen Ländern, die in der Folge in ihren Ernährungsgewohnheiten häufig ,verwestlichen‘“, sagt Martin Wagner, wissenschaftlicher Leiter des Österreichischen Kompetenzzentrums für Futter- und Lebensmittelsicherheit und Leiter der Abteilung für Lebensmittelmikrobiologie an der VetmedUni Wien. „Durch den hohen Verbrauch an tierischen Proteinen in entwickelten Ländern geraten die Produktionssysteme kontinuierlich unter Druck. Aufkommende Tier- und Nutzpflanzenseuchen, aber auch die zunehmende Anzahl von Konflikten und Kriegen wirken auf das System schlagartig disruptiv.“ Derzeit leben auf der Erde annähernd acht Milliarden Menschen. Von ihnen ist mehr als ein Zehntel chronisch mit Nahrung unterversorgt: Auf ungefähr 811 Millionen wird die Zahl der Menschen, die dauerhaft Hunger leiden, geschätzt (siehe

TEXT: BRUNO JASCHKE

„Preiswerte Lebensmittel nehmen wir als unabänderliche Konstante wahr. Unser Konsumverhalten verursacht all die Probleme mit“ MARTIN WAGNER, VETMEDUNI WIEN

Katrin Fischer, esserwissen.at

Seite 10). Über zwei Milliarden Menschen leiden an Mangelernährung. Fast ebenso viele, 1,9 Milliarden, laborieren demgegenüber an Übergewicht und krankhafter Fettleibigkeit. Nahrung, um die ganze Welt satt zu machen, ist genug da. Auch noch 2050, wenn die Weltbevölkerung Prognosen zufolge auf neun Milliarden Menschen angewachsen sein wird. Voraussetzung dafür ist freilich, dass Essen gerechter verteilt und der bedenkenlosen Ausbeutung von Nahrungsressourcen Einhalt geboten wird. Menschen werden ihre Ernährung umzustellen haben. Die Landwirtschaft muss auf schonendere Produktionsmethoden umsteigen: Diese zwei Voraussetzungen sind für den Mainstream an Nahrungsexpert*innen essenziell, um die wachsende Weltbevölkerung flächendeckend mit Essen zu versorgen. Außerdem wird als unabdingbar erachtet, den Fleischverzehr zu reduzieren (siehe Seite 12). Abgesehen von ethischen Aspekten der Massentierhaltung verschleißt die Fleischproduktion viele pflanzliche Nahrungsmittel für Tierfutter. Nur gut die Hälfte aller weltweit produzierten pflanzlichen Kalorien wird vom Menschen (direkt) verbraucht, mehr als ein Drittel dient als Tierfutter. Rund ein Zehntel wird zu Kraftstoff und Industrieprodukten verarbeitet. Über drei Viertel der globalen landwirtschaftlichen Nutzfläche dienen der Tierhaltung. Rein vegane Ernährung ist auch keine Lösung Eine Fleischproduktion, für die kein Tier in engen Boxen gehalten und getötet wurde, ist möglich (siehe Seite 9). Für künstlich erzeugtes Fleisch, 2013 vom Maastrichter Physiologieprofessor Mark Post in Form eines „Labor-Burgers“ erstmals öffentlich präsentiert, werden einem Tier Stammzellen entnommen, die sich in Zellkultur vermehren. Auch das geschmacksbildende Fettgewebe lässt sich in Labors züchten. „Anzumerken ist hierbei, dass es für Kunstfleisch auch hochwertiges ,Futter‘ wie etwa Glucose oder Aminosäuren braucht“, sagt Katrin Fischer, Ernährungswissenschaftlerin der Wissensplattform esserwissen.at. Noch sind für In-vitro-Fleisch die Produktionskosten zu hoch, um es zur Marktreife zu bringen. Längst im Geschäft sind dagegen Fleischimitate und vegane Nahrungsmittel ohne tierische Bestandteile. Eine rein vegane Lebensmittelproduktion wäre allerdings auch keine Lösung: Ein Kilo veganes Lebensmittel erzeugt mindestens vier Kilo Biomasse, die der Mensch nicht essen kann. „Durch den Verzicht auf die Verfütterung der Biomasse entsteht ein Verlust an Nahrung, der größer ist als die vegane Produktion selbst“, erklärt Fischer und gibt zu bedenken: „Nutztiere fördern die Pflanzenproduktion und erzeugen

zusätzlich Lebensmittel. Denn Wiederkäuer können Milch und Fleisch ohne Nahrungskonkurrenz zum Menschen erzeugen.“ Die Landwirtschaft verursacht mehr Treibhausgase als der motorisierte Verkehr. Ihrem schier endlosen Bedarf an Weide- und Ackerland fallen Wälder, Grünflächen und Lebensräume zum Opfer. Sie ist der größte Verbraucher von Süßwasser, ihre Abflüsse von Kunstdünger und Gülle verpesten Gewässer und Ökosysteme (siehe Seite 7). Die Landwirtschaft bedarf zu ihrem Funktionieren eines hohen Verschleißes an Arbeitskraft, Technologie, Rohstoffen und Naturraum. „Vor allem die Urproduktion von Milch und Fleisch, aber auch die Rohstoffverarbeitung und die Produktion der boomenden Ersatzprodukte sind arbeits- wie auch ressourcenintensiv“, sagt Martin Wagner. „Sowohl die bäuerliche Seite wie auch die Rohstoffverarbeiter ringen um Ressourcen, Boden, Wasser und Produktionshilfsmittel. Die immer stärkeren Konsequenzen des Klimawandels stressen zusätzlich das Produktionssystem, führen zu Ernteeinbußen, stressen Nutztiere und bringen neue Pflanzen- und Tierkrankheiten. Lösungsvorschläge sind häufig interessensgetrieben und bilden die Komplexität des Lebensmittelherstellungssystems nicht ab.“ Fünf Punkte zur Besserung, aber nichts geschieht 2014 hat der renommierte Umweltwissenschaftler Jonathan Foley, Direktor des Instituts für Umwelt und Professor für Fragen globaler Nachhaltigkeit an der Universität St. Paul, Minnesota, im Magazin National Geographic fünf Punkte formuliert, wie mehr Nahrung geschaffen werden und gleichzeitig Schaden durch die Landwirtschaft vermindert werden kann. Eine Umstellung der Ernährung ist darin ebenso vorgesehen wie ein sofortiger Stopp des zusätzlichen Flächenverbrauchs durch die Landwirtschaft. Erträge bestehender Betriebe sollen durch verbesserte Anbaupraktiken und ökologische Verfahren gesteigert, Wasser und Dünger effizienter genutzt werden. Der Verschwendung von Lebensmitten ist Einhalt zu gebieten. Keine dieser Agenden ist bisher auch nur ansatzweise realisiert worden: Nach wie vor werden Regenwälder abgeholzt, um Flächen für den Anbau von Tiernahrung, Palmölplantagen oder Biosprit zu gewinnen. Um die Landwirtschaft effizienter zu gestalten, fehlen gerade bedürftigen Regionen Know-how und Mittel. Von einer Umstellung der Ernährungsgewohnheiten ist global nichts zu bemerken: Während der Fleischkonsum, der sich weltweit in den letzten zwanzig Jahren mehr als verdoppelt hat, in Westeuropa eine minimal rückläufige Tendenz zeigt, steigt er in vielen Fortsetzung Seite 20

FOTOS: VETMEDUNI/MICHAEL BERNKOPF, FEMTECH

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